Kontingenz, Ironie und Solidarität, dieses Buch von Richard Rorty, erschienen 1989, ist seit fast 20 Jahren die wichtigste Quelle für mein Denken über die soziale Funktion der Kunst. Und seit fast 20 Jahren wundere ich mich, wieso dieses Buch in der Kunstwelt so wenig gelesen wird.1 Denn es hilft uns ein großes Stück weiter, die Frage in ein sinnvolles Licht zu rücken, warum und wie die Kunst an der Gestaltung sozialer Wirklichkeit beteiligt ist. In Diskussionen über das Politische der Kunst, über ihre gesellschaftliche Relevanz und ihren gesellschaftlichen Auftrag, falle ich immer wieder auf Rorty zurück. Oft kopfschüttelnd, weil mir nicht einleuchtet, warum diese Diskussionen noch einmal um Probleme kreisen, die man nach Rorty nicht mehr haben muss und nicht mehr haben sollte. Ich werde Rortys Position rekapitulieren um vorzuschlagen, dass nach ihm über Kunst zu sprechen bedeutet, über Solidarität zu sprechen.
Die Kontingenz des Gemeinwesens
Rorty beschreibt eine dreifache Kontingenz: die Kontingenz der Sprache, die Kontingenz des Selbst und die Kontingenz des Gemeinwesens. Kontingenz meint, dass sich über diese drei Dimensionen des Sozialen nicht mehr sagen lässt, als dass sie aus bestimmten historischen Gründen wurden, was sie sind, ohne Notwendigkeit, letztlich ein Produkt der Zeit, das auch anders hätte ausfallen können. Rorty schildert die abendländische Kultur als eine lange Reihe von Versuchen, dieser Kontingenz ein Schnippchen zu schlagen, indem sich kluge Köpfe gegenseitig versichern, sie könnten, da sie rationale Wesen seien, durch ausreichendes Nachdenken und Debattieren zu wahren und endgültigen Aussagen über die Welt, das Sein und den Menschen gelangen: zu letzten Gründen, zu finalen Sätzen über das Wesen der Dinge, zu einem „abschließenden Vokabular“.2 In Rortys Augen war es Platon, der alle seine Nachkommen mit dem faszinierenden Gedanken ansteckte, einigen besonders begabten Denkern könnte es gelingen, so vernünftig zu sprechen und zu schreiben, dass ihre Worte nicht nur eine Beschreibung der Wirklichkeit lieferten, sondern eine Beschreibung der Wirklichkeit, wie sie wirklich ist3. Dieser verdoppelte Wirklichkeitsbegriff eines privilegierten Zugangs zu Wahrheit und Objektivität hat von der klassischen Metaphysik bis zur Analytischen Sprachphilosophie abendländische Intellektuelle dazu verleitet, in ihren Gesprächen mehr sehen zu wollen als nur die Wiederholung und Erneuerung von Symbolen und Metaphern, die sich vorangegangene Generationen ausgedacht haben, um kommunikativ miteinander klar zu kommen.
Rorty teilt die Faszination für Platons Idee. Geschult an Wittgenstein und an Deweys Pragmatismus meint er aber, wir sollten Platons Gedanken fallenlassen und unsere metaphysische Begeisterung bändigen. Er findet, wir4 wären besser dran, wenn wir das Konzept sprachlicher Repräsentation eintauschten gegen die schlichtere Vorstellung, dass wir Worte gebrauchen, um Probleme zu lösen. Rorty sieht in dem abschließenden Vokabular einer Person oder einer Gemeinschaft nicht mehr als deren aktuelle Fähigkeit, aus einem kontingenten Reservoir ererbter und neu hinzugefügter Sätze Aussagen zu bilden, mit denen sie sich bis auf weiteres identifizieren können und die so lange Verwendung finden, wie sie relativ reibungslos funktionieren. Ändern sich die Erfahrungen, die Herausforderungen und die Ziele einer Gemeinschaft oder eines Individuums, ändert sich deren abschließendes Vokabular. Sie nehmen Abstand von Aussagen und Überzeugungen, die sich überlebt haben und beginnen, sich selbst und ihre Lebensumstände anders zu beschreiben als bislang. Rortys Antiessentialismus läuft darauf hinaus, das Verständnis unserer eigenen Sprache von dem Phantasma zu befreien, sie verdanke sich höheren Instanzen als unseren eigenen Bedürfnissen und Absichten. Er votiert dafür, dass wir an Vokabularen arbeiten sollten, die diesen Bedürfnissen und Absichten gerecht werden, ohne so zu tun, als ginge es dabei um etwas Grundsätzliches.
Was für die Sprache gilt, gilt auch für das Selbst. Für Rorty ist das Selbst ein variables Netz aus idiosynkratischen Überzeugungen und Hoffnungen, die nirgends objektive Wurzeln besitzen und die wir größtenteils irgendwo aufgeschnappt haben. Eine Ansammlung von Erlebnissen und von erinnerten Bildern und Sätzen, die uns teils bewusst sind, teils nicht, und die wir unser Ich nennen. Subjektivität versteht er nicht als des Menschen inneren Kern, der sich ausgraben ließe, vorausgesetzt man kenne die Stelle, an der man zu graben hätte. „Tief unten in uns ist nicht mehr als das, was wir selbst (und andere, Anm. d. A.) dorthin gelegt haben.“5 In dem Streben nach persönlicher Autonomie sieht Rorty den Wunsch eines Subjekts, sich die Erzählungen anzueignen, in denen es vorkommt und die die Grenzen seines Selbstverständnisses markieren, und diesen Erzählungen neue Wendungen zu geben. Wir emanzipieren uns nicht von den Beschreibungen, die andere von uns verfasst haben, indem wir auf die vermeintliche Essenz unseres Daseins stoßen, sondern indem wir diese Beschreibungen umdeuten, variieren, und unvorhergesehene Passagen hinzufügen. Die Neubeschreibung des Selbst ist nicht die Geburt einer autonomen Subjekterzählung, sondern Kritik an den Motiven und Stilen all jener, die an unserer Geschichte mitgeschrieben haben.
