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Willst du eine Zukunft? Ein Protokoll für neue kulturelle Gemeingüter

Dass wir dringend gute Lösungen für plantare Probleme brauchen, weiß heute jeder. Doch dann klingt es immer etwas anrüchig, wenn irgendwer behauptet, er kenne eine wirklich gute Lösung für ein planetares Problem. Man gerät schnell in Verdacht, anmaßend oder, wahrscheinlicher noch, ein Populist zu sein. Deshalb habe ich mich heute morgen gefreut, als ich ein Interview mit Judith Butler im New Yorker las, in dem sie sagt: Sometimes you have to imagine in a radical way that makes you seem a little crazy, that puts you in an embarrassing light, in order to open up a possibility that others have already closed down with their knowing realism. I’m prepared to be mocked and dismissed[1]. Auf geht’s also. Denn ich werde sicherlich etwas lächerlich aussehen, wenn ich sage, dass mir zumindest eine gute Idee für planetare Probleme einfällt. Es ist nicht meine Idee. Aber ich finde sie gut.

Les Nouveaux Commanditaires 

Ich hörte 2007 zum ersten Mal davon. In einem Berliner Straßencafé treffe ich François Hers, einen belgischen Künstler aus Paris. Er erzählt mir, dass eine große private Stiftung, die Fondation de France, die innovative Projekte von Medizin bis Bildung fördert, 1989 einen neuen Ansatz für eine nachhaltige und soziale Kulturförderung suchte und man ihn fragte, ob er eine Idee habe. Er hatte eine: Er schlug vor, ein Programm aufzusetzen, das es Bürgern ermöglichen würde, zeitgenössische Künstler mit neuen Werken zu beauftragen. Kulturmediatoren (cultural mediators and public producers) sollten sie dabei begleiten, um das nötige Know-how beizusteuern. Er führt aus:

Seit DADA und der Russischen Avantgarde war klar, dass die Kunst an jedem Ort, zu jeder Zeit, in jeder Gestalt und zu jedem Thema ihre Formen finden und ihren Platz in der Gesellschaft einnehmen kann. Und trotzdem sahen wir, dass fast alles, was wir danach als Künstler taten, letztlich in Galerien und in Museen landete. Dass es schlussendlich keinen anderen Ort für uns gab als den Kanon der Institutionen und einen Markt, dessen Bedürfnisse ungewiss sind und mit denen der meisten Menschen nichts zu tun haben. Die Autonomie der Kunst, bzw. die der Künstler, war irgendwann zur Sackgasse geworden. In den westlichen Kulturen setzte sich seit der Romantik das Prinzip durch, dass Künstler nichts und niemandem als ihrer eigenen inneren Notwendigkeit, Neues zu schaffen, verpflichtet seien. Ihre Unabhängigkeit von Auftraggebern und äußeren Regeln, was sie wie zu tun und zu lassen hätten, stand synonym für die Unabhängigkeit freier Bürger, die autoritäre Regime abgeschüttelt und allmählich Demokratien aufgebaut hatten, in denen sie ihre eigenen Belange selbst verwalteten.

Aber dieser historische Sinn der Kunstautonomie hatte sich irgendwann aufgebraucht. Mit der Globalisierung des Kunstbetriebs wurden Konzepte der bürgerlichen Moderne und ihre Autonomiediskurse zu einem internationalen Standard – aber in den Achtzigerjahren war uns klar, dass die innere Notwendigkeit des Einzelnen für das demokratische Projekt nicht mehr zentral sein konnte. Jetzt ging es um die Frage, wie einigermaßen frei gewordene Menschen überall auf der Welt ihre Wege finden, selbstbestimmt zusammenzuleben. Auf diese Frage konnte es nur kollektive Antworten geben. Das vertrug sich nicht länger mit der Idee, dass sich die Künstler alleine den Kopf zerbrechen sollen, welche Kunst die Gesellschaft wohl benötigt, welche Formen ihr angemessen sind, welche Kritik sie braucht, welche Repräsentation.

