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Antirepresentationalism. Konzeptuelle und gesellschaftlich orientierte Kunst in Leipzig 1997–2009 (2009/2010)

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KOW Berlin

Mit Ramon Haze, Mario Pfeifer, Tina Schulz, Clemens von Wedemeyer, Tobias Zielony, Peggy Buth, Famed, Markus Dressen, Andreas Grahl, Henriette Grahnert, Eiko Grimmberg/ Arthur Zalewski, Mark Hamilton, Ramon Haze, Oliver Kossack, Claudia Annette Maier, Ulrich Polster, Julius Popp, schau-vogel-schau (Marcel Bühler, Alexander Koch), Julia Schmidt, Tilo Schulz, spector cut+paste, Christoph Weber, kuratiert von Alexander Koch und Nikolaus Oberhuber

20 Jahre nach Mauerfall rekapituliert die Ausstellungstrilogie die Entwicklung konzeptioneller und gesellschaftlich orientierter Kunst in Leipzig seit Ende der 90er Jahre. Drei aufeinander folgende Ausstellungsteile führen 28 künstlerische und gestalterische Positionen zusammen und setzen Themen, die den gesellschaftlichen Wandel im 2. Jahrzehnt der deutschen Wiedervereinigung kritisch diskutieren. Wir zeigen erstmals einen umfassenden Rückblick auf diesen Teil der jüngsten deutschen Kunst(Geschichte) und versammeln Schlüsselpositionen und -werke.

Die Künstlergeneration, von der die Rede ist, überwindet nicht nur ein Denken in politischen Blöcken, weil sie Ignoranz, ideologische Verbohrtheit und echte Solidarität hier wie dort erlebt. Inmitten des sozialen und kulturellen Umbaus nach der Friedlichen Revolution auf Leipzigs Straßen teilt sie auch die Desorientierung, die verbliebene Hoffnung und die wachsende Skepsis Vieler. Das prägt ihre Arbeit. 1997 resümiert die documenta X Politisierungsbewegungen der Kunst seit den 60er Jahren. Zeitgleich stellt eine jüngere Künstlergeneration die in Leipzig fehlenden Verbindungen zu internationalen (westlichen) Kunstentwicklungen der Nachkriegszeit her und überprüft dabei die Anschlussfähigkeit von Abstraktion, Pop Art, Minimalismus, Konzeptkunst und Institutionskritik an eine veränderte gesellschaftliche Situation. So entsteht eine bemerkenswerte Vielfalt künstlerischer Arbeitsweisen mit gesellschaftskitischer Perspektive, die sich zu keiner lokalen „Schule“ oder einem Stil gruppieren lassen. Dennoch belegen zahlreiche Kooperationen sowohl auf der Diskurs- wie auf der Produktionsebene den Zusammenhalt der Szene über die Jahre.

Drei Ausstellungskapitel betrachten zentrale Themen der Kunst der späten Nachwendezeit aus der Perspektive der Politischen Philosophie Richard Rortys. Rorty unterschied nicht länger zwischen Wirklichkeit und Repräsentation, zwischen der Welt, „wie sie wirklich ist“, und ihrer „bloßen Beschreibung“. Er unterschied stattdessen zwischen solchen Beschreibungen der Wirklichkeit, die ein demokratisches Gemeinwesen und sein Vorstellungsvermögen voranbringen und anderen, die das nicht tun. Da die Lösung gesellschaftlicher Probleme Imagination und Empathie erfordere, statt Wahrheiten, gab Rorty dem Streben nach Solidarität Vorrang vor dem Streben nach Erkenntnis – und politisierte die Philosophie noch einmal radikal. Die Konsequenzen seines „Antirepräsentationalismus“ für die künstlerische Praxis und ihre Rezeption blieben bislang wenig diskutiert.

Teil 1: Politics of Redescription

POLITICS OF REDESCRIPTION, das erste Kapitel unserer Ausstellungstrilogie, zeigt ausgewählte Arbeiten und Projekte, die Geschichte zu einer Frage des Standpunkts machen und zeigen, dass Standpunkte veränderbar sind. Dass sich die Vergangenheit anders darstellt, je nachdem von wo man schaut, macht sie zum Politikum. Die Nachwendezeit ist bis heute eine Zeit der Neubeschreibung des gesellschaftlichen Zusammenhalts nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation. Auseinandersetzungen um den ‚korrekten‘ Blick zurück – etwa auf den DDR-Alltag oder auf das Schicksal des Sozialismus – wollen unterschiedliche Ansichten immer wieder auf eine einzige einschwören. Aber es gibt nicht den einen Blickwinkel, von dem aus die Vergangenheit für alle gleich aussieht.