Gleiches gilt für das Gemeinwesen – jedoch mit Konsequenzen, die schwieriger zu akzeptieren sind als die narzisstische Kränkung eines Selbstbewusstseins in Anbetracht seiner eigenen Kontingenz. Auch Gemeinschaften stehen Rorty zufolge auf nicht mehr als den Schultern beweglicher Erzählungen darüber, an welcher Stelle sie die Grenzen zwischen solchen Menschen ziehen, zu denen sie „Wir“ sagen, und anderen Menschen, die sie „die Anderen“ nennen. Aus antiessentialistischer Sicht gibt es keine Handhabe, bestimmte Formen von Gemeinschaft deshalb zu privilegieren, weil sie rational besser begründbar seien als andere und beim ziehen ihrer Grenzen dem Wesen des Menschen gerechter werden. Das gilt auch für die Demokratie. Vorstellungen von Gleichheit, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung sind nicht Ausdruck einer Vernunft, der es gelungen ist, die Prinzipien wahrer Humanität zu erkennen und auf der Höhe des richtigen Lebens anzukommen. Diese Vorstellungen sind Kulturgüter, die ihre Entstehung einer langen Reihe von sozialen Kämpfen und politischen Prozessen, Büchern und Kunstwerken, Disputen und Übereinkünften verdanken – und nicht etwa philosophischen Belegen dafür, dass Demokratien die richtige Art und Weise kollektiver Organisation verkörpern, während Nichtdemokraten diese Belege nicht wahrhaben wollen.
Berühmt ist in diesem Zusammenhang Rortys Dissens mit Jürgen Habermas über die Universalität der Menschenrechte. Während Habermas annimmt, in einer vernünftigen Kommunikationssituation würde jedwede Gruppe von Gesprächsteilnehmern zwangsläufig zu der geteilten Einsicht gelangen, dass jeder Mensch über unveräußerliche Rechte verfüge, sieht Rorty in solchen Rechten nicht mehr und nicht weniger als die normative Entscheidung einer relativ großen Gruppe von Leuten, in einer Welt leben zu wollen, in der solche Rechte von geeigneten Institutionen garantiert werden. Universell an ihnen ist nicht, dass sie jenseits von Raum und Zeit und unabhängig von juristischen Diskursen existieren, sondern dass sich irgendwann eine Mehrheit hinter die Idee stellte, sie voraussetzungslos allen Menschen zuzuschreiben. Vertretern anders lautender Überzeugungen entgegenzuhalten, sie lägen falsch und würden uns früher oder später beipflichten, wenn sie nur unbehelligt und lange genug grübelten, hält Rorty für aussichtslos. Er ersetzt die Unterscheidung zwischen richtigen und unrichtigen Auffassungen darüber, wie wir miteinander umgehen sollten, durch die Unterscheidung zwischen solchen Arten des Umgangs miteinander, die in den Augen einer Gemeinschaft in Einklang mit ihren Vorstellungen von einer lebenswerten Welt stehen, und anderen Arten des Umgangs, die diesen Vorstellungen widersprechen.
In den Augen mancher Kritiker gibt Rorty damit die Chance auf, einen verbindlichen moralischen Standpunkt einzunehmen, mit dem sich etwa demokratische Werte unabhängig vom jeweiligen historischen Kontext gegen Totalitarismen verteidigen ließen. Worauf könnte Solidarität mit Menschen fußen, die von anderen Menschen grausam behandelt werden, wenn es keine verbindliche Basis gibt, von der aus sich solcher Grausamkeit entgegentreten ließe? Tatsächlich glaubt Rorty nicht nur daran, dass sich keine ahistorischen Prinzipien ausmachen lassen, in denen wir unsere Worte, unser Selbstbild und unseren kollektiven Zusammenhalt ein für alle mal verankern können; er findet auch, dass wir solche Prinzipien nicht benötigen, ja, dass es ein Angriff auf die Demokratie sei, sie zu fordern. Die Beantwortung der Frage, wer wir sind, was wir denken sollen und wie wir handeln können, wird ohne den Rückgriff auf letzte Gewissheiten nicht etwa aussichtslos. Im Gegenteil. Wenn wir uns die Sehnsucht nach solchen Gewissheiten abgewöhnen, beginnt das offene Gespräch, in dessen Verlauf wir die für uns entscheidenden Fragen selbst beantworten und dabei zu dem Schluss kommen können, ein solidarisches Gemeinwesen für so wünschenswert zu halten, dass wir bereit sind, leidenschaftlich dafür zu streiten. Warum aber sollten wir überhaupt zu diesem Schluss kommen? Wenn nicht durch Gewissheit, wie sonst sollten wir zu der Auffassung gelangen, solidarisch sein zu wollen und Metaphern der Solidarität in unseren Wortschatz aufzunehmen?6
Erstens: Rorty beschreibt die intellektuelle Position, die ihm für eine demokratische und postmetaphysische Kultur vielversprechend scheint, indem er die Figur der „Liberalen Ironikerin“7 einführt. Ironikerinnen sind in Rortys Vokabular Menschen, die in ihren tiefsten Überzeugungen nicht mehr sehen als kontingente Artefakte und die dennoch Willens sind, unerschrocken für diese Überzeugungen einzustehen. Ironikerinnen glauben nicht daran, dass sie irgendwo ein Buch finden werden, in dem sich finale, ewig gültige Sätze darüber nachlesen lassen, wie sie mit sich und anderen umzugehen haben. Das hindert sie nicht daran, bestimmte Formen des Umgangs zu fordern und andere abzulehnen. LiberaleIronikerinnen treten laut Rorty für die Idee ein, dass die Vorstellung einer Gemeinschaft von Menschen, in der Freiheit, Macht und Vermögen so gleich verteilt sind wie irgendwie möglich, die beste Gemeinschaft wäre, die sich vorstellen lässt, und dass diese Gemeinschaft so viele Menschen umfassen sollte, wie irgend möglich. Liberale Ironikerinnen verschreiben sich dem Ziel, die Anzahl der Menschen, denen sie sich verbunden fühlen, so weit zu fassen, wie sie können. Dass dieses Ziel „nur eine Idee“ ist, tut der Überzeugung keinen Abbruch, diese Idee so gut zu finden, dass man sie zur Prämisse erklärt.