Also wollte ich als Künstler den Spieß umdrehen: Soll uns doch die Gesellschaft selber sagen, was sie braucht! Jeder Einzelne. Wofür braucht ihr die Kunst, und uns Künstler? Was ist eure Nachfrage (Demand)? Was erwartet ihr von der Malerei, von der Architektur, der Literatur, der Musik, dem Film? Meine intime Notwendigkeit spielt keine Rolle. Ich will wissen, was eure Notwendigkeit ist! Was wollt ihr erreichen? Und was können wir als Künstler dafür tun? Und so entstand das Protokoll der Neuen Auftraggeber. Das Entscheidende daran ist, dass es mit dem Mediator einen neuen Akteur auf die Bühne des Kunstbetriebes schickt, der Bürger dabei unterstützt, Künstler mit Projekten zu beauftragen, die sie für wichtig halten. Wir brauchen eine vermittelnde Instanz, damit Bürger und Künstler sinnvoll zusammenfinden und kooperieren können.

Und damit war die Idee da: Eine neue Kunst im Bürgerauftrag als Handlungsmodell für eine demokratische Kulturproduktion. Es hatte zwar in der Geschichte immer wieder Kunstwerke gegeben, die von Bürgern beauftragt worden waren, die nicht zur kulturellen, wirtschaftlichen oder politischen Elite zählten. Aber es hatte noch nie einen systemischen Ansatz gegeben, eine generelle Politik (a general policy), damit Menschen ohne besondere Privilegien eine aktive, entscheidende Rolle im Kunstgeschehen spielen konnten. Die Fondation de France nahm Hers Vorschlag an. 1990 entstanden die Nouveaux Commanditaires[2] als ein dezentrales Netzwerk von Mediatoren und gemeinnützigen Organisationen, die unabhängig in ihren Regionen mit Bürgern in Dialog traten und sie fragten, was sie sich von der Kunst erwarteten. Bald luden Menschen aus Dörfern, kleinen Städten und Metropolenregionen quer durch ganz Frankreich Künstler ein, vor Ort in ihrem Auftrag Projekte zu entwickeln, die auf lokale Herausforderungen neue Antworten geben sollten.

Kommentar zum Protokoll der Neuen Auftraggeber

Protokolle regeln viel. In der analogen und in der digitalen Welt. Sie sorgen dafür, dass das Internet funktioniert und legen fest, was Milliarden von Menschen wann und wie sehen. Die Protokolle diplomatischer Dienste bestimmen, wie politische Hierarchien in formale Abläufe gebracht werden und sich ihre Repräsentation für unsere Augen vollzieht. Es gibt die geschriebenen Protokolle einer kirchlichen Trauung und die ungeschriebenen eines Tinderdates – Protokolle ordnen weite Teile des Zusammenlebens, der (Re-)Produktion, der Konsumption, der Repräsentation. Sie sollen funktionale Regeln sicherstellen, Fehler vermeiden, Vertrauen und Verlässlichkeit herstellen. Jedes neue Protokoll, das als solches anerkannt wird, ist damit ein tiefer Eingriff in die soziale Welt und ein Werkzeug zur Steuerung künftiger Prozesse.

Das Protokoll der Neuen Auftraggeber ist solch ein Eingriff und solch ein Werkzeug. Jedoch nicht in Form einer Norm oder Festlegung, sondern als Vorschlag für eine gemeinsame Praxis von Menschen, die sich diese Praxis wünschen, sie zusammen organisieren und, falls sie dabei miteinander in Konflikt geraten, diesen Konflikt selber zu lösen haben, was bedeutet, dass es keine äußere Instanz gibt, die – helfend oder regulierend – eingreift. Das Protokoll der Neuen Auftraggeber kennt keine Autorität außerhalb der am Prozess beteiligten Akteure. Dabei ist es insofern universell, als es in jeder Gemeinschaft von Menschen, an jedem Ort und zu jeder Zeit, praktiziert werden kann. Es ist rechtlich als ein Kunstwerk verfasst, dass sich jeder aneignen kann, vergleichbar dem Modell der Creative Commons License. Und eben das wird heute fleißig getan.

