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Bin ich Künstler*in oder kann das weg? Eine Trennungsgeschichte mit politischem Ende

Man kann alles Mögliche trennen. Müll, Ehen, Spreu vom Weizen, mal ist es schwierig, mal ganz leicht, so wie das Blatt Klopapier, dass man von der Rolle reißt. Öl und Wasser trennen sich sogar zuverlässig und ganz reibungslos freiwillig.

Auf Seiten der Erkenntnistheorie (Was kann ich wissen?) formulierte George Spencer-Brown 1969 sein logisches Paradigma: „Draw a distinction!“, mach eine Unterscheidung! Er meinte damit folgendes: Immer dann, wenn wir etwas bezeichnen, entschließen wir uns dazu, dieses eine durch unsere Bezeichnung von allem anderen zu trennen. In der täglichen Praxis geschieht das meist unbewusst. Wer A sagt hat nicht B gesagt, ob aus Gewohnheit oder in voller Absicht. Wer etwas als Kunst bezeichnet, trennt das Bezeichnete von Maschinenbau, Ehe und Klopapier, und was Menschen sonst noch tun und brauchen. Aber – und das ist das Entscheidende – wir trennen nicht Kunst von Maschinenbau, weil beide dem Wesen nach verschiedene Dinge sind und weil das allen Sprechenden und Zuhörenden immer schon klar war, sondern, so Spencer-Brown, wir nehmen diese Trennung vor, indem wir eine Unterscheidung treffen (to draw, vergl. „performativ“). Wir machen uns also stets auf eine Weise verantwortlich, sozusagen epistemologisch haftbar, wenn wir uns entscheiden, etwas so oder so zu bezeichnen, etwas von etwas zu trennen, sagen: dies ist das, und das da ist etwas anderes. Bis jemand kommt und seine Hochzeit oder sein Klo zur Kunst erklärt – dann stehen wir dumm da mit unseren Unterscheidungen und müssen nachbessern, müssen anders trennen, vielleicht ganz bewusst anders entscheiden. Dann schlägt mitunter die Stunde der Theorie.

Manche Unterscheidungen können ganz reibungslos ablaufen, so wie die zwischen Flüssigkeiten verschiedener Molekularstruktur, andere können indes schmerzhaft und konfliktreich abgehen, oder schlicht knifflig sein. Wer Schwarz von Weiß trennt, liegt beim Schach ganz richtig, sind aber Menschen gemeint, wird es im Diskursraum hitzig. Man sollte also aufpassen, wen und was man von wem und was trennen will, unterscheiden will, absondern will – und warum. Das macht das Trennen zum Politikum.

Kann man sich vor der Kunst trennen?

Man kann etwas von etwas trennen, zum Beispiel bewusste von unbewussten Handlungen, oder man kann sich von etwas trennen, zum Beispiel von einem Buch, das man nie mehr lesen wird und verschenkt. Manchmal fällt auch beides zusammen: Man unterscheidet anders als zuvor und beschließt zugleich (oder daraufhin), etwas loszulassen. Der geliebte Freund erscheint plötzlich als ekliger Lügner. Man sieht ihn fortan nie mehr wieder.

In einem besonderen Fall nun wird das alles ausgesprochen spannend. Bei der Frage nämlich, ob man die Kunst verlassen kann. Ich möchte Sie gerne einladen, mit mir in diese Frage einzutauchen, denn sie birgt ungeahnte Früchte, von denen manche am Ende bitter sind, einige aber auch süß. Und falls Sie gerade darüber nachdenken, Ihren Partner zu verlassen oder Ihren Job zu kündigen, oder schlicht das Handtuch zu werfen, dann bleiben Sie bei mir. Ich hab‘ vielleicht was für Sie.