Zweitens: Damit das gelingt, schlägt Rorty vor, sollten wir unser privates Bedürfnis nach Autonomie und Gewissheit – die Hoffnung auf ein abschließendes Vokabular, das der eigenen Sprache, dem eigenen Selbst und den eigenen Zugehörigkeitsempfindungen eine unverrückbare Grundlage gibt – von dem öffentlichen Projekt einer sozialen Welt unterscheiden, in der Solidarität und Gleichheit die höchsten Güter sind. Er sieht weder eine Chance noch eine Notwendigkeit dafür, unsere idiosynkratischen Begehren, Vorlieben und Glaubensgrundsätze in Einklang zu bringen mit den Begehren, Vorlieben und Glaubensgrundsätzen aller anderen. Die Mitglieder der durch und durch säkularen Kultur, die ihm vorschwebt, würden in der Lage sein, ihre intimen Fantasien und metaphysischen Sehnsüchte als Privatsache zu betrachten und darauf verzichten, andere damit zu behelligen. Stattdessen würden sie es als vordringliches Ziel eines Gemeinwesens betrachten, Leiden jedweder Form und zu jedweder Zeit als das Schlimmste anzusehen, das Menschen einander antun können, und an einer Gesellschaftsformation zu arbeiten, die dieses Leiden minimiert.
Drittens: Derzeit scheint kaum eine Gesellschaft dieses Ziel de facto anzusteuern. Was die USA betrifft, machte sich Rorty wenig Illusionen. 1996 schrieb er: „Wenn ich zu wetten hätte, welches Land als nächstes faschistisch wird, würde ich wohl auf die Vereinigten Staaten wetten.“8 Der entscheidende Punkt für unser Thema ist aber, dass wir Rortys Ansicht nach soziale Grausamkeit nicht dadurch überwinden, dass wir objektive, rationale Gründe dafür finden, warum sie falsch ist, sondern dass wir eine Leidenschaft für die Vorstellung entwickeln, in einer Welt zu leben, in der Grausamkeit nicht vorkommt. Eine solche Leidenschaft werde nicht dadurch entfacht, dass einige Leute anderen Leuten weismachen wollen, sie hätten Beweise dafür gefunden, warum bestimmte Überzeugungen und Lebensweisen besser sind als andere. Entfacht werde sie vielmehr durch eine gesteigerte Sensibilität für die Gewalt und Entwürdigung, die uns und anderen widerfährt. Diese Empfindlichkeit mache es schwerer, fremde Menschen als Personen zu betrachten, die anders fühlen als man selbst und deren Glück weniger schwer wiegt als das Glück von Freunden und Nachbarn.
Viertens und letztens: Aus diesem Grund kann Rorty zufolge die Philosophie wenig zum Projekt eines solidarischen Gemeinwesens beitragen, solange sie sich als rationale Begründungsdisziplin begreift anstatt als ein Genre inspirierender Literatur: Als eine Sorte von Texten zwischen anderen Sorten von Texten, deren Relevanz nicht darin liegt, dass die einen der Wahrheit näherkommen als andere, sondern dass manche von ihnen eine Passion für soziale Veränderung entfachen und andere nicht. Rorty traut Romanen wie Vladimir Nabokovs „Lolita“ und George Orwells „1984“ zu, mehr Menschen empfindsam für das Leben, die Leidenschaften und die Qualen anderer Menschen zu machen als erkenntnistheoretische Schriften. Deshalb sollten Philosophen damit aufhören, in solchen Schriften nach Anhaltspunkten für etwas zu suchen, das unseren Ideen und Taten übergeordnet ist. Sie sollten ihre Arbeit stattdessen dem widmen, was Rorty Kulturpolitik nennt: Debatten darüber, welche Vokabulare ihnen brauchbar erscheinen für die Umsetzung gemeinsamer sozialer Ambitionen, welche Kräfte auf diese Vokabulare Einfluss nehmen, und wie sich diesen Kräften beispringen oder entgegentreten lässt. Zusätzlich sieht Rorty in „starken Dichtern“9 (Beispiele sind für ihn u.a. Freud und Marx) die Urheber neuer Vokabulare, von denen viele anfangs auf Ablehnung stießen und manche im historischen Prozess zum Allgemeingut wurden. Damit ist in diesem Text die gedankliche Absprunghöhe erreicht, auf die ich es abgesehen habe.
Vokabularpolitik
Rortys philosophischer und politischer Antiessentialismus geht einher mit einer antirepräsentationalen Auffassung von Sprache und Texten, die wir getrost auf eine antirepräsentationale Auffassung von Praxen und Objekten übertragen können, auch (und gerade) von ästhetischen.10 Diese Auffassung läuft darauf hinaus, in der Kunst nicht mehr und nicht weniger zu sehen als einen Ausschnitt des kontingenten Vokabulars, mit dessen Hilfe wir uns ein Bild davon machen, wer wir sind und was wir tun, und welcher Art unsere Beziehungen sind zu den Ideen, den Menschen und den Dingen, die uns begegnen oder die wir hervorbringen, einschließlich der Dinge, die wir nicht verstehen. Aus antirepräsentationaler Perspektive habe ich keine Mühe mit dem Umstand, dass künstlerische Praxen und Objekte dies auf spezifische Weise tun, kann aber nicht erkennen, warum dieser Weise etwas von besonderer Tiefe und Wahrheit zu eigen sein soll, etwas, das mehr wäre als nur unser eigenes Produkt, ein Produkt von Zeit und Zufall. Aus dieser Perspektive kann ich auch nichts mit der Unterscheidung zwischen solchen ästhetischen Verfahren oder Gegenständen anfangen, die die Wirklichkeit „nur beschreiben“, anderen, die sie „beschreiben, wie sie wirklich ist“ und wieder anderen, die sie kritisieren, transzendieren, hinterfragen, herstellen, dekonstruieren und was sonst der Kunst noch so nachgesagt wird. Ich kann hingegen einen großen Unterschied erkennen zwischen solchen ästhetischen Verfahren und Gegenständen, die uns gegen unsere eigene Grausamkeit und die anderer Leute aufbringen und ein solidarisches Vorstellungsvermögen mobilisieren können, und anderen, die das nicht können oder nicht wollen.