Die Geschichte der Selbstbestimmung hat kein Anfang und kein Ende

Als 1992 die ersten Mediatoren von Haus zu Haus zogen, um Einwohner dafür zu begeistern, Kunstwerke in Auftrag zu geben, war es zunächst nicht mehr als ein Experiment, das viele belächelten. Interessierten sich die Bürger nicht für wichtigere Dinge als ausgerechnet zeitgenössische Kunst? Und warum sollten sich Künstler überhaupt mit den Anliegen von Bürgern befassen? Aber die Geschichte kultureller Selbstbestimmung geht so weit zurück wie menschliche Kulturen selbst. Die Zweifel waren müßig. Bald gingen Menschen von selbst auf die Mediatoren zu, suchten das Gespräch, es entstand Projekt nach Projekt. Nach 18 Jahren, zur Jahrtausendwende, waren es bereits viele Dutzend, und aus der Vogelperspektive betrachtet standen sie alle in einer langen Tradition der Selbstermächtigung, die historisch gesehen Generation für Generation durchzieht. 2002 gab es erste Projekte der Nieuwe Opdrachtgevers in Belgien, bald darauf der Nuovi Committenti in Italien, dann den Concomitentes in Spanien. Die Idee sprach sich herum. In immer mehr Regionen Europas inspirierte das Protokoll Kunstvermittler dazu, als Mediatoren aktiv zu werden und Bürgeraufträge zu unterstützen, und es inspirierte Bürger, Künstlern in ihren Ateliers zu sagen, was ihre Wünsche, Ziele und Probleme sind.

In Deutschland gründete sich 2007 der Neue Auftraggeber e.V. in einem Berliner Hinterzimmer. Einige Kuratoren und Kulturinteressierte waren die ersten Mitglieder, unter ihnen ich. Etwas erstes Geld kam aus Frankreich, dann aus Bonn, aus Lübeck, aus Hamburg, Potsdam. Zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig. Wir machten mit kleinen Budgets als Mediatoren erste Pionierprojekte und lernten zusammen mit den Bürgergruppen, den Auftraggebern, und mit den Künstlern, den Auftragnehmern. Viel ging schief, manches ging ganz gut. Ein Protokoll mag kurz, klar und einfach sein. Die entsprechende Praxis ist es nicht ohne weiteres. Heute, 2020, sind wir etwas weiter. In unserem Berliner Büro hängt das Protokoll als Poster an der Wand. Wir arbeiten als Team am runden Tisch und koordinieren das Programm in Deutschland. Mit Unterstützung der Kulturstiftung des Bundes und vielen weiteren Partnern begleiten wir derzeit neun Mediatoren, und mehr als hundert Bürger haben sich in Ost und West zusammengeschlossen, um in ihren Dörfern und Städten neue Werke und Projekte in Auftrag zu geben.

Wir kennen neue Kollegen in der Schweiz, in Spanien, in Kamerun, in Schweden und im Libanon. Stand heute sind international 52 Mediatoren in elf Ländern aktiv. Mittlerweile sind weltweit über 500 Projekte abgeschlossen worden, jedes einzelne von ihnen autonom in Form und Inhalt. Zehntausende Bürger stehen hinter diesen Projekten, Bürgermeister und Stadtverwaltungen, Sponsoren und Stiftungen, Vereine und Verbände waren Wegbegleiter und auch Finanzierer. Viele der beauftragten Künstler sind weithin bekannt. Manche der Projekte sind berühmt geworden, andere gescheitert. Weit über 100 Millionen Euro wurden ausgegeben, damit Menschen miteinander sprechen und aus ihren Gesprächen neue kulturelle Gemeingüter entstehen, die niemand von oben befohlen, keine Kommission bestellt und klein Parlament beschlossen hat, und die sämtlich im Eigentum von Gemeinschaften sind.

