Deutsch DE English EN

Vul|ne|ra|ble (2024)

Chto Delat
Exhibition view
Exhibition view
Exhibition view
Exhibition view
Exhibition view
Anna Ehrenstein
Peter Friedl
Barbara Hammer, Candice Breitz
Helena Uambembe
Clegg & Guttmann
previous arrow
next arrow
 

KOW Berlin

Mit Anna Boghiguian, Candice Breitz, CATPC, Alice Creischer, Chto Delat, Clegg & Guttmann, Heinrich Dunst, Anna Ehrenstein & Rebecca Pokua Korang, Sophia Eisenhut & Max Eulitz, León Ferrari, Peter Friedl, Sophie Gogl, Barbara Hammer, Ramon Haze, Hiwa K, Hudinilson Jr., Simon Lehner, Pınar Öğrenci, Mario Pfeifer, Dierk Schmidt, Michael E. Smith, Helena Uambembe, Franz Erhard Walther, Clemens von Wedemeyer, Tobias Zielony, kuratiert von Alexander Koch, Nikolaus Oberhuber und Anna Wlach

Inmitten turbulenter Zeiten schauen wir auf das Vulnerable, das Verletzliche. Mit fragilen, nachdenklichen, aber auch nervös vibrierenden Werken spürt die Ausstellung der Schutzlosigkeit nach und findet bemerkenswerte Kraft in künstlerischen Haltungen, die couragiert aufzeigen, wie angreifbar menschliche Körper und menschliche Ordnungen sind. Indem sie Verletzlichkeiten – eigene und die anderer – ins Licht rücken, schaffen die Werke der Ausstellung Momente von Empathie und machen verhärtete Fronten berührbar.

In den Schaufenstern der Galerie zeigen Chto Delat (RU) 16 Signalflaggen, die der Seeschifffahrt entlehnt sind (2024). Die dazugehörige Legende erklärt jedoch keine Seefahrtsregeln – die Flaggen zeigen Gemütszustände an, persönliche Botschaften der Erschöpfung, der Selbstsorge und der Wut. Alle Mitglieder des russischen Kollektivs Chto Delat leben heute im Exil, einige mussten das Land wegen akuter Gefahr abrupt verlassen.

Die zwei Fotografien aus Tobias Zielonys Bildserie Golden (2018) entstanden in der lettischen Hauptstadt Riga. Sie stehen exemplarisch für seine langjährige Arbeit mit und über Queer- und Underground-Communitys in postsowjetischen Gesellschaften. Von Beginn seines Werkes an hat Zielony Bilder von Menschen hervorgebracht, die um ihre eigene Repräsentation ringen, und die sich seiner Kamera, seinem Blick, zeigen wollten. Zielonys Werk ist voll von Empathie. Die Art und Weise, wie er Menschen sichtbar werden lässt, ist voller Würde für alle.

Mario Pfeifer (DE) hat seit über 10 Jahren die West-Sahara im Blick und arbeitet auch aktuell an einem umfangreichen Projekt vor Ort. Seine Fotografien (Mirrored Dakhla (Camps), 2015) zeigen Gebiete, die seit 50 Jahren völkerrechtswidrig von Marokko besetzt werden, während ein Großteil der indigenen Bevölkerung in Flüchtlingslagern auf südalgerischem Boden lebt. Institutionen, religiöse Bauten, Hafenanlagen, Industrie- und Wohnviertel wurden sukzessive in von Marokko in Besitz genommen.

Die Künstler*innen der Congolese Plantation Workers Art League, CATPC (DRC), leisten eine Aufarbeitung kolonialer Erfahrungen und seit Generationen erlebter Gewalt. Die Arbeit Résistant déporté et incarcéré (Lumumba)von 2022 zeigt den Vorkämpfer afrikanischer Befreiungsbewegungen Patrice Lumumba, der 1960 erster Präsident der unabhängigen Republik Kongo wurde und bald darauf auf Betreiben der USA und vor allem des belgischen König Baudouin hingerichtet wurde.

Santiago Sierra (ES) hat das Wappen des spanischen Staates auf Papier gedruckt (NATIONAL COAT OF ARMS OF SPAIN STAMPED WITH BLOOD, 2022). Statt Farbe verwendete er gespendetes Blut aus (allen!) Ländern des einstigen Kolonialreiches sowie vormals unabhängigen iberischen Regionen. Die Blutstempel sind klein genug für eine Seite im Reisepass – sie erinnern uns daran, wie oft die Gründung von Nationalstaaten ein Projekt des Blutvergießens war.

Hudinilson Jr. (BR) stand als ein Pionier schwuler Selbstdarstellung in Brasilien lange im Hintergrund. Derzeit, nach seinem Tod 2013, wird er neu sichtbar. Sein Werk zeigt die Körper, die Begehren, die Brüche und die Maskeraden einer queeren Welt im Untergrund, die ihre eigenen Repräsentationen hervorbringt.