Mit anderen Worten: Der Witz an der Kunst ist aus antirepräsentationaler Sicht, dass sie die Vokabulare mitverfasst, mit denen wir uns identifizieren und in denen wir uns und unser Gemeinwesen beschreiben. Vokabulare, die unserer Wahrnehmung, unserem Denken und unserem Tun eine Richtung geben, und die Künstlerinnen und Künstler aufgreifen, variieren und manchmal verwerfen, um neue vorzuschlagen. Was immer sich an diesen Vokabularen und an ihrem Gebrauch verändert, ändert die Art und Weise, wie wir uns und andere sehen und wie wir letztlich leben. Deshalb betrachte ich Interventionen in das Metaphernwerk, mit dessen Hilfe sich ein Gemeinwesen ein Bild von sich macht, als Interventionen in dessen Realität. Aus der Sicht eines antirepräsentationalen Kunstbegriffs ist die Frage folglich nicht, ob die Kunst am gesellschaftlichen Prozess teilnimmt und dessen Verlauf beeinflusst, sondern ob sie das auf eine Weise tut,die uns der Vorstellung einer Gesellschaftsformation näherbringt, die uns lieber ist als die aktuelle. Meist geht ein Gemeinwesen Wege, die zu gehen es sich bereits ausmalen kann.11 Ohne einen imaginativen Horizont sind eine andere Zukunft, ein anderes Selbst, eine andere Gemeinschaft kaum denkbar und schwer machbar. Der Entwurf solcher Horizonte liegt innerhalb des Möglichen ästhetischer Praxen, Objekte und Diskurse.
Die Pointe des von mir mit Rorty vorgeschlagenen Kunstverständnisses liegt also darin, in ästhetischen Gegenständen und Handlungen Mitspieler dessen zu sehen, was ich Vokabularpolitik nenne:12 die soziale Auseinandersetzung um kontingente und widerstreitende Varianten gesellschaftlicher Selbstbeschreibung, die auf verschiedene Möglichkeiten des Zusammenlebens hinauslaufen. In dieser Sichtweise ist für mich die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion der Kunst und nach ihrer möglichen Politisierung hinreichend beantwortet. Eine tiefere Ebene – oder eine bessere theoretische Fundierung – des Politischen der Kunst, oder ihrer „Kritikalität“, brauche ich nicht. Ich bin vollauf zufrieden damit, die Kunstwelt als eine der Arenen zu betrachten, in denen unsere Wirklichkeit umkämpft und unsere Zukunft ausgehandelt werden. Und ich finde die Vorstellung überaus hilfreich, dass in diesen Verhandlungen unterschiedliche Vokabulare subjektiver und gesellschaftlicher Imaginationskraft im Spiel sind – unter anderem in Form von Werken, deren Präsentationen und der Kommunikationen über sie – von denen keines behaupten kann, mehr rechtens zu sein als ein anderes, und von denen wir dennoch manche hilfreich und nützlich, andere unnütz, und einige ärgerlich finden werden.
Was wir hilfreich und was wir ärgerlich finden sollten, darüber lässt sich streiten. Ich stelle mir mit Begeisterung eine (Kunst-)Welt vor, in der dieser Streit geführt wird und in der niemand mehr meint, es ginge dabei um etwas anderes als um Vergleiche, Revisionen und Ergänzungen bestehender Vokabulare und deren Fähigkeiten, unseren sozialen Ambitionen und Visionen auf die Sprünge zu helfen. Rorty hat nicht den Eindruck, dass es dabei möglich oder hilfreich sei, Konflikte zwischen konkurrierenden und sich einander widersprechenden Vokabularen auszuräumen, indem man sie an vermeintlich objektive Instanzen wie den Lauf der Geschichte, den rationalen Konsens oder die menschliche Vernunft erinnert und so auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen meint. Der Antagonismus zwischen den Anhängern verschiedener sozialer Vorstellungswelten und Ziele ist in seinen Augen unauflösbar. So sieht es auch Chantal Mouffe,13die wie Rorty den Vorzug demokratischer Kulturen als deren Fähigkeit beschrieben hat, Antagonismen zu akzeptieren und institutionell zu legitimieren. Im demokratischen Dissens werden Mouffe zufolge Kontrahenten dadurch zu Gegnern statt zu Feinden, dass sie ihren Konflikt in einer gemeinsam anerkannten Arena gewaltfrei austragen können, anstatt sich irgendwo die Köpfe einzuschlagen.
Als liberale Ironikerin und Antiessentialistin pflichtet Mouffe Rorty bei, dass eine emanzipative Vokabularpolitik in nicht viel mehr bestehen könne als dem Versuch, starke Gefühle und Leidenschaften für solidarische Ideale zu entfachen und das eigene liberale, pluralistische Vokabular so attraktiv zu machen, dass es Aussicht auf Verbreitung hat. Damit bekommt der Begriff der Vokabularpolitik sein eigentliches Profil. Ob bei der Aushandlung unserer Zukunftsaussichten Metaphern und Visionen die Oberhand gewinnen, in denen Solidarität eine zentrale Rolle spielt, entscheidet sich daran, ob eine ausreichend große Zahl von Menschen ihre Vorstellungskraft und Passion für solche Visionen mobilisieren kann, und ob wir Metaphern verwenden, die diese Mobilisierung voranbringen. Rorty ist der Meinung, dass wir dabei weiterkommen, wenn wir eine gerechtere Welt in Worten und Bildern beschreiben, die für möglichst viele Menschen so ergreifend, anziehend und plausibel sind, dass diese sich eine weniger gerechte Welt nicht mehr vorstellen mögen und vielleicht nicht mehr vorstellen können. Und entsprechend denken, handeln und sich organisieren. Zugleich sollten wir eine Sprache für unsere eigenen und anderer Leute Grausamkeiten finden, die uns diese ein für alle mal verleidet. Produzierende und Beobachtende der Kunstwelt sollten sich nicht zu schade sein, die Mobilisierung und Verbreitung solidarischer Phantasien als ihr vordringliches Ziel zu betrachten und ihm alle anderen Ziele unterzuordnen.