Fangen wir mit einer einfachen Frage an: Kann man sich vor der Kunst trennen? Als erstes würde ich dann unterscheiden, dass mich hier nicht interessiert, was geschieht, wenn eine Sammlerin ihre Kunstsammlung verbrennt. Das ändert für mich nicht viel, außer, dass die Kunst futsch ist und man das nicht tun sollte. Mich interessieren nicht die Dinge, die Werke, von denen man sich trennen könnte. Ebenso wenig interessieren mich im engeren Sinne die Begriffe, die Kunst und anderes unterscheiden. Den Kunstbegriff, das hat das 20. Jahrhundert gezeigt, sollten wir pragmatisch als eine ziemlich breite Bezeichnung für alles Mögliche betrachten, das Personen mit diesem Begriff in Verbindung bringen. Mich interessieren hier stattdessen die künstlerische Praxis und das Rollenmodell „Künstler*in“. Kann man sich von denen trennen? Und wenn ja – was man ja vermuten würde, denn warum nicht –, wie genau spielt sich das ab? Was wissen wir eigentlich darüber?

Es wurden Kilometer von Büchern geschrieben, wie, warum, auf welchen Wegen Künstler*innen zu Künstler*innen wurden und werden, was künstlerische Praxen ausmacht, wie man sie erlernt, performt, zum Beruf macht, perfektioniert, eingrenzt oder öffnet, wie sie sich im Laufe der Historie immer wieder gewandelt haben, was ihre Zukunft sein könnte. Eine Recherche, die ich ab 2001 anstrengte und die alsbald in eine (abgebrochene) Doktorarbeit1 münden sollte, zeigte, dass (zum damaligen Zeitpunkt) jedoch kein einziges Buch darüber geschrieben worden war, wie eine künstlerische Praxis endet. Nicht einmal ein nennenswerter Essay. Wie konnte das sein? Jeder kennt Geschichten über Hochzeiten und Scheidungen, neue Jobs und Kündigungen, Krieg und Frieden, zerbrochene WCs und Rohrbrüche. Vieles, fast alles, das schon ist oder frisch beginnt, hat auch ein Ende, und zu all diesen Enden gibt es viel Literatur. Das Ende einer künstlerischen Praxis, oder wie man in soziologischer Perspektive ergänzen muss: das Ablegen der Künstlerrolle, die Trennung von Stand, Status, Zuschreibung und Akzeptanz als Künstler*in, ausgerechnet das sollte bislang nicht Gegenstand genaueren Nachdenkens gewesen sein? Ich war verdutzt.

Dann stieß ich auf die Giotto-Legende, die ich aufschlussreich fand. Wir befinden uns in der Frührenaissance. Der Maler Giotto ist zu Ruhm und Reichtum gelangt und Giorgio Vasari, einer der ersten Kunsthistoriker, schreibt seine Geschichte auf, die sich bald verbreitet. Giotto sei ein junger Hirtensohn gewesen, der, während er Schafe hütete, Zeichnungen seiner Schafe auf Stein anfertigte. Ein Künstler namens Cimabue sei bei einem Spaziergang vorbeigekommen und habe dem Jungen über die Schulter geschaut, was er da tue – und sogleich die außergewöhnliche Qualität und Wahrhaftigkeit seines Strichs erkannt. Cimabue nimmt ihn mit und lässt ihm eine Ausbildung zuteilwerden. Aber die Gabe seiner Künstlerschaft ist nicht mühsam erworben, nicht antrainiert und entspringt weder einem hohen sozialen Satus, noch handwerklicher Geschicklichkeit allein, nein. Sein Talent wurde ihm in die Wiege gelegt!

