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Stell dir vor.. – Nein danke? (Zur Krise der Vorstellungskraft)

Das höchste Gut einer Gesellschaft ist ihre Vorstellungskraft. Denn was sie sich nicht vorstellen kann zu sein, das wird sie auch nicht werden. Was sie nicht für möglich hält, wird nicht geschehen – zumindest solange nicht, bis sich das, was vorstellbar ist, verschiebt. Gesellschaftlicher Wandel ist wesentlich eine Entwicklung der kollektiven Einbildungskraft, eine Aus- und Umgestaltung des sozialen Imaginären.

Dieses Imaginäre ist ohne die Formen und Stimmen der Kunst und Kultur nicht denkbar, mehr noch: was ist die kollektive Einbildungskraft einer Gemeinschaft von Menschen anderes, als ihre Kultur?

Die Neuen Auftraggeber sind ein Weg, am Vorstellbaren zu arbeiten und dessen Grenzen zu erweitern. Indem Bürger*innen in Dörfern und Städten Künstler*innen damit beauftragen, neue Werke zu entwickeln, die unmittelbar ein Stück ihres Lebensumfeldes verändern oder starke inhaltliche Zeichen setzen, werden neue Dinge möglich, neue Perspektiven denkbar, der Raum des Vorstellbaren weiter.

Teilhabe führt nicht per se zu Gemeinsinn

Kultur und Politik demokratischer Gemeinschaften entspringen der gleichen Fantasie, dass freie und gleichberechtigte Menschen in geteilter Verantwortung ihre Welt zusammen in den Griff kriegen. Augenscheinlich hat diese Fantasie Schaden gelitten und ist mancherorts verschwunden. Die Formen politischer wie auch kultureller Repräsentation können den Glauben nicht länger mobilisieren, dass Wenige Viele angemessen vertreten. Gleichzeitig entsteht eine ungekannte Vielfalt neuer Formen der individuellen und kollektiven Selbstvertretung, die nach Wegen der eigenen Institutionalisierung (und Macht) suchen, und nach einem methodischen Upgrade von Mitsprache und Teilhabe, die der demokratischen Fantasie Leben einhauchen – oder auch anderen Fantasien.

Ein Dilemma besteht darin, dass der Wunsch nach mehr Mitbestimmung Akteure und Methoden quer durch das politische Spektrum antreibt und damit nicht per se auf mehr Gleichheit und weniger Gewalt hinausläuft. Demokratien bestehen aus Leuten mit allen möglichen mentalen und moralischen Couleurs, und aus dem Wettbewerb, welche Couleur sich wohl durchsetzt.

Hier kann die Kunst Verantwortung übernehmen, demokratische Fantasien zu mobilisieren. Im Wettbewerb der Mentalitäten können, und müssen, sich bürgerschaftliche Auftragsprojekte der öffentlichen Wahrnehmung stellen, ihre Gemeinnützigkeit selbst begründen, Mehrheiten bilden, Nachbarn und Politik überzeugen. Dabei können Projekte der Neuen Auftraggeber in das Dilemma geraten, dass einige wenige Bürger*innen Prozesse anstoßen, deren Folgen eine größere Gemeinschaft betreffen, ohne repräsentativ zu sein oder kollektiv entschieden. Das Engagement Einzelner als Motor für die Vorstellungskraft Vieler? Vor dieser Frage muss sich jedes Projekt rechtfertigen.

Partizipation versus Vertrauen

Wir lesen viel darüber, die Menschen würden der Politik, bzw. ihren Vertreter*innen, nicht mehr vertrauen. Wir lesen weniger darüber, dass Politiker*innen, aber auch viele andere Akteure aus der Kultur-, Behörden-, Stiftungs- und Wirtschaftslandschaft der Bevölkerung nicht vertrauen. Dabei könnte eben darin ein weiteres Dilemma der gesellschaftlichen Vorstellungskraft liegen: die wechselseitige Skepsis, ob man den anderen ernst nehmen kann.

Teilhabebegriffe – der Kunstsektor spricht eher von Partizipation – beinhalten oft wenig Umverteilung von Entscheidungsmacht. Böse Zungen sagen, die meisten Partizipationsangebote an Bürger*innen sind Top-Down abgestellte Mitmachcontainer, in denen Bürger*innen entlang festgelegter Regeln veranstaltet, statt ermächtigt werden. Wenn Menschen das spüren, meiden sie solche Container. Schenkt man ihnen mehr vertrauen und mehr Macht, kann es sein, dass sie den Container auseinandernehmen. Die Krise der Repräsentation hat einiges mit der Furcht vor den disruptiven Energien zu tun, die sich einstellen können, wenn Bürger*innen mehr echte Mitsprache erhalten. Ohne diese Mitsprache aber schwindet das Vertrauen in Repräsentationsapparate. Ein Teufelskreis?