Das Protokoll für eine neue Kunst im Bürgerauftrag funktioniert. Längst gibt es Aufträge, die über den Bereich der Kultur hinausgehen. Seit einigen Jahren entstehen neben den künstlerischen Projekten auch wissenschaftliche Forschungen, die bislang noch niemand unternommen hat. Forschungen im Bürgerauftrag. In der Architektur und Stadtplanung, in der Konflikt- und Entwicklungsarbeit, im Bildungssektor und in der Musikproduktion: das Modell Neue Auftraggeber ist in der Diskussion als eine unter den neueren Methodologien – man kann es auch eine Kulturtechnik nennen – demokratischer Sinnproduktion im 21. Jahrhundert.

Gerade weil das Protokoll seiner Form nach universell ist (letztlich ist es nicht mehr als der Vorschlag zu einem bestimmten Beziehungsmodell, das einem gefällt oder nicht), und die Neuen Auftraggeber keine Organisation sind, sondern ein loses Netzwerk unabhängiger Akteure, die eine gemeinsame Idee miteinander teilen, mehrt sich das Interesse in Regionen der Welt, die kolonialer Übergriffe und Entwicklungshilfen überdrüssig sind, nicht aber sinnvollen Formen der Kollaboration und des gemeinsamen Handelns.

Es ist eine locker verbundene Community of practitioners, in der jeder Einzelne wiederum eingebunden ist in weitere lokale, regionale, nationale und internationale Netzwerke aus Bürgerinitiativen, sozialen Bewegungen, Politik, Förderlandschaft, Wirtschaft, Medien, Künstlern, und Fachkollegen. Das internationale Programm der Neuen Auftraggeber ist damit heute ein breitgefächertes Geflecht aus komplexen individuellen, kollektiven und institutionellen Beziehungen, das sich in seiner Gesamtheit nicht darstellen lässt. Gleichwohl gibt es ständige Knotenpunkte des Austauschs zwischen den Akteuren, und Debatten und Diskurse, die sie verbinden, sowie gemeinsame öffentliche Plattformen. Das mag kompliziert klingen, ist es aber eigentlich nicht. Es liegt in der Natur dezentraler, und zumal planetarer Netzwerke, dass sich ihre Komplexität nicht reduzieren lässt, warum auch. Politik und Fördergebern mag das nicht immer gefallen –zivilgesellschaftlichen und demokratischen Initiativen hingegen schon.

Bottom-Up – To the Planetary?

Wenn ich Vorträge über die Neuen Auftraggeber halte, werde ich regelmäßig gefragt, ob das Protokoll der Neuen Auftraggeber auch in Nigeria, Venezuela, Russland, China, Liechtenstein oder Ostdeutschland funktionieren würde. Meine Antwort ist dann immer Ja. Weil alle Initiativen, die sich an das Protokoll anlehnen, lokal sind. Sie entstehen vor Ort, organisieren sich inhaltlich selbst, und alle Entscheidungen, was wie getan werden will, mit wem und mit welchen Mitteln, werden lokal getroffen. Solche Initiativen können freilich scheitern, und sie tun es auch dann und wann, und meistens dann, wenn sie politisch verhindert werden, was ein Problem ist, oder sich nicht finanzieren lassen, was ein anderes Problem ist. Beide Probleme sind ernst und systemisch, aber nicht prinzipiell.

Denn überall gibt es Menschen, die eine Zukunft wollen, die anders ist als die Gegenwart. Daher sehe ich sehe keinen Grund, warum das Protokoll der Neuen Auftraggeber nicht prinzipiell an jedem Ort des Planeten funktionieren könnte[3]. Zumal es für viele Gesellschaften letztlich nicht viel mehr bedeutet, als den unzähligen Formen gemeinschaftlichen Tuns nur eine weitere Spielart hinzuzufügen, die weder besonders kompliziert, noch teuer ist, aber gut ins 21. Jahrhundert passt. Und für andere Gesellschaften, in denen es wenig kulturelle Infrastruktur gibt, bieten die Neuen Auftraggeber um so mehr ein Modell, um Strukturen zu schaffen, die in die Zukunft weisen, in eine demokratischere Zukunft.