Alice Creischers (DE) bildnerische Praxis ist vulnerabel aus tiefer Einsicht: harter Gesellschaftsanalyse und Ökonomiekritik verpflichtet, hat die Künstlerin eine prekäre Ästhetik entwickelt, die um die Angreifbarkeit der eigenen Positionen und ästhetischen Formulierungen weiß. Eine infame Derangierung der Ewigkeit (2017) zeigt das Bankenviertel in London 1748 und die Produktion von Obdachlosigkeit (und Tod) durch die britische Kolonialpolitik in Indien.

Von Peter Friedl (AT) sind rosafarbene Werke aus den frühen 1990er Jahren zu sehen: ein kleines Reh und zwei Bilder. In Friedls Werk ist jede Bedeutung per se fragil oder prekär, weil offen für das eigene Denken und gut abisoliert gegen Deutungsregime Dritter. Seine Siebdruck-Malerei Ohne Titel (Volontà)von 1990 hat eine anthroposophische Skizze als Quelle, eine choreografische Notation für eurythmische Körperbewegungen, die den Willen stärken sollen.

Franz Erhard Walther (DE) zeigt drei historische Werkzeichnungen (1967–72). Diese zarten Arbeiten auf Papier reflektieren soziale und mentale Prozesse, die bei der künstlerischen Arbeit wie bei deren Betrachtung – aber auch generell in der Welt sozialer Beziehungen – stattfinden. Statt stabile Strukturen darzustellen, sind Walthers Blätter situativ und auch kontingent: offen für Weiteres. Sie sortieren halb streng, halb spielerisch menschliche Begriffe und Formen.

Von Anna Boghiguian (EG) ist ein kleines Gemälde zu sehen, ein Portrait (Untitled, 2010). Vielleicht ein Selbstportrait, aber vielleicht ist „Selbst“ in Boghiguians Werk kein hilfreiches Konzept. Vielleicht sehen wir einen inneren Zustand. Von jemandem. Vielleicht von vielen. Boghiguian hat sich Jahrzehnte lang mit vielen Menschen auf dem Globus verbunden und von ihren Kämpfen und ihren Verlusten erzählt.

In einer einfachen Versuchsanordnung testen Clegg & Guttman (IL/US) die Bereitschaft des Publikums, Schmerz zu empfinden. Eine Kerze und ein Feuerzeug werden zur Verfügung gestellt, und die Anweisung lautet, die Hand so lange über die brennende Kerze zu halten, wie sich aushalten lässt. Die kleine partizipative Plastik entspringt der Videoarbeit Follow the Rule von 2019.

Candice Breitz (ZA/DE) zeigt neun Fotografien aus ihrem Projekt Whiteface (2022), das auf beißend satirische Weise typische Formen der Selbstverteidigung weißer Vorherrschaft ausstellt. Unter verschiedenen blonden Perücken und mit Zombie-Kontaktlinsen schlüpft Breitz in unterschiedliche Rollen weißer Identitätspropaganda.

Barbara Hammer (US) hat in ihrem großen Werk den Umgang institutioneller Medizin mit dem weiblichen Körper vielfach zum Thema gemacht – insbesondere den Brustkrebs, an dem sie dann selbst verstarb. In den 1990er Jahren experimentierte sie mit Röntgenaufnahmen des Thorax und übermalte das Material – 2016 drehte sie dann einen kompromisslosen Film (A Horse Is Not a Metaphor, 2008), der die eigene Krebserkrankung in starker symbolischer Reflektion verarbeitet.

Michael E. Smith (US) erschafft eine Materialität prekärer Grundbedürfnisse. Seine Arbeiten erscheinen wie Restbestände einer aus der Zivilisation gefallenen Dingwelt, die noch die Blessuren ihres menschlichen Gebrauchs tragen. Am Boden liegen ein halbes Batman-Symbol, geformt aus den vertrockneten Stielen von Kürbissen (Untitled, 2020), und 3-D-Prints von computertomographischen Aufnahmen der Torsi zweier Hunde.

Am 30. Dezember 2015 griff die türkische Polizei einen Friedensmarsch in Diyarbakır an, hunderte Zivilisten flohen. Unter ihnen, mit laufender Kamera: Pınar Öğrenci (TR). A New Year’s Eve (2021) ist ein filmisches Dokument der Ereignisse und eine Hommage an den zivilen kurdischen Widerstand gegen die Gewalt des türkischen Staates. Ein Zeugnis auch der Solidarität eines Volkes, das auf Tränengas mit Zucker reagiert.

Erstmals in Berlin zu sehen: Auszüge aus Simon Lehners (AT) viel beachtetem Fotozyklus Men Don’t Play (2015–19). Die Aufnahmen von jungen Männern, die sich als Hobbysoldaten zum Kriegsspiel treffen, zeigen statt harter Kerle eine sich selbst romantisierende und bisweilen zärtlich-intime Community. Die Exerzitien der Freizeitkämpfer finden alljährlich in Ungarn, Polen, Tschechien oder Österreich statt.