Die Neuen Auftraggeber versuchen, diesen Kreislauf zu durchbrechen. In moderierten Bottom-Up-Prozessen wird Bürgergruppen ein Handlungsmodell angeboten, in dem sie nicht nur mitmachen, sondern selbst Entscheidungsträger sind und dabei unterstützt werden, finanzielle, künstlerische und politische Ressourcen für ihre Anliegen zu aktivieren und zu nutzen, um den eigenen Vorstellungen, oft auf ungewöhnlichen Wegen, ungesehene Gestalt zu geben. Glückt das, entsteht neues Vertrauen zwischen Bürgerschaft und Politik, Engagement und Verwaltung, „kulturellen Eliten“ und „Experten des Alltags“.

Investitionen sind nicht gleich Innovationen

Einer der wirksamsten Glaubenssätze von Fortschrittsgesellschaften ist die Forderung nach Innovationen. Märkte brauchen Neues. Aber wenn es um politische und kulturelle Innovationen geht, macht Neues Angst. Das mag nicht gleich einleuchten. Sehen wir es uns an: Innovationen brauchen Vorabinvestitionen und Zuversicht in den künftigen Nutzen, gleich Erfolg. Aber kultureller Nutzen und Erfolg sind bekanntlich schwer messbar, und im Zweifelsfall kann man sehr verschiedener Meinung sein, was wem nützt und wie. Institutionelle Förderinstrumente im kulturellen Sektor gehen in aller Regel mit harschen bürokratischen Reglements einher, denen nicht jeder gewachsen ist. Sie schließen das mögliche Engagement vieler Menschen aus.

Vor allem schließen sie mit ihren Zielvorgaben aus, dass Innovationen eine Chance haben, überhaupt zu entstehen. Gerade öffentliche Ausgaben müssen sich vor der Gemeinschaft begründen lassen – aber zugleich sind die methodischen Schritte und Sprünge, die echte Neuerungen benötigen, ohne eine relativ ergebnis-, und prozessoffene Bereitstellung von Ressourcen, kaum zu haben. So folgt viel Kunst und Kultur vorgenormten Handlungsmustern und reproduziert Standards, statt neue zu setzen.

Die offenen Prozesse in den Bürgeraufträgen der Neuen Auftraggeber können solchen Standards nicht folgen. Dabei häufen sich die Dilemmata. Wo Projektszenarien nicht festgelegt sind, Zeitabläufe nicht fixierbar, ja Künstlerauswahl und Budgetanforderungen lange unbekannt sind, weil all dies erst im Laufe der Projektentwicklung mit den Bürger*innen entsteht, ist Planungssicherheit ein Fremdwort und öffentliche Unterstützung Anfangs schwer zu bekommen. Die Förderung der Neuen Auftraggeber durch die Kulturstiftung des Bundes bildet hier eine Ausnahme von der Regel, die von Innovationsgeist ebenso angetrieben ist wie durch Risikobereitschaft.

Ein Blick auf die 500 Projekte, die bislang im internationalen Netzwerk der Neuen Auftraggeber entstanden, zeigt, dass vielen von ihnen tatsächlich innovativer Charakter zukommt, sozial oder ästhetisch, oder beides. Der gleiche Blick zeigt aber auch, dass viele Projekte erst durch ungewöhnliche Allianzen möglich wurden, und sich erst im Nachhinein als kluge Investitionen in gesellschaftlichen Zusammenhalt erwiesen, über deren Erfolg man zuvor nur hätte spekulieren können. Innovationen sind unabsehbar, sie brauchen Raum. Zumal in bürgerschaftlichen Teilhabeprozessen sind sie kaum steuerbar – so wünschbar sie sind. Dass stellt viele Förderer und Partner vor Herausforderungen.

Unbekanntes kennt man nicht

Hinter alldem liegt ein tieferes, grundlegenderes Dilemma in der Krise der gesellschaftlichen – oder mindestens der demokratischen – Vorstellungskraft. Es ist der simple Umstand, dass man das Unbekannte nunmal nicht kennt, aber braucht, um voranzukommen, während man Angst hat, vielleicht am falschen Ende rauszukommen. Die beste mir bekannte Metapher für diesen Umstand ist Richard Rorty’s Unterscheidung zwischen dem (politisch) Schönen und dem Erhabenen, das wir getrost mit dem ästhetisch Schönen und Erhabenen verknüpfen können.

Als Schön bezeichnet Rorty unsere Anstrengungen, innerhalb gegebener Verhältnisse „eine immer bessere, also auf ein menschenfreundlicheres Leben zielende Umordnung jetzt bestehender menschlicher Beziehungen und Institutionen anzustreben“. Bestrebungen also, in einem gegebenen Ganzen die Dinge so anzuordnen, dass sie besser aussehen als bisher. Demgegenüber bezeichnet Rorty das Erhabene als „die Suche nach Menschen und Institutionen von einer Art, über die wir keinerlei Einzelheiten angeben können, weil sie frei von Bedingungen sind, die wir uns noch nicht wegdenken können.“1

Hier scheint das Dilemma offensichtlich, und kommt auf einen entscheidenden Punkt: Kommen wir mit dem Statut Quo nicht weiter, müssen Änderungen her. Wenn kulturelle Teilhabe nach Wegen sucht, sich demokratisch zu erneuern, und dabei die qualitativen Ansprüche von Bürger*innen und die von Kulturproduzent*innen gleichermaßen zu berücksichtigen und zu würdigen sind, wird das Modell der Neuen Auftraggeber eines unter anderen, das zu diskutieren ist. Nimmt man es einmal ernst, verlangt es aber nicht nur nach „Institutionen von einer Art, über die wir keinerlei Einzelheiten angeben können, weil sie frei von Bedingungen sind, die wir uns noch nicht wegdenken können.“ Wir können uns auch die Bedingungen noch nicht wegdenken, die Bürger*innen heute und seit Jahrhunderten daran hindern, eine aktive, statt nur passive, Rolle in der zeitgenössischen Kulturproduktion zu spielen – zum Beispiel als Auftraggeber neuer gemeinnütziger Kultuzrgüter.