Resolidarisierung
Wer nun argwöhnt, mein Plädoyer für eine Solidarische Mobilmachung wolle ästhetische Praxen vor den Karren kommunitaristischer Propaganda spannen, kann unbesorgt sein. Genau solche Fehlschlüsse hoffe ich dank Rorty aus dem Weg schaffen zu können. Auch wenn die Kunst ein vokabularpolitisches Werkzeug ist, liegt mir fern, sie zu instrumentalisieren, noch sollte uns die Kunst vorbuchstabieren, wie wir zu leben haben. Ich denke auch nicht, dass wir weiterkommen, indem wir solidarische Werke und Kunstformen von nichtsolidarischen per se unterscheiden. Auch glaube ich nicht, dass wir das können oder sollten. Allerdings sollten sich Mitglieder einer postmetaphysischen Kultur, die ihre Vokabulare und Gemeinschaftsformen als kontingent betrachten, normativ entscheiden, welche Kunst sie für gut und richtig, sinnvoll und bedeutsam halten, und welche nicht. Für Antiessentialisten kann diese Entscheidung auf nichts anderem beruhen als auf ihren eigenen Bedürfnissen, Überzeugungen und Absichten. Antiessentialisten, die zugleich Ironikerinnen sind, verzichten darauf, abschließende Gründe für diese Entscheidung anzugeben und raffen sich dazu auf, sie selbstbestimmt zu treffen. (Antiessentialisten, die z.B. Freud oder Foucault gelesen haben, fügen hinzu, dass diese Selbstbestimmung Grenzen hat). Liberale Ironikerinnen werden für eine Kunst plädieren, die sie und andere dem Ziel näher bringt, fairer, aufmerksamer, und weniger sadistisch zu sein; und sie werden diejenigen künstlerischen Formen und Ausdrucksweisen gut und bedeutsam finden, die mit ihren solidarischen Ambitionen in Einklang stehen, und alle anderen als verzichtbar oder als ärgerlich betrachten.
Deshalb sagte ich eingangs, dass nach Richard Rorty über Kunst zu sprechen, für mich darauf hinausläuft, über Solidarität zu sprechen. Nicht, weil Kunst und Solidarität automatisch auf dem gleichen Blatt stehen, sondern weil ich finde, dass sie es sollten. Denn wenn unsere Wirklichkeit abhängt von unserem Vorstellungsvermögen, wenn unser Vorstellungsvermögen abhängt von dem Vokabular, das ihm zur Verfügung steht, und wenn Vokabulare von uns gemacht werden, auch mittels Kunst, dann trifft das Gleiche auf unsere Wirklichkeit zu – und dann ist jede solidarische Wendung im Reservoir gesellschaftlicher Vorstellungskraft ein Schritt in eine Welt, die sich von Grausamkeiten distanziert. Und darauf will Emanzipation meines Erachtens hinaus. Rortys Antiessentialismus steht meinem Gefühl nach völlig im Einklang mit der Art, wie immer mehr Menschen heute die Dinge sehen. Der Kontingenz der Sprache, des Selbst und des Gemeinwesens werden nur wenige ernstlich widersprechen. Und denen, die es tun schlage ich vor, die Öffentlichkeit mit ihrer Sehnsucht nach universeller Gewissheit zu verschonen und sie als Privatsache zu behandeln. Aber den Konsequenzen aus Rortys Position werden nicht alle gleich zustimmen. Für unseren Umgang mit Kunst bedeuten sie einen Perspektivwechsel. Ein großer Teil der künstlerischen Diskurse und Produktionen sowie der Texte und Gespräche, die sich mit ihnen befassen, trägt immer noch essentialistisches Erbgut. Was denn nun wirklich das Wesen der Kunst und ihr Verhältnis zur Wirklichkeit sei, was die eigentliche politische Bedeutung oder die wahre Qualität eines Werkes ausmache, worum es „in“ einer Arbeit „geht“ oder was ihr Autor wohl „im Kopf hatte“, all das sollten wir nach Rorty als Versuche auffassen, die Zwecke und Ziele unserer Argumente und Beziehungen zu verdunkeln und das Gespräch über sie mit dem Verlangen nach objektiven Aussagen, letzten Antworten und abschließenden Vokabularen abzuwürgen.
Wer nach dem Politischen der Kunst fragt, sollte dabei nicht mitmachen. Die Kunstwelt wäre eine gänzlich andere, würde sie das Erbe rationaler Begründungsdiskurse über Bord werfen, so wie es Rorty für die Philosophie tut, und auf antiessentialistischen und antirepräsentationalen Prämissen aufbauen. Dann würden ihre Mitglieder jedes Mal das Gespräch wechseln, wenn etwas von dem ins Spiel kommt, was wir üblicherweise tiefschürfend, elementar oder grundsätzlich finden. Fragen wie „Was sind die Grenzen der Malerei? “, „Wie realistisch ist ein Dokumentarfilm? “, oder „Ist Jeff Koons wirklich ein guter Künstler?“ würden dann hohl. Ich habe nicht den Eindruck, dass uns irgendetwas Entscheidendes entgeht, wenn wir sie im Wesentlichen unbeantwortet lassen. Nicht, dass uns keine Unterschiede zwischen Malerei und Nicht-Malerei, Dokumentarfilm und Realität, oder zwischen guten und schlechten KünstlerInnen einfallen würden. Ich denke nur, dass wir uns aus oben genannten Gründen nicht gemeinsam darüber die Köpfe zerbrechen sollten, ob diese Unterschiede grundsätzlicher Natur sind. Können wir deshalb schlecht schlafen, sollten wir Fragen dieser Art im Kreis von Freunden nachgehen.
