Einen sicheren Unfall, einen Safe Crash, den gibt es nicht. Unfall ist Unfall. Außer im Kino, denn da ist ja alles gestellt. Die Schauspieler am Lenkrad sind sicher, wenn es für die Kameras kracht. Und genau dies ist im linken der zwei Bilder von Simon Lehner zu sehen: Ein verunfalltes Auto, es scheint noch frisch vom Geschehenen zu qualmen, und daneben eine grinsende Figur, die sich vor dem Publikum nach gelungener Performance verneigt mit dem typischen Bühnendiener der ehrenwerten Gaukler. Rechts im Bild steht eine professionelle Kamera. Ein grünes Kreuz am Boden markiert eine Bühnenposition. Die Szene, die wir sehen, ist ein Filmset. Alles gut also.
Aber wir sehen noch mehr. Die männliche Figur, die beim Verneigen noch ihren Sprechtext in der Hand hält – was auf eine Vorprobe hindeutet, nicht den eigentlichen, finalen Dreh – ist von einem Raster aus Quadraten strukturiert, wie sie bei digitalen Produktionen verwendet werden, bei denen die Schauspieler später übermalt werden mit computergenerierten Oberflächen, unter denen ihre wahren Körper und Eigenschaften verschwinden. Ein Rewind-Symbol (Play again) mitten in der Figur macht diese zudem für Wiederholungen verfügbar, die der Produktionsablauf erfordert. Ein Charakterdarsteller steht wohl kaum vor uns. Eher eine Marionette im kinematografischen Betrieb.
Die Silhouetten weiterer Personen sind im Bild. Auch einige von ihnen grinsen – wie die Grinsekatze aus Alice im Wunderland, deren Grinsen auch dann noch gespenstisch zu sehen ist, nachdem die Katze schon verschwunden ist. Sind es vorangegangene Positionen der gleichen Figur? Die Entourage auf dem Set? Techniker, die jene Knöpfe drücken, die auf der Bildoberfläche als Kamerasymbole und Löschtaste wiederkehren? Wer oder was ist oder agiert eigentlich auf diesem Bild? Wer oder was kontrolliert die Szene, den Darsteller – und schlussendlich das Bild, das wir sehen?
Ein Bild übrigens, das wie stets in Lehners bisherigem Werk seinen Ausgangspunkt im privaten Fotoarchiv des Künstlers hat, in dem Bilder seiner Kindheit und Jugend abgelegt sind. Dieser biografische Ausgangspunkt ist wichtig, rückt er doch im Rahmen von Safe Crash die Frage nach einer persönlichen Erfahrung (einem Unfall?) ins Licht einer fragwürdigen Erinnerungskonstruktion. Denn die Produktionsbedingungen des inneren Films einer katastrofischen, vielleicht traumatischen Erinnerung sind in einer medial dominierten Lebenswelt nicht zu trennen von all den anderen Bild- und Filmproduktionen, die unser Selbstbild längst entscheidend prägen. Hinzu kommt, dass Simon Lehner Künstliche Intelligenzen, die kognitive Erinnerungsprozesse des Menschen nachahmen, in die Erzeugung einzelner Bildbestandteile einbindet.
Was habe ich erlebt? Was habe ich erlebt? Was habe ich erlebt? Die Frage, die der existenzialistischen Literatur so am Herzen lag, lässt sich verschieden gewichten, und unter heutigen Vorzeichen medial geprägter (oder sollten wir gleich sagen: medialer?) Identitäten wird sie noch ungleich komplexer. Was einem widerfährt, wiederkehrt in den Echoräumen einer hoch digitalisierten Produktionsmaschine neuer Seinsformen, die uns uns selber ungewiss machen. Safe Crash. Mit Datenhandschuh und Headset vor dem Screen sitzend, wird noch das privateste Unheil im Nachklang als Vorabendserie ausgespielt, die wir sicher konsumieren können.
Oder auch nicht. Der rechte Teil des Diptychons ist ein Wimmelbild, in giftgrüner Farbe gehalten, der Farbe der digitalen Green-Screen-Technik. Es ist ein hektisches Gemenge der immergleichen glatzköpfigen Figur, die wir im linken Bild bereits sahen, und die wieder und wieder in unterschiedlichen Posen und Grimassen erscheint, krampfig, gewunden und verzerrt. Es ist wie ein Blick auf den Müllhaufen abgelegter Rollenhülsen. Oder blicken wir in den Spamordner für verbrauchte Selbstbilder, in dem das eigene Leiden und der eigene Wahn – die eigenen Ich-Unfälle – in der Hölle des Unbrauchbaren schmoren?
Oben rechts überschneiden sich die Logos von MTV und Disney, zwei der vielen Traumfabriken und Illusionsmaschinen, die vor allem junge Menschen mit so kurzweiligen wie auch kurzlebigen Identitätsmodellen versorgen. Der Off-Schalter unten rechts im Bild zeigt vielleicht an, wie schnell solche Modelle wieder ausgeknipst und verklappt werden, weil sie einfach nicht passen oder weil das nächste Modell schon am Set bereitsteht, um sich anzubieten.
Und dann ist da noch die eine Figur am rechten Bildrand, die ein kleines Bambi-Rehlein im Arm hält. Der es hält, hat Furcht im Gesicht. Bambi scheint tot (Who Killed Bambi heißt übrigens ein cooler Laden für Jugendmode in Berlin). Spätestens hier wird klar: das Ganze ist kein Spaß. Thema und auch Form des Diptychons sind verstörend, rühren tief an. Safe Crash geht dem Körper an die Seele und rückt der Seele zu Laibe. Würde man es als das Portrait einer Epoche betrachten, in der insbesondere der Jugend vielleicht klar wird, dass ihre Selbstunfälle sie am Ende zutiefst verunsichert zurücklassen, wenn die Hüllen jedes anderweitig inszenierten Versprechens fallen in Anbetracht der Realität – man läge vielleicht nicht falsch.
Berlin, Mai 2023