Folgt man Rorty, sollten wir in konkurrierenden Interpretationen der Geschichte nicht mehr oder weniger ‚treffende‘ Beschreibungen der Vergangenheit sehen, sondern die Hoffnung von Individuen, Gemeinschaften, Nationen, das letzte Wort darüber, woher sie kommen und was aus ihnen vielleicht noch werden könnte, sei noch nicht gesprochen. Hoffnung also, es gebe noch Spielraum für sozialen Fortschritt. Die Ausstellung zeigt Konzepte der Neubeschreibung historischer Ereignisse und ihrer Darstellung als ein wiederkehrendes Thema und Verfahren in der Leipziger Kunst des 2. Nachwendejahrzehnts. Der Blick, den die ausgestellten Werke auf die Vergangenheit richten, sucht nicht nach festem Grund, sondern nach neuen Blickachsen. Er sieht, dass Geschichte erzählt wird und probiert Varianten. Er sieht den Abriss alter Ideologien und Utopien und ihren Wiederaufbau in neuer Wendung. Er blendet Fragen von heute über Antworten von gestern und gewinnt Klarheit aus der Differenz.

Teil 2: Trouble with Realism

Das erste Kapitel unserer Ausstellungstrilogie argumentierte, dass unser Bild der Vergangenheit niemals fertig wird, weil wir diese aus wechselnden Perspektiven immer neu beschreiben. Geschichte ist also flexibel. Der zweite Ausstellungsteil TROUBLE WITH REALISM lässt gleiches für die Wirklichkeit gelten.

‚Realismus‘ steht für den Versuch, etwas von der Welt einzufangen, so wie sie ist. Aber wie ist sie? Im Kalten Krieg um die richtige Weltsicht wurde am Realismus-Begriff gezogen, bis wenig davon blieb. Diente er dem Westen mal als Garant von Objektivität, mal als Feindbild der Abstraktion, nutzten ihn sozialistische Kulturapparate zur Forderung eines ‚wahrheitstreuen‘ Gesellschaftsbildes. Auch wenn diese Auffassungen durchaus nachleben, sowohl der politische wie der erkenntnistheoretische Wert des ästhetischen Realismus sind heute fraglich. Antirepräsentationalisten wie Richard Rorty sehen tief am Grunde der Realität nichts als das, was wir selbst dort hin gelegt haben. Kein Wort, Buch oder Bild kann für sie wahrer und wirklicher sein als ein anderes. Ob etwas nur so aussieht wie es aussieht, oder so aussieht wie sie auch wirklich ist, interessiert sie weit weniger als wie man dahin kommt, möglichst viele Wirklichkeiten gelten zu lassen und die eine oder andere vielleicht zu ändern.

Wir zeigen künstlerische Positionen und Projekte, die Realitätsbezug suchen und herstellen, ohne Realismus zu betreiben. Wirklichkeitsnähe bedeutet für sie weder Wahrheits- noch Darstellungstreue, sondern Gepflogenheiten im Sehen und Verstehen. Eingeschliffene Überzeugungen letztlich, von denen wir uns leiten lassen, wenn wir auf die Welt schauen. Überzeugungen, die uns Orientierung geben, solange wir ihnen folgen und die uns ins Schlingern bringen, wenn wir ihnen nicht mehr trauen. Genau das Misstrauen gegenüber eintrainierten Überzeugungen aber, wie herum die Welt nun eigentlich richtig aussieht, wie und mit welchem Ziel Realitäten organisiert und bebildert werden und wie man sich ihnen gegenüber kritisch positioniert, das hat im zweiten Nachwendejahrzehnt gesellschaftlich orientierte Kunst in Leipzig beschäftigt. Diese ist durchzogen von konzeptionellen Brüchen und Schnitten, die nicht daher rühren, dass Bild und Wirklichkeit auseinander fallen, sondern die soziale Verständigung über gemeinsame Wirklichkeiten.

