In den letzten Wochen erreichten uns knapp 50 Briefe aus Santiago de Chile. Ihr Inhalt: Rund 150 Quadratmeter Stoff, zusammengefaltet für den Versand in FedEx-Umschlägen. Es sind die Einzelteile von zwölf Werken Eugenio Dittborns aus der Zeit von 1986 bis 2014. Pinturas Aeropostales – Airmail Paintings.
Bilder, die entstanden, um von Chile aus per Luftpost um die Welt zu reisen und nun bei uns Station zu machen. Malerei, Siebdruck und Textilcollagen auf je drei Quadratmeter großen Baumwoll-, Filz- und manchmal auch Papierbahnen, die wir aus den Umschlägen ziehen, entfalten und auf unseren Wänden zusammenfügen. Es wird ein monographischer Überblick über das Werk des 1943 geborenen Chilenen, sein erster Solo-Auftritt in einer europäischen Galerie.
Dauernd sind zahllose Bilder unterwegs um den Globus, ob analog oder digital, und oft packt man sie dazu irgendwo ein und woanders wieder aus. Dittborns Kunst aber ist das Reisen immanent. Die Zirkulation ist ihr Ziel, das Verpacken und Verschicken bestimmt ihre formale Struktur, und sie verbindet fortwährend Zeichen, Zeiten und Menschen und trennt sie wieder. Das ganze Werk ist ein permanenter Transitzustand. Ab 1986 nutzte Dittborn das internationale Postsystem, um der geografischen und kulturellen Isolation Chiles während der Pinochet-Diktatur zu entgehen und am weltweiten Ausstellungsbetrieb teilzunehmen. Seither treffen seine Briefe bei Museen und Biennalen wie Bumerangs ein, entfalten sich zu teils monumentalen Bildformaten und kehren wieder zurück nach Santiago. Jede Ausstellung Dittborns ist die Verschnaufpause einer an sich rastlosen Werkform.
Nutzt man diesen Moment und liest die eingetroffene Post, beginnt eine weitere Bewegung: Dittborn mobilisiert historische Quellen und lässt ihre Echos über seine Stoffbahnen laufen und sich an deren Materie und Zeichenbestand brechen. Chiles Vergangenheit wurde immer wieder konfisziert. Spanische Eroberer, das Pinochet-Regime und die nachdespotische Amnesiekultur löschten Erinnerungen und Individuen aus den jeweiligen Erzählschablonen, die sie über das Land und seine Bevölkerung legten. Im Siebdruckverfahren lässt Dittborn Texte und Bilder vergangener Jahrzehnte aus Zeitungen und Büchern wiederkehren. Mit ihnen bringt er Spuren von Menschen neu in Umlauf, die von historischen Prozessen erfasst und herumgeschubst wurden, deren Identitäten und Geschichten man einkassierte oder die schlicht verschwanden.
Er sammelt Partikel eines Archivs, das keines ist: Gesichter, Körper(teile) und Berichte von Indigenen, vermeintlich Kriminellen, Strangulierten, Mumien, Insassen einer Psychiatrie. Auf den Airmail Paintings gehen sie in eine postkoloniale – bzw. dekoloniale und nichtlineare – Chronik ein, die voller Risse und Leerstellen ist. Risse, die Dittborn nicht schließt, sondern multipliziert und vergrößert. Populäre Karikaturen und deren humorige Abstraktion unglücklicher Umstände lösen die historischen Kontexte auf und verschieben manch reale Tragik gar auf die Ebene universeller Possen. Wie ein Refrain durchlaufen die Bilder zudem Kopien aus Lehrbüchern für den Zeichenunterricht, in denen ein Bett, ein Haus, ein Wagen wie globale Archetypen der Verortung eines Subjekts in Raum und Zeit anmuten. Nur sind sie leer, die Insassen fehlen.
Die Airmail Paintings entwerfen das individuelle und kollektive Gedächtnis als einen Ort voller asynchroner Rhythmen von Verbergen und Bezeugen, Verdrängen und Vermuten, Behaupten und Widersprechen, Sterben und Schmunzeln. Das sind auch die Rhythmen von Dittborns Malerei, die schalkhaft Geschichte daran hindert, fertig geschrieben zu werden, weil sie letzten Worten ebenso misstraut wie allen anderen fixierten Zuständen, auch dem eigenen. Deshalb reisen diese Bilder und erhalten dabei die Brüche, die Verluste, auch das Nichtwissen aufrecht und lassen sie im Ausstellungsbetrieb kreisen. Vermittelt durch Boten, die auch am Ende unserer Ausstellung vor der Tür stehen werden, um Geschichten wieder mitzunehmen, die allen gehören und niemandem.