Umordnung der Repräsentation

Folgen wir der Rortyschen Metapher, wäre das Erhabene – einst eine Schlüsselkategorie im ästhetischen wie im politischen Diskurs der Moderne – eine innovative Anordnung von Dingen, die wir nicht wirklich verstehen können, innerhalb eines neuen Ganzen, das wir noch nicht kennen. Eine Welt aus Menschen, Institutionen und Beziehungen, die wir uns noch nicht vorstellen können. An dieser Stelle überlagern sich heute politische, kulturelle und ästhetische Diskurse und auch Praxen, die nach einer Vorstellungskraft fragen, oder sie hervorzubringen versuchen, die aktuelle Krisen- und Misstrauensgefühle überwinden könnten.

Doch da sich das Unbekannte nicht planen, das Unvorstellbare nicht konzipieren und beantragen, das Disruptive nicht kontrollieren, und die Zukunft nicht vorwegnehmen lässt, kollidieren an dieser Stelle die Einsicht, dass sich manches ändern muss im repräsentativen Mit- und Nebeneinander demokratischer Verfahrensweisen, mit der Sorge und der institutionellen Vernunft, dass das kollektive Imaginäre eine schwer steuerbare kulturelle Größe ist. Seine Wendungen sind umso ungewisser, je mehr man es dereguliert, und gleiches gilt für seine Formen der (Selbst-)Repräsentation. Muss Demokratie das aushalten? Freilich.

Seit die Neuen Auftraggeber vor 30 Jahren in Frankreich erfunden wurden, und seit sie sich nun auch in Deutschland als Kulturtechnik verankern, liegt ein Vorschlag auf dem Tisch, dem Unbekannten, Disruptiven, ja auch dem Nicht-Repräsentativen eine allgemein verständliche Gestalt zu geben, die zutiefst demokratisch ist. Jedem seine Stimme. Der Gemeinschaft ihre Formen, für die sie sich selbst entscheidet. Und den Künstler*innen ihre Chance, sich in den gesellschaftlichen Prozess gestaltend einzubringen.

Kann’s Kunst?

Es ist übergriffig, Künstler*innen zu sagen, was sie tun und leisten sollen. Und es ist übergriffig, von der Kunst zu erwarten, Probleme zu lösen, die andere haben. Aber. Die Geschichte der Zivilisationen, wo sie sich durch Kunst vermittelt, ist eine Geschichte dessen, was sich je vorstellen ließ als Bild von sich selbst, als Beziehung zum Anderen und zu der Umwelt, die alle umgibt. Als Vorstellungsproduktion waren die Künste noch in jedem gesellschaftlichen Prozess elementar. Das gilt es, auch politisch, zu unterstreichen.

Nehmen wir den Begriff der Wunschproduktion hinzu, kann der Kunst sehr wohl eine transformative Rolle auf dem Weg in ein Upgrade demokratischer Methoden und Fantasien zukommen. Nicht als Anforderungsprofil und gewiss nicht als Effizienz- und Erfolgskriterium. Aber vielleicht durchaus als ein Auftrag. Sowohl die Politik, als auch Bürger*innen und Organisationen der Zivilgesellschaft können durchaus der Kunst entgegentreten mit der Hoffnung, der Aufforderung, und dem Wunsch nach einem Imaginären, einem Möglichen, das unbekannte Wege findet auf der „Suche nach Menschen und Institutionen von einer Art, über die wir keinerlei Einzelheiten angeben können, weil sie frei von Bedingungen sind, die wir uns noch nicht wegdenken können.“

Die Neuen Auftraggeber, die Kunst im Bürgerauftrag, sie wachsen heute noch auf dem Boden besonderer Bedingungen, die einstweilen eine gesellschaftliche Ausnahme sind und keine Regel. Aber es ist den Gedanken wert, ob es nicht zur Regel, statt zur Ausnahme, werden könnte, dass Bürgerinnen und Bürger die Künstler*innen ihrer Zeit als Kollaborateure für gemeinsame gesellschaftliche Projekte gewinnen können, die der gesellschaftlichen Vorstellungskraft hinzufügt, was auch immer Menschen denken, das nötig sei und wünschenswert – vorstellungswert.

Alexander Koch, 2020
Erschienen in: Magazin der Kulturstiftung des Bundes, Halle 2020

1 Richard Rorty: Die Schönheit, die Erhabenheit und die Gemeinschaft der Philosophen, Frankfurt am Main, 2000, S. 33


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