Mit dieser Erzählung vollzieht sich ein Paradigmenwechsel. Giotto wird zum Prototyp des Künstlergenies. Die Legende erhebt ihn über den Stand des Handwerkers, den auch Künstler neben Schreinern und Schmieden vordem innehatten. In der Hierarchie manueller kreativer Berufe wird mit Giotto der Künstler – am Ausgang des Mittelalters – abgesondert von den profanen Tätigkeiten anderer Schaffender. Das besondere, einzigartige, liegt ihm im Blut, es ist ein Segen, ein göttliches Privileg, eine unersetzliche Eigenart, ja: was er tut ist Schöpfung (Vergl. „künstlerisches Schaffen“, ein Begriff, der mir immer suspekt war.). Aber nun Achtung: Wer, der in der Hierarchie der Schaffenden einmal die von Konkurrenten und Institutionen besonders stark reglementierten Weihen solch hehrer Künstlerschaft erhält, wäre wohl je auf die Idee gekommen, sie wieder abzugeben? Wer trennte sich wohl von einer derart herausgehobenen Position, wie sie das von Kirche, Königshäusern und Fachkollegen anerkannte Künstlergenie einnimmt? Denn von dort aus führte der Weg nur in eine einzige Richtung: wieder hinab in die Niederungen des einfachen, profanen Handwerks.

Im Angesichte allerhöchster Weihen, gottgegebener Eingebungen, schöpfungsgleichem Erfindungsreichtum und unübertragbarer Individualität eines einzigartigen Subjektes, das bei Hof, Klerus, und aufstrebender Unternehmerschaft Zuspruch und Aufträge erhält, erscheint es nachgerade absurd, sich auszumalen, warum und wie man ein solches Rollenmodell wieder in Würde loswerden sollte, und warum in alles in der Welt das erstrebenswert wäre. „Danke, ich trenne mich von der Kunst und mache jetzt was anderes.“, das kommt in diesem Spiel nicht vor, ja es wäre ein Sakrileg.

Aura des Besonderen

Nun ist ja seit der Frührenaissance einige Zeit vergangen und der Geniekult, der über die Epoche der Romantik auch die Epoche der Moderne geprägt hat, ist vielfach kritisiert und dekonstruiert worden (Künstler*innen sind Leute, die auch nur ihre Dinge tun, so wie auch alle anderen Menschen ihre Dinge tun, nur halt je ein bisschen verschieden. Kurz: nehmt die Trennung zwischen dem einen und dem anderen nicht zu ernst.). Trotzdem hallt die alte Unterscheidung, was Künstlertum im Kern ausmache und was nicht, bis heute nach. Künstlersein, das klingt nach wie vor nicht wie eine Entscheidung (Papa, ich werde Arzt.), sondern wie ein Schicksal (Kind, Du bist etwas ganz Besonderes!).

Ich überzeichne, gewiss, aber würden Sie mir widersprechen, dass Künstlertum auch heute noch von der Aura des Besonderen umgeben ist, dass in der Rhetorik offiziöser wie auch alltagsprachlicher Stimmen manchen (wenigen) Menschen in die Seele oder in die Hormone gelegt zu sein scheint und andern nicht? Und würden Sie mir zustimmen, dass, wer heute Kunst studiert, „es“ aber nach dem Studium nicht schafft, in den Augen der Gesellschaft kein Ansehen genießt (Hättest besser gleich was Vernünftiges machen sollen!)? Oder anders gefragt: Was denn hätten Studierende des Fachs Kunst erworben, das in den Augen der Gesellschaft anerkennungswürdig und wertvoll wäre für den Fall, das keine künstlerische Karriere daraus wird? Ahnen Sie mit mir, dass diese Frage vielerorts Ratlosigkeit nach sich ziehen oder bestenfalls Floskeln hervorbringen wird, wie: Nun ja, Kreativität wird überall gebraucht. Toll, dass Du mit Bleistift und Kamera umgehen kannst. Würde man sich gerne öffentlich selber dafür rühmen, einmal Künstler*in gewesen zu sein? Wäre am Kneipentisch die Wahrscheinlichkeit nicht hoch, den Kommentar zu kassieren: Und was ging schief?