 

Wie geht es also weiter? Es braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, dass das bestehende Netzwerk der Neuen Auftraggeber in den kommenden zehn Jahren einige hundert Projekte im Bürgerauftrag hervorbringen und damit als Kulturtechnik weiter konsolidieren wird. Es braucht nur ein wenig mehr Fantasie um sich vorzustellen, dass bei gegebener Finanzierung und dem nötigen politischen Willen weitere Mediatoren in weiteren Regionen der Welt Neue-Auftraggeber-Initiativen starten. Etwas mehr Fantasie braucht es bereits, um sich eine mögliche Situation im Jahr 2050 vor Augen zu führen: Wenn in den vergangenen 30 Jahren mit einer gemäßigt exponentiellen Steigerung[4]500 Projekte entstanden, dann könnten in den kommenden 30 Jahren bei einer stagnierenden Größe des Netzwerkes weitere 1.000 Projekte hinzukommen, bei einer Fortsetzung des zurückliegenden Wachstums von jährlichen neuen Initiativen rund 2.000 Projekte, bei Betrachtung von Fußnote 3 könnte diese Zahl aber auch ganz woanders liegen. Was uns wieder zu Judith Butler bringt.

Denn es geht natürlich nicht um Zahlen und um Wachstum. Es geht darum to open up a possibility that others have already closed down with their knowing realism. Die Suche nach planetaren, und zumal planetaren demokratischen Handlungsansätzen ist schwierig. Das Planetare suggeriert sogleich eine Nähe zum Universellen, und das Universelle ist lange schon kolonial korrumpiert. Trotzdem brauchen wir universelle – planetare – Konzepte, um voranzukommen. Jede Idee, die darauf hinausläuft, dass Leute da wo sie leben selber entscheiden, wie sie leben wollen, finde ich genauso richtig wie jede Idee, wie sich diese Gemeinschaft einschreiben kann in ein größeres Bild, in dem möglichst viele vorkommen, die den gleichen Planeten bewohnen. Dieses Bild wird sich ohne die Kunst nicht zeichnen lassen. Das Protokoll der Neuen Auftraggeber ist ein Weg, damit dieses Bild so entsteht, dass nicht nur möglichst Viele darin vorkommen, sondern tatsächlich auch möglichst viele hinter diesem Bild stehen.

Zahlen sind wichtig, um der Politik und den Geldgebern des Planeten zu erklären, dass etwas machbar ist, zu welchen Kosten, und mit welchem möglichen Ergebnis. Man darf da nicht schüchtern sein. Falls eine Bottom-Up gewachsene Bewegung – und die Neuen Auftraggeber sind nur eine unter vielen – Aussicht hat, das Lokale, Regionale, und Nationale in eine größere gemeinsame Perspektive und Erzählung einzubinden, dann besteht auch eine Chance, jenseits globaler Großinstitutionen, oder parallel zu ihnen,­ voranzukommen mit dem großen Thema der Diversität, der kulturellen Identitäten, der Gegenperspektive zu nationalpopulistischen Angriffen. Ich würde nicht das Programm der Neuen Auftraggeber in Deutschland mit aufgebaut und in anderen Ländern vorgesellt haben, wenn ich nicht hoffen würde, dass diese gemeinsame Perspektive besteht.

Und sei es nur diese Perspektive: die Idee zu teilen, dass jeder ein Akteur der Geschichte sein kann und soll, und zwar in der Gemeinschaft. Die Idee zu teilen, dass wir in der eigenen Praxis als Mensch, Bürger, Künstler, Wissenschaftler usw. den Paradigmenwechsel vollziehen können, uns so weit wie irgend möglich der Autoritäten zu entledigen, auch der der inneren Notwendigkeiten. Es geht darum, die Interessen unserer komplizierten Gemeinschaften zu verstehen und es so tatsächlich zu schaffen, neue Allianzen zu bilden, die im kollektiven Interesse handeln, nicht allein im eigenen. Das klingt pathetisch? Ich sagte ja zu Anfang: I’m prepared to be mocked and dismissed.

Willst Du eine Zukunft?