Die rund 50 gezeigten Werke sind reich an Einflüssen. Der speziellen Leipziger Realismus-Tradition aus DDR-Tagen, gleich wie man diese auch politisch einschätzt, folgten die gezeigten Künstlerinnen und Künstler methodisch nicht. In sofern zeigt die Ausstellung auch die Abkehr von einem lokalen Modell kritischen Gesellschaftsbezugs, das der ‚Leipziger Schule‘ der Siebziger Jahre ihre Brisanz gab. Nach dem Mauerfall steht deren fortdauernde Bildsprache jedoch eher für eine Kunst der Innerlichkeit, nicht der sozialen Orientierung.

Teil 3: Issues of Empathy

ANTIREPRESENTATIONALISM folgt dem Vorschlag des amerikanischen Philosophen Richard Rorty, wir sollten unser Streben nach Wahrheit und Objektivität eintauschen gegen die Fähigkeit zur Empathie und eine Leidenschaft für sozialen Fortschritt. Die ersten beiden Teile der Ausstellungstrilogie wollten zeigen, dass wir weder die Geschichte noch die Wirklichkeit einfach nur vorfinden, fertig und unverrückbar.

Denn beide hängen von der Perspektive ab, die wir einnehmen. Sie sehen anders aus, je nachdem von wo man schaut. Dass verschiedene Bilder der Welt in der wir leben gleich richtig sind, daraus zieht ISSUES OF EMPATHY die Konsequenz, die auch Richard Rorty zog: Statt uns zu sorgen, ob unserer Repräsentationen der gesellschaftlichen Realität mit dieser auch übereinstimmen, sollten wir uns lieber darum sorgen, wie diese Gesellschaft solidarischer wird als sie derzeit ist.

Empathie ist die Fähigkeit, uns in die Position und die Gefühle eines anderen Menschen hinein zu versetzten und die Welt aus dessen Sicht zu sehen. Dieses Einfühlungsvermögen galt Rorty als Voraussetzung jedes solidarischen Gemeinwesens. Unsere Empfindsamkeit zu trainieren, uns gegen das Leiden anderer aufzubringen und unsere sozialen Hoffnungen zu mobilisieren, war für ihn das einzig politisch relevante Projekt einer zeitgemäßen Philosophie. Für die Kunst könnte gleiches gelten. ISSUES OF EMPATHY spürt dieser Empfindsamkeit in einer historischen Situation nach, in der auf die massenhafte Mobilisierung sozialer Hoffnung 1989 allmählicher Perspektivverlust sowohl im Privaten als auch im Öffentlichen Leben gefolgt war: Leipzig im zweiten Jahrzehnt nach der Friedlichen Revolution.

Die Kunst, die wir zeigen, notiert die zunehmende Entsolidarisierung der Menschen in Ost- wie in ganz Deutschland. Selten tut sie es direkt, die Sujets und Orte liegen oft anderswo. Belgisch-Kongo, das urbane Athen, die Stilisierung der RAF, ein Berliner Stricherkino, Wunschproduktion im Internet. Im Überblick zeigt sich aber, so unsere Hypothese, wie genau diese Künstlergeneration die mentalen und die emotionalen Risse im Sozialen verzeichnet, die das zweite Nachwendejahrzehnt durchziehen. Nachdem der real existierende Sozialismus die Solidarität verriet, der er sich verdankte, und der Spätkapitalismus nicht einmal merkte, dass er auf gar kein Gemeinwesen mehr rekurrierte (drum seine Krise), blieb die Frage offen, welche Perspektive eine gesellschaftlich orientierte Kunst einnehmen könnte.

Vielleicht eine Perspektive der Nähe ohne Überbau. Eine Position geteilter Unsicherheit und Skepsis wie auch geteilter Sehnsucht. Die Nähe zu anderen, die Nähe zu einer Gemeinschaft, die Nähe zu Standpunkten, die gar nicht die eigenen sind, brauchen kein ideologisches Hinterland. Man fühlt sie oder man fühlt sie nicht. Solidarität, so Rorty, lässt sich nicht verordnen. Von keinem politischen Regime und von keiner philosophischen Ethik. Aber die Begengnung mit Literatur, Musik, Kunst, erlaubt und trainiert Gefühle solcher Nähe am Modell, im Schutzmantel ästhetischer Erfahrung. Der Schritt aus der Ästhetik in gelebte Solidarität bestünde darin, diese Erfahrung zu politisieren, was soviel hieße wie der eigenen Fähigkeit zur Empathie eine gesellschaftliche Dimension zu geben.

Alexander Koch
September 2009/Januar 2010


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