Sophia Eisenhuts und Max Eulitz (DE) verstörende Kamerafahrt durch ein deutsches U-Boot Jahrgang 1943 lässt akustisch die Notizen der Sanitätsoffiziersanwärterin J.B. aufleben, die von 1989 bis 2008 unter Wasser diente (Das Boot, 2024). Das bedrückende Zeugnis einer deutschen Soldatin begegnet im militärischen Innenraum deutscher Erinnerungskultur einem nervösen Gegenwartsempfinden.

Aus der Sammlung von Ramon Haze, die Werke der vergangenen Kulturepoche zusammengetragen hat, zeigen wir die zweiteilige Kopfarbeit (1982) von Franz Erhard Walther. Die beiden ledernen Kissen installierte Walther auf der Herrentoilette der Moschi Bar in Mönchengladbach über den Pissoirs und bot so angetrunkenen Herren die Möglichkeit, sich beim Urinieren mit der Stirn anzulehnen. Walthers Ansatz, benutzbare Kunstobjekte zu entwickeln, zeigt sich in der Arbeit beispielhaft.

Für León Ferrari (AR) war die katholische Kirche ein Gewaltregime, das er vielfach in klar blasphemischen Werken kritisierte und verhöhnte. Sein kleiner Panzer mit Jesus (Untitled, um 2008) bringt die Allianz zwischen Moral und Militär, Religion und Krieg auf den Punkt – oder auch heutige Ambivalenzen und Konflikte zwischen Pazifismus und Militarisierung?

Anna Ehrensteins (AL/DE) jüngste Arbeit (Intimate histories, 2024) entstand zusammen mit Rebecca Pokua Korang (DE) als Reaktion darauf, wie mit dem Mythos „Clan-Kriminalität“ Politik gemacht wird. Das ursprüngliche Kunstwerk – ein mit Text bedrucktes Auto samt Video, geparkt auf einer Berliner Straße, wurde „wegen Propaganda“ abgeschleppt. Die nun gezeigte Installation reagiert und zeigt eine Gegenerzählung zu populistischen Klan-Narrativen.

Aus Clemens von Wedemeyers (DE) Frühwerk ist ein Digitaldruck ausgestellt (Stromschneider, 1999). Der schwarze Bildraum erscheint entrückt, er enthält eine freigestellte menschliche Figur, die so „gescannt“ erscheint, wie man es heute von diversen Körperdurchleuchtungen an Flughafenschleusen und anderswo kennt. Es ist die Optik von Überwachunstechnologie, die Körper erfasst und erkennt, um daraus juristische Objekte zu machen.

In ihrer fortlaufenden Serie von Kohlezeichnungen (Repository, 2024) verarbeitet Helena Uambembe (ZA) Archivfotos des südafrikanischen 32-Bataillons, dem auch ihr Vater angehörte. Die Fotos zeigen Soldaten im Feld, bei der Parade oder bei offiziellen Anlässen, oft kursieren die Bilder ohne Zusammenhang in sozialen Medien, das Personal wird anonymisiert, eine Nummer im Apparat. Mit dem Stück Kohle holt Uambembe diese Geschichten und Schicksale zurück in die materielle Welt.

Moon Calendar (2007) zeigt Hiwa K (IQ) im Red Security Building im Nordirak, einem der berüchtigten Gefängnisse, in denen Saddam Husseins Regime politische Gefangene inhaftieren, foltern und töten ließ. Der Künstler steppt zum Rhythmus seines eigenen Herzschlags, den er mit einem Stethoskop abhört, während sein Tanz im Raum widerhallt. Innere und äußere Echos des Grauens treten in Resonanz, Erinnerung wird akustisch vermessen.

Das Werk von Heinrich Dunst (AT) handelt davon, dass Repräsentation nicht aufgeht: Keine Bedeutung ist stabil. Keine Aussage ist sie selbst. Die gezeigte Installation Things, Not Words (2016) enthält eine Hose und eine Leinwand. Sie handelt vom Schritt und vom Schnitt, der durch Dinge, Körper und Deutungen geht. Durch Dunsts Werk verläuft eine eminent zeitgenössische Erfahrung: Dass nichts, dass wir sehen, sagen und glauben, solide ist.

Dierk Schmidts (DE) Genre ist das Historienbild – die großen gemalten Geschichten. Aber seine Bilder sind Gegegengeschichten zur großen Repräsentation. Die Serie McJob (1997) erzählt von den prekären, schlechtbezahlten und tabuisierten Lohnjobs, die viele Künstler*innen finanziell über Wasser halten. Der Bahnwagen im Bild wurde von der Bundesbahn an privat verkauft – der Maler Schmidt lackierte ihn für kleines Geld um.

Alexander Koch
Translation: Gerrit Jackson


Nach oben / Back to top