Lionel Manga und ich sitzen einander gegenüber. Zwischen uns Mikrofone an Ständern, eine Flasche Wein und zwei Gläser. Wir befinden uns im Studio von Radio Nostalgie Cameroun in Douala, und sind live. Ich bin mit Hilfe des Goethe Instituts nach Afrika gegangen, um von den Erfahrungen der Neuen Auftraggeber in Europa zu erzählen. Gerade habe ich ins Mikrofon gesagt, dass die Idee der Neuen Auftraggeber in meinen Augen überall auf der Welt funktioniert. Weil es überall Menschen gibt, die etwas tun wollen, überall Künstler, die ebenso etwas tun wollen, überall mögliche Bürgeraufträge an diese auf der Straße liegen, und überall auch Geld, um sie umzusetzen, nur ist das Geld meist nur miserabel falsch verteilt.

Das mag schon sein, sagt Lionel, aber wenn wir gleich aus dem Studio gehen und die Leute auf der Straße fragen, was sie von ihrer Zukunft erwarten, werden sie uns antworten: „Nichts. Wir haben keine Zukunft.“ Ein Mediator der Nouveaux Commanditaires würde hier in Kamerun nicht so leicht auf Auftraggeber treffen, die etwas tun wollen. Weil sie nicht glauben, dass sie etwas tun können. Ich antworte ihm: In Deutschland würde uns mancherorts das gleiche passieren. Vielleicht sollten wir die Leute nicht fragen, was sie von der Zukunft erwarten – sondern ob sie eine Zukunft wollen, oder? Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand auf die Frage „Willst Du eine Zukunft?“ mit „Nein.“ antwortet. Und wenn jemand „Ja“ sagt, könnten wir sie als nächsten fragen: „Und welche Zukunft willst Du?“ Vielleicht kämen wir damit weiter. Lionel findet die Idee ganz gut und wir trinken ein Glas Wein, während Werbung eingespielt wird.

Mir ist die Szene im Gedächtnis geblieben, denn diese kleine Wendung in der Fragestellung machte für Lionel und mich einen Unterschied im weiteren Gespräch. Nicht nur den zwischen Haben und Wollen, Realitätssinn und Möglichkeitssinn. In der Frage „Willst Du eine Zukunft?“ schwingt noch mehr. Ein Gefühl von Ermächtigung klingt mit, wenn man sie leise vor sich hinspricht, beinahe schon ein performativer Akt. Will ich eine Zukunft? Ja, ich will. Damit ist fast schon eine Entscheidung getroffen, beinahe schon etwas getan. Und die nächste Frage, welche Zukunft genau man denn wollen würde, wenn man sie sich denn wünschen dürfte, drängt fast von allein auf Beantwortung, macht sich mit einem Mal dringlich. Etwas will getan werden, könnte morgen getan sein. Und so wird die Zukunft – vielleicht wieder – zum Projekt.

[1] The New Yorker online: “Judith Butler wants us to reshape our rage”, by Masha Gessen, Feb. 9, 2020

[2] Ins Englische lässt sich Nouveaux Commanditaires nur etwas unglücklich als New Patrons übersetzen. Je nach Land und Sprachraum heißt es Neue Auftraggeber, Nuovi Committenti, Concomitentes, Nieuwe Opdrachtgevers, Nya uppdragsgivare, usw.

[3] Erste Pläne dafür entstanden bislang formell oder informell in Kamerun, Tunsien, Nigeria, Südafrika, und dem Libanon. Akteure aus Holland, Österreich, Polen, Kroatien, Griechenland, Island, USA, Argentinien, Indien, China, Australien, Namibia, Sudan, Senegal und dem Irak traten mit dem Netzwerk der Neuen Auftraggeber in Kontakt, um über die Adaption des Protokolls in ihren Regionen zu sprechen. Verschiedentlich wurden oder werden Pionierprojekte geplant. Die maßgebliche Hürde dabei ist in der Regel eine fehlende Finanzierung.

[4] Ca. 25 abgeschlossene Projekte in den 1990er Jahren, 150 in den 2000ern, 325 in den 2010ern. Genauere Zahlen gibt es nicht, da eine systematische Erfassung aller Projekte und ihrer Daten erst Ende 2020 abgeschlossen sein wird.


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