Dabei ist rein statistisch klar, dass es weitaus mehr ehemalige Künstlerinnen und Künstler geben muss als aktuell praktizierende – nimmt man als Maßstab die vielzitierte Zahl von drei bis fünf Prozent aller Absolvent*innen von Kunsthochschulen, die von ihrer Kunst dauerhaft leben können (Die Zahl ist übrigens quatsch, aber das ist ein anderes Thema.). Und der Rest? Ist der gescheitert? Jedenfalls gilt die künstlerische Praxis üblicherweise nicht als Leiter, die man fortwirft, nachdem man auf ihr eine nächste Ebene erklommen hat, so wie etwa die politische Praxis oftmals zu einer Leiter wird, auf der man einen lukrativen Posten in der freien Wirtschaft ergattert. Es ist auch nicht schlimm, Ärztin zu sein und dann das Pferd zu wechseln um Reisereportagen zu schreiben – oder umgekehrt – wenn es sich nun mal so ergab. Warum sich nicht verändern? Mit einer solchen Biografie kommt man durchaus sogar ins Radio. Aber kennen Sie Künstler*innen, die man dafür lobte, Ärzt*innen oder Reisereporter*innen geworden zu sein? Ich nicht. Aber ich hoffe, der Tag wird kommen.

Drei Arten, etwas nicht zu tun

Manche Trennungen widerfahren einem ohne eigene Absicht, andere führt man willentlich herbei. Sich von der eigenen Künstler*innenrolle unwillentlich zu trennen, weil Anerkennung ausbleibt, das Geld knapp wird, oder aus anderen Gründen, die Menschen dazu bringen, ihre Künstlerlaufbahn abbrechen zu müssen, das geschieht millionenfach und soll hier ausgeklammert bleiben. Denn mich interessiert der andere Fall: Wenn die Trennung von der eigenen Künstler*innenrolle eine willentliche und bewusste Entscheidung ist, obwohl die Karriere ganz gut läuft, die Anerkennung da ist, man also weitermachen kann, es aber nicht will.

Doch auch in diesem Fall – Draw a distinction! – muss man genauer hinschauen. Denn nicht jede Trennung ist auch eine, beziehungsweise ist manche Trennung ein echter Schlussstrich, während andere es nicht sind. Sich von einer Praxis zu trennen heißt ja nichts anderes, als etwas nicht mehr zu tun. Aber es gibt unterschiedliche Weisen, etwas nicht zu tun, und aus Performanz- und Theatralitätstheorien wissen wir, dass auch das Nichthandeln ein Handeln, das Nichtstun oder Nicht-tun eine Praxis sein kann. Und auch wenn Künstler*innen zu Kurator*innen oder Galerist*innen werden, ist es wenig sinnvoll von einer Trennung zu sprechen, denn meist ist es lediglich ein Rollenwechsel innerhalb der Kunstwelt, das plötzliche oder schleichende Verändern einer Praxis, das Verschieben des Fokus. Damit wir also etwas genauer werden und verschiedene Trennungen von der Kunst vernünftig trennen können, habe ich mir drei Unterscheidungen ausgedacht.

Es gibt das ostentative künstlerische Nichthandeln, wobei ostentativ so viel heißt wie: zur Schau stellen. Davon gibt es jede Menge. John Cages Aufführung 4’33 in Woodstock 1952 ist ein Klassiker. Er setzt sich ans Klavier und tut – nichts. Der Skandal ist vorprogrammiert. Heute ist Cage weltberühmt, weil er die Aufmerksamkeit auf den Raum, die Stille, das Räuspern im Publikum und so weiter lenken wollte, anstatt auf das Klavierspiel, was künstlerische Arbeitsweisen erweitert und bereichert hat. Falls Sie sich fragen, wozu dann noch das Klavier auf der Bühne, wenn er es gar nicht spielte: eben darum, um sich von ihm trennen zu können, um es nicht zu benutzen. Einfach nur auf einem Stuhl sitzen funktioniert nicht. Erst das Klavier macht klar, dass es um Musik geht, mindestens um Akustik. Ein anderes Beispiel ist die Disappearing-Performance von Chris Burden aus dem Jahr 1971. Wie der Titel schon sagt, verschwand der Künstler für eine Weile, das Werk besteht aus der Schreibmaschinennotiz, dass er weg war.