Öffentlich hingegen können und sollten wir beispielsweise darüber sprechen, wie wir zwischen der konzeptuellen Plausibilität einer Skulptur von Jeff Koons und den sozialen Zielen, die sie verfolgt, unterscheiden können, und ob wir diesen Zielen zustimmen. Ich halte es für eine hervorragende Idee, uns auf solche oder ähnliche Weise darüber zu streiten, welche Kunst wir gut finden und welche nicht. Dabei könnte eine Sozial- oder gar eine Solidargeschichte der Kunst hilfreich sein, die uns zu verstehen hilft, auf welchem Wege bestimmte Formen und Stile, Verhaltens- und Sichtweisen in die Welt kamen, für welche Gesellschaftsformation sie einstanden, warum sie sich durchsetzten und warum wir uns schließlich an sie gewöhnt haben. Und wie wir sie wieder loswerden können, falls uns das ratsam scheint. Wir sollten künstlerische Werke und Praxen, unseren Umgang mit ihnen und unsere Gespräche über sie, von diesem Ende her denken: An welchen sozialen Anordnungen wirken sie mit? Bringen sie Leute und Dinge, die sich fern liegen, gegenseitig komisch vorkommen, antagonistisch gegenüberstehen oder zu vermeintlich verschiedenen Ordnungen gehören, zusammen, belassen sie sie dort, wo sie sind, oder treiben sie sie weiter auseinander?
Ich sehe mit Freude einer Kunstwelt entgegen, deren Mitglieder leidenschaftlich darüber diskutieren, welche Ausdrucksweisen eine Welt vorstellbar machen, die sie wollen, anstatt einer, die sie nicht wollen. Das erscheint mir nicht nur wünschenswert sondern auch dringlich. Denn augenscheinlich erleben wir derzeit eine Krise der Solidarität, deren Verlauf für viele brenzlig wird und die nach neuen Sichtweisen und Verhaltensweisen, nach neuen Vokabularen und Metaphern verlangt, die den Radius der Leute, die sich gegenseitig als Ihresgleichen betrachten, erweitert statt verengt. Die aktuellen Muster sozialer Repräsentation und solidarischer Praxen und Empfindungen passen offensichtlich nicht mehr zu den Veränderungen während der letzten Jahrzehnte, von denen mir die Errichtung eines globalen Finanzfeudalismus, der gesellschaftlichen Zusammenhalt zerstört und zugleich immer gewaltsamer bürokratisch konstruieren muss, die wichtigste scheint. Es gibt viele Gründe dafür, warum wir eine historische Phase der Emanzipation unseres Gemeinsinns durchlaufen, der sich aus historischen Dispositiven und Institutionen verabschiedet. Familie, Glaubensgemeinschaft, Klassenbewusstsein, Staatsbürgerschaft, all diese Gravitationszentren für empfundene Mitgliedschaft und praktizierten Beistand verlieren ihre Anziehungskraft. Ich bin der Meinung wir kommen weiter damit, wenn wir diesen Prozess nicht als Entsolidarisierung beklagen, sondern ihn als einen Epochenumbruch begrüßen und vorantreiben: als eine Ära der Resolidarisierung.
Mit Resolidarisierung meine ich nicht die Reparatur zerrissener sozialer Bande und ihrer alten Ordnungen, sondern deren Wandel. Solidarität, Einfühlungsvermögen und Zugehörigkeitsbedürfnisse, Kooperationssinn und Kollektivität verschwinden nicht. Sie siedeln um in vorübergehende Milieus, in neue kommunikative Praxen, Projekte und Technologien, in eine Vielzahl neuer privater und öffentlicher Weisen, miteinander in Beziehung zu stehen, und in diverse neue Gründe, das zu tun. Sie ändern ihren Horizont und ihren Fokus, ihre Kriterien und Organisationsweisen, ihre Orte und ihre Temporalität. All das scheint zurzeit in Transformation. Die Kontingenz des Gemeinwesens ist eine global geteilte Erfahrung von immer mehr Menschen (von denen manche gerade deshalb zu Backlash-Bewegungen neigen), die andere Bezugspunkte und Narrative für die Neuausrichtung ihrer solidarischen Begehren und Kapazitäten suchen und finden. Allein das Internet, die Occupy-Bewegung oder aktuelle Migrationsbewegungen würden lange Exkurse darüber erlauben, wie sich das planetare soziale Gewebe restrukturiert. Was dabei herauskommt, ist offen.
Mobilmachung
In dieser Situation ist die Kunst(-welt)14 in der Lage, Neubeschreibungen verschiedener Möglichkeiten des Zusammenlebens in die vokabularpolitische Arena zu tragen, die eine solidarische Mobilmachung beschleunigen statt bremsen. Dafür ist Rortys Erinnerung an die „starken Dichter“ der Vergangenheit kein schlechter Beitrag. Er liest Autoren wie Nietzsche und Proust als Menschen, deren Wunsch nach persönlicher Autonomie sie dazu veranlasst hatte, Bücher und Ereignisse der Vergangenheit nicht immer genauer und „philosophischer“ zu studieren, sondern immer phantasievoller. So lange, bis sie diese Bücher und Ereignisse in einer Sprache neubeschreiben konnten, die ihrem eigenen Willen entsprach, und die immer weniger mit der Vergangenheit zu tun hatte und immer mehr mit den Erfordernissen einer neuen Zeit, die nach ihrer Sprache suchte. Einer Sprache, die sich in Texten wie denen von Nietzsche und Proust erstmals zusammensetzte, ehe sie dann um sich griff. Auf ein Beispiel aus der bildenden Kunst übertragen besteht diese Vorstellung von starker Dichtung darin, etwa die Werke von Paul Cezanne oder Kasimir Malewitsch als Versuche beider Künstler zu betrachten, alte Vokabulare der Repräsentation loszuwerden, indem sie diese so lange variierten und an veränderte Herausforderungen anpassten, bis beide schließlich ein jeweils neues Vokabular in Händen hielten, ein neues Werkzeug, das der aktuellen Situation besser gerecht wurde als die alten Werkzeuge, und das daher Schule machte. Von Thomas S. Kuhns „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“15 lieh sich Rorty die Idee, dass neue Werkzeuge dabei nicht nur bestehenden Zwecken besser dienen, sondern auch neue Zwecke hervorbringen, weil sich mit ihnen Dinge anstellen lassen, auf die man vorher gar nicht gekommen war.