Dann gibt es das kommunikative künstlerische Nichthandeln. Wäre John Cage gar nicht erst zu dem Konzert erschienen, das er angekündigt hatte, hätte er in diese Kategorie gehört. Ein Klassiker zu diesem Thema ist das „SchweigenDuchamps“. Jahrelang produzierte Marcel Duchamp keine Arbeiten und die Welt wunderte sich, was los ist. Währenddessen aber blieb er ein Akteur im Kunstfeld, kommunizierte vielfach, schrieb Briefe, ließ von sich wissen, hatte Macht, war involviert. Gerade aber weil er sich vermeintlich von der künstlerischen Praxis trennte, bekam er Aufmerksamkeit für sein künstlerisches Nichtstun und damit für seine Person, deren Verhalten Fragen aufwarf. Auch ein anderer Fall ist interessant. Die Amerikanerin Cady Noland, eine Künstlerinnenlegende, deren Arbeitsschwerpunkt in den 1980er und 1990er Jahren lag, stoppte die Werkproduktion, untersagte jegliche Ausstellung ihrer Arbeiten und galt gemeinhin als Aussteigerin. Was weniger Menschen wissen ist, dass Cady Noland im Hintergrund äußerst aktiv blieb. Bis heute kontrolliert sie die Sichtbarkeit ihres Œuvres wo sie kann. Geht eine alte Arbeit in eine Auktion, bei der viele Millionen dafür geboten werden, baut sie sie, wenn möglich, selber auf und verschwindet sofort wieder. Berüchtigt sind die zahlreichen Gerichtsverfahren, die sie anstrengte, um Arbeiten, die etwa Schaden gelitten hatten oder restauriert worden waren, aus dem Verkehr zu ziehen und ihnen die Authentizität abzusprechen. Der Autor war selber Ziel eines solchen juristischen Aktes und hatte 2011 die Künstlerin eines morgens am Telefon, die mit physischer Gewalt drohte, falls er ihre Werke nicht sofort aus der von ihm kuratierten Ausstellung entfernen würde. Kurz: Cady Noland stieg nicht aus der Kunst aus. Sie kommuniziert stetig und auf die entschiedenste Weise mit anderen Mitspieler*innen in der Kunstwelt, und verfolgt dabei klare Ziele. Und erinnern Sie sich an Maurizio Cattelans Ankündigung, er habe genug und werde aus der Kunst aussteigen? Das war 2012. Mich rief das Monopol Magazin an und fragte, ob ich das kommentieren wolle. Ich sagte: Lasst euch nicht foppen. Cattelan steigt nicht aus, der inszeniert sich nur. So kam es dann auch.

Der Ausstieg aus der Kunst

Vom ostentativen und vom kommunikativen Nichthandeln unterscheidet sich das radikale künstlerische Nichthandelndadurch, dass nicht nur nicht mehr künstlerisch gearbeitet wird, sondern dass man an den sozialen Spielen, den Kommunikationen, der Ökonomie, den Veranstaltungen und Ereignissen der Kunstwelt nicht länger teilnimmt und vollständig aus dieser Welt verschwindet. Die Brücken abbricht. Weg ist. Weg weg. Das und nur das ist in meinen Augen, was man sinnvoller Weise als einen Ausstieg aus der Kunst bezeichnen kann: das vorsätzliche Ablegen der Künstlerrolle. Meine Definition lautet so: Ein Ausstieg aus der Kunst liegt dann vor, wenn ein Akteur zu einem früheren Zeitpunkt im Kunstfeld sichtbar war und zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr, und dies so wollte. Jetzt mögen Sie die Schultern zucken und sagen: Ja und? Das ist jetzt die Pointe? Warum soll das interessant sein? Nun, interessant finde ich dabei dreierlei.