Solche „Revolutionen“ oder „poetischen Augenblicke“,16 die wir heute wohl als performativ bezeichnen würden und die man früher auch Avantgardismus genannt hätte, machen einen Unterschied in der Weise, wie manche, und dann vielleicht viele, sich und andere sehen und beschreiben. Zu solchen Augenblicken, so Rorty, komme es vor allem in Situationen, in denen die Dinge nicht mehr richtig funktionieren, eine bisher gebräuchliche Sprache nicht mehr weiter hilft und plötzlich alles gleichzeitig zur Debatte steht, einschließlich der eigenen Sprache selbst.17 In diesen krisenhaften Situationen, und in einer solchen befinden wir uns, „beginnen die Leute, alte Wörter in neuer Bedeutung auszuprobieren, hin und wieder einen Neologismus einzustreuen und auf diese Weise eine neue Sprechweise zusammenzuzimmern“,18 von der Anfangs niemand wirklich sagen kann, wozu sie taugt, bis sie immer mehr Zeitgenossen so plausibel und hilfreich erscheint, dass sie sich diese Sprechweise zu eigen machen und sie irgendwann zum Common Sense wird. Rortys Idee von starker Dichtung mag einen altmodischen Autorenbegriff wiedergeben und kann und will ihre romantischen Wurzeln nicht verbergen. Trotzdem kann sie uns weiterhelfen hinsichtlich der offenen Resolidarisierungsprozesse unserer Zeit. Und sie nimmt Fahrt auf, wenn wir sie in Zusammenhang bringen mit den wenigen Seiten, auf denen Rorty über Philosophie, Kunst und Ästhetik mehr oder weniger in einem Atemzug schreibt.
Rorty hat weist die humanistische Idee zurückgewiesen, unser Gemeinsinn könne sich faktisch auf die ganze Menschheit erstrecken oder gar auf alles darüber hinaus. Es sei unwahrscheinlich, dass wir an irgendeinem Punkt damit aufhören würden zwischen Leuten zu unterscheiden, mit denen wir bestimmte Ansichten teilen und die wir als Teil unserer eigenen Wir-Gemeinschaft betrachten, und anderen Leuten, deren Ansichten wir beim besten Willen nicht nachvollziehen können und die in unseren Augen nicht zu „Uns“ gehören.19 Sich mit dieser Tatsache im Grunde abzufinden und unsere Anstrengungen darauf zu verwenden, innerhalb gegebener Verhältnisse „eine immer bessere, also auf ein menschenfreundlicheres Leben zielende Umordnung jetzt bestehender menschlicher Beziehungen und Institutionen anzustreben“, das nennt Rorty das (politisch und moralisch) Schöne. Das Kunstschöne wäre demnach eine möglichst harmonische Anordnung ästhetischer Dinge und Momente, die diese Beziehungen und Institutionen in ein verständliches Licht rücken und sie auf eine Weise kritisieren, verbessern und umgestalten, die im Rahmen unserer Möglichkeiten (und unserer Sagbarkeit) liegt. Ein anderes Wort für dieses Schöne ist Reformismus.
Dem gegenüber sieht Rorty in dem Erhabenen etwas, das der Radikalität des revolutionären Ereignisses gleicht: „Die Suche nach Menschen und Institutionen von einer Art, über die wir keinerlei Einzelheiten angeben können, weil sie frei von Bedingungen sind, die wir uns noch nicht wegdenken können.“20 Die Unterscheidung zwischen Reformismus und Radikalismus, zwischen Schönem und Erhabenem, fällt dabei „ungefähr zusammen mit der Grenzlinie zwischen (…) der Beteiligung an sozialen Verhaltensweisen, deren Normen man begreift, und Einladungen, diesen Verhaltensweisen den Rücken zu kehren.“21 Einladungen also zu performativen Momenten, von denen sich mit Kuhn sagen lässt, dass sie neue Zwecke und Ziele, neue Leidenschaften und Ordnungen in die Welt setzen. Für die solidarische Mobilmachung, die mir vorschwebt, birgt das Erhabene der Kunst demzufolge das Versprechen auf ästhetische Ereignisse eines universellen Wir, eines nicht sagbaren Unseresgleichen, einer unbegründbaren Solidarität irgendwo jenseits bestehender Normen und Verhaltensweisen. Einer Solidarität, deren Praxen, Objekte und Metaphern sich auf nichts berufen, das grundsätzlicher wäre als die Sehnsucht, selbst die Sorten von Grausamkeit und Trennung befremdlich zu finden, die wir uns heute noch nicht wegdenken können und die daher zu viele normal finden.
Alexander Koch, Juni 2016
Erschienen in: Leonhard Emmerling, Ines Kleesattel (Hg.), Politik der Kunst. Über Möglichkeiten, das Ästhetische politisch zu denken, Bielefeld 2016
1 Dass meine Vorliebe für Rorty in der Kunstwelt bislang nur begrenzt auf Gegenliebe traf, liegt vielleicht daran, dass sich der US-Intellektuelle zu Hause zum Liberalismus bekannte, im europäischen Kontext also zur Sozialdemokratie, und mit Grund erhofft man sich von dieser politischen Lagerzuschreibung heute wenig Gutes. Vielleicht steht seiner Rezeption auch im Wege, dass er kaum je ein Wort über die bildende Kunst geschrieben hat, sein Bezugspunkt war die Literatur. Vielleicht hat der Vertreter des Neo-Pragmatismus aber auch deshalb in der Kunstwelt nicht viele Anhänger, weil ihn kaum jemand gelesen hat. In den einschlägigen Kunst- und Theoriebuchhandlungen findet man ihn bis heute genauso selten wie in den Fußnoten der dort gehandelten Schriften. Bemerkenswert, denn in den Vereinigten Staaten gilt er als einer der einflussreichsten und kontroversesten Denker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, auf Augenhöhe mit Habermas, Derrida und Foucault.