Ich sagte oben, dass so wenig darüber bekannt ist, wie und warum künstlerische Praxen an ein Ende gelangen. Dann habe ich so lange Unterscheidungen getroffen und das eine vom anderen getrennt, bis nun ein bestimmtes, und vielleicht auch interessantestes, Ende solcher Praxen klar umrissen ist. Bemerkenswert finde ich dabei, dass Künstler*innen ja gerne als Aussteiger*innen betitelt werden, womit dann oft gemeint ist, dass sie nicht der sozialen Norm entsprechen oder irgend etwas tun, das als Grenzüberschreitung gilt. Dass ihre Grenzüberschreitung, ihr Aussteigertum, aber auch darin liegen könnte, dass sie aus der Kunst aussteigen, scheint lange Zeit unbedacht geblieben zu sein, ja vielleicht unvorstellbar (vergleiche Giotto). Aber dieser Umstand gehört in unser Künstler*innenbild hinein. Ich finde, wir können keine Kunstgeschichte schreiben, die Leute außer Acht lässt, die es vorgezogen haben, in dieser Geschichte nicht mehr vorzukommen, obwohl sie es hätten können.

Auf der Suche nach Fällen, die obiger Definition entsprechen, beziehungsweise die mich dazu brachten, sie so zu formulieren, stieß ich mit einer gewissen Regelmäßigkeit auf Künstler*innen, die sich in historischen Umbruchzeiten politisch engagierten und in deren Biografien erkennbar ist, dass sie sich von der Kunst abwandten, weil sie ihr nicht zutrauten, ausreichend Relevanz zu besitzen, um zum gesellschaftlichen Wandel beizutragen. Ich fand solche Fälle von der Mitte des 18. Jahrhunderts aufwärts, gehäuft in Revolutionszeiten und stets wirkte es auf mich, als seien solche Ausstiege Statements, die im Bereich der Institutionskritik relevant wären, dort also, wo man sich fragt, ob die gesellschaftliche Konstruktion von Kunst, so wie wir sie uns im Laufe der Geschichte gebastelt haben, eigentlich Sinn macht oder verändert gehörte. Es ist eine der zentralen Fragen, die hier immer wieder gestellt wurde: Was kann Kunst? Ist das wichtig, richtig? Kann das weg? Sollte das weg? Sollte ich besser etwas anderes tun? Tatsächlich haben relevante Künstler*innenpersönlichkeiten immer wieder diese Fragen gestellt, und manche davon haben sich mit ihrer Antwort so positioniert wie Charlotte Posenenske. Im Mai 1968 veröffentlichte die Bildhauerin, deren Werk lange fast verschollen war, bis es in den 2000er Jahren posthum als Klassiker der deutschen Minimal Art rehabilitiert wurde, unter anderem auf der documenta 12, ein Statement in der amerikanischen Kunstzeitschrift Art International, das mit folgenden Worten endet: „Es fällt mir schwer, mich damit abzufinden, dass Kunst nichts zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen kann.“ Im Jahr darauf trennte sich Posenenske von der Kunst, studierte fortan Soziologie und wurde bis auf Weiteres von der Kunstwelt vergessen. Ich könnte viele Fälle aus den vergangenen 200 Jahren nennen, die ungefähr vergleichbar sind. Ihnen allen ist eines gemeinsam: Sie kritisierten die gesellschaftliche Rolle der Kunst und die eigene Rolle als Künstler*in, und diese Kritik kulminierte in der Konsequenz, sich von der Kunst als Handlungsfeld zu verabschieden. Man könnte also durchaus auf die Idee kommen, in solchen Kunstausstiegen eine radikale – vielleicht die radikalste – Form von Institutionskritik zu sehen, nämlich eine fundamentale Kritik am System Kunst insgesamt. Und das bringt mich zum nächsten und letzten Punkt.