2 Rorty, Richard. Contingency, Irony, and Solidarity. Cambridge: Cambridge University Press, 1989, S. 73 ff.
3 Rorty, Richard. Trotzky and the Wild Orchids, in Philosophy and Social Hope, New York: Penguin Books, 1999, S. 9ff.
4 Die Lektoren dieses Textes haben mich wiederholt gefragt, wen genau ich meine, wenn ich „Wir“ schreibe. Ich denke meine Antwort läuft auf das gleiche hinaus wie dieser Text: Ich biete einen Standpunkt an, den ich einer möglichst großen Zahl von Leserinnen und Lesern attraktiv machen möchte und setze „Wir“ normativ als eine Gruppe von Menschen, von der ich mir erhoffen würde, sie sähen die Dinge ähnlich wie ich. Da ich nahe an Rorty argumentiere liegt es nahe, sich diese Gruppe von Menschen als die Antiessentialisten und Liberalen IronikerInnen vorzustellen, die wir beide als BewohnerInnen postmetaphysischer Kulturen im Sinn haben.
5 Richard Rorty, Consequences of Pragmatism: Essays: 1972-1980 (Minneapolis: University of Minnesota Press, 1982), xlii.
6 Das große Thema der Empathie und ihrer evolutionären und neuronalen Hintergründe lasse ich hier aus. Ohne Zweifel gibt es Gründe dafür, warum wir Solidarität empfinden. Und die gleichen Gründe enthalten auch Argumente dafür, warum Solidarität zu kleineren, näheren Gruppen von Individuen selbstverständlicher ist als zu größeren und ferneren Gruppen von Individuen. Der Rekurs auf biologische oder psychologische Grundlagen von Solidarität würde an der Stoßrichtung meines Textes aber nichts ändern und schlimmsten Falls als Versuch gelesen, essentialistische Gründe für diese Stoßrichtung anzuführen.
7 Â Rorty, Richard. Contingency, Irony, and Solidarity. Cambridge: Cambridge University Press, 1989, S. 93 ff.
8 Emancipating our Culture, in: Debating the State of Philosophy: Habermas, Rorty, and Kolakowski; Jozef Niznik, John T. Sanders (Hrsg.), Editors Institute of Philosophy and Sociology of the Polish Academy of Sciences Westport, CT: Praeger, 1996, S. 29
9 Rorty, Richard. Contingency, Irony, and Solidarity. Cambridge: Cambridge University Press, 1989, S. 28 ff.
10 Rorty selbst vollzieht diesen Schritt nicht oder kaum. Das erschien mir immer als Mangel, weil die eigentliche Relevanz seiner Position für die Kunst erst dann Gestalt annimmt, wenn man seine Argumente vom Gegenstandsbereich der Philosophie und Literatur auf den Gegenstandsbereich der Kunst transponiert. Und das hat seine Tücken, von denen es mir lieber wäre, Rorty selbst hätte sich mit ihnen beschäftigt.
11 Vgl. Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, Entwurf einer politischen Philosophie, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1990
12 Vgl. Koch, Alexander: „Kunstfeld 4. Die Privatisierung der Subjektivation und die taktische Öffnung des Feldes“, in: Beatrice von Bismarck /Alexander Koch (Hg.): Beyond Education. Kunst, Ausbildung, Arbeit und Ökonomie, Frankfurt am Main: Revolver 2005, S.145-164.
13 Vgl. Mouffe, Chantal: „Dekonstruktion, Pragmatismus und die Politik der Demokratie“, in: Chantal Mouffe (Hg): Dekonstruktion und Pragmatismus, Wien: Passagen Verlag 1999, S. 26ff.
14 Es fällt mir immer schwerer, zwischen Kunst und Kunstwelt (oder Kunstfeld) zu unterscheiden. Ich kann ästhetische Objekte und den gesellschaftlichen Gebrauch, in dem sie stehen, aus vielerlei Gründen immer erfolgloser als zwei verschiedene Dinge betrachten.
15 Kuhn, Thomas S: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973
16 Vgl. Richard Rorty, Deconstruction and circumvention. In: ders., Essays on Heidegger and Others. Philosophical Papers, Bd. 2. Cambridge, S. 88.
17 Ebd.
18 Ebd.
19 Man hat Rorty zu Recht dafür kritisiert, dass er die Werte und Ziele seiner eigenen Wir-Gemeinschaft der liberalen US-Demokraten zu derjenigen sozialen Phantasie erklärt, die es emanzipatorisch weiter gebracht hat als andere Phantasien und daher Schule machen sollte. Zwar leuchtet es ein, dass wir für diejenigen Metaphern und Überzeugungen, die wir für großartige Errungenschaften halten, wie zum Beispiel Gleichberechtigung oder Gesinnungsfreiheit, werben sollten um andere dazu zu bewegen, sie ebenso großartig zu finden. Aber es reicht nicht aus, sich zu der Gemeinschaft zu bekennen, deren Ideen einem am nächsten stehen, gleich wie großartig man sie findet, und diese Ideen anderen schmackhaft zu machen.
20 Richard Rorty: Die Schönheit, die Erhabenheit und die Gemeinschaft der Philosophen, Frankfurt am Main, 2000, S. 33
21 Ebd., S. 16f. Eine solche Einladung kommt zum Beispiel von Autoren wie Bruno Latour, die vorgeschlagen haben, wir sollten die Unterscheidung zwischen Objekt und Subjekt dahingehend überdenken, dass wir Gegenstände, Gebäude und Städte, Technologien und Algorithmen, den Anstieg des Meeresspiegels, das Ozonloch, und vieles mehr als soziale Akteure und als Subjekte begreifen können, mit denen wir interagieren und in Beziehung stehen. Bringen wir diese Einladung mit der Vorstellung zusammen, dass wir in einer Zeit der Resolidarisierung leben, ergibt sich ein ungewohnter, aber vielversprechender Horizont für die Frage, wie weit der Kreis all derer und all dessen reicht, zu denen und zu dem wir „Wir“ sagen, bzw. wie groß der Radius all jener Dinge und Geschehnisse ist, in denen wir vorkommen.