Der Umstand, dass es keine Rezeption solcher Kritik gab, dass das, was ich für Statements halte, nämlich das begründete Niederlegen einer künstlerischen Praxis aufgrund fundamentaler Zweifel an den Bedingungen und Möglichkeiten dieser Praxis, so lange nicht gesehen und gehört wurde, spricht Bände darüber, was die Kunstwelt in ihrer Wahrnehmung und Kommunikation verarbeiten kann und will, und was nicht, wer da vorkommt und wer nicht, was man sehen will und was man nicht sehen will. Es gibt aber, und damit komme ich allmählich zu Schluss, natürlich ein Handicap bei der Sache: Wenn jemand der Kunstwelt seinen Rücken kehrt und fürderhin nimmer gesehen wird, fällt es freilich nicht ganz leicht, diesen Schritt zu rezipieren und etwa auf die Idee zu kommen, eine Doktorarbeit darüber zu schreiben, dass da jemand war, der jetzt nicht mehr da ist. Es ist verständlich, dass Kunsthistoriker*innen nicht viel Leidenschaft dafür entfalteten, sich mit Künstler*innen zu befassen, die keine mehr sind. Es ist ein bisschen kontraintuitiv für Wissenschaftler*innen, sich etwas zuzuwenden, das weg ist. Gleichzeitig scheint mir das aber auch ein Problem der Profession zu sein, denn im Leben tun wir so etwas ja massenhaft. Jede*r, der/die eine schwierige, vielleicht schmerzvolle Trennung von einer Partnerin oder einem Partner durchlebt hat, weiß gut, wieviel man darüber nachdenkt, warum jemand gegangen ist, was die Motive waren, wie lange sich das schon abzeichnete, ob man Schuld daran war oder Grund hat, richtig sauer zu sein. Warum sollte man sich das nicht mit gleicher Tiefe fragen, wenn sich jemand, den man schätzte, von der Kunst getrennt hat? Auch von uns getrennt hat, falls wir Angehörige der Kunstwelt sind. Das sollte nicht nachdenklich machen? Ich finde, es sollte. Es ist ein Spiegel für uns. Es beschreibt ein Stück des Ortes, an dem wir sind, wenn sich jemand entschloss, nicht länger an diesem Ort zu sein.

Und zum guten Schluss will ich das ganze nun dramatisieren! Denn man könnte auf folgenden Gedanken kommen: Wenn man so wenig darüber weiß, wer sich wann und warum von einer künstlerischen Praxis trennte, weil er / sie / es nicht länger an die Relevanz dieser Praxis glaubte oder sonstige gute Gründe hatte, ihr nicht das zuzutrauen, was man sich erhoffen würde, und also aus dem Blickfeld der Kunstweltler*innen auf nimmer wiedersehen verschwand – was können wir dann eigentlich davon wissen, wie oft so etwas geschieht? Sind das Einzelfälle? Was, wenn es ein Massenphänomen wäre? Was, wenn gar die Kunstwelt nur aus denjenigen Menschen bestünde, die sich nicht dazu entschlossen haben, dieser Welt aus guten Gründen Adieu zu sagen? Was, wenn wir der Rest sind? Ein unkritischer Rest, der sich einfach nicht trennen kann und will von einer Praxis und einem Leben, die Millionen, ja Milliarden anderer Menschen eher enttäuschend oder zumindest wenig vielversprechend finden, weshalb sie es sogar vorzogen, gar nicht erst einzusteigen in die Künstler*innenrolle und uns also alleine ließen, bevor wir sie überhaupt sehen und kennenlernen konnten, damit sie uns erzählen, was sie an unserem Tun und Dasein problematisch finden?

Alexander Koch

Erschienen in: Martin Köttering (Hg.), Lerchenfeld Nr. 57, Hamburg 2021

1 Kunst verlassen #1, Ausstellung in der Galerie der Hochschule für Grafik und Buchkunst, Leipzig, 2001; GENERAL STRIKE, Grundlagen zu Theorie und Geschichte des Kunstausstiegs, KOW ISSUE 8, Berlin, 2011


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