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Kunst im Bürgerauftrag

Ein Kunstwerk in Auftrag zu geben, das den Zauber eines Aufbruchs in die eigene Lebenswelt trägt, erfordert Mut und Geduld. Es erfordert auch Leidenschaft. Außerdem braucht es Sachverstand und obendrein Geld, das meist schwer zu beschaffen ist. Kurz: Ein Kunstwerk in Auftrag zu geben, ist kompliziert. Wie also kann es sein, dass die Menschen in den Projekten der „Neuen Auftraggeber“ – Sie sehen siebzehn Beispiele in diesem Buch – es dennoch getan und dabei vieles geschafft haben, das sie sich zuvor vielleicht kaum zugetraut hätten?

Die Antwort liegt in der Methode der Neuen Auftraggeber, dem ersten Programms für zeitgenössische Kunst im Bürgerauftrag, das vor 33 Jahren in Frankreich begründet wurde. Seine Idee ist es, ein uraltes Privileg, das die europäischen Kulturen geprägt hat, zu demokratisieren. Das Privileg der Auftragskunst. Schon die Antike kannte eine Kunst im Bürgerauftrag, und ein roter Faden bürgerschaftlicher Kunstaufträge durchzieht die europäische Kulturgeschichte – und nicht nur diese – bis heute.

Allerdings waren es stets nur wenige Bürger (in der Tat meist Männer), die über genügend soziale, kulturelle und finanzielle Mittel verfügten, um die Künstlerinnen und Künstler ihrer Zeit mit der Erfindung neuer Werke zu beauftragen – und so zugleich sich selbst eine herausgehobene Bedeutung in der Gesellschaft zu geben. Auch in demokratischen Gesellschaften der Gegenwart gibt es noch private Auftraggeber, in der Regel sind es Kunstsammler oder Unternehmen. Die meisten Kunstaufträge aber kommen mittlerweile von der öffentlichen Hand, ausgelobt von Kommunen, Museen, Behörden und Kommissionen zur Gestaltung öffentlicher Plätze und Bauten oder als kulturelles Zeichen für die Dauer von Festivals oder Biennalen.

Es ist ein bedeutender Sektor der kulturellen Produktion, zumal in Deutschland. Hier entscheiden nicht Privatleute, sondern Kuratorinnen, Jurys, Kulturausschüsse. Fachleute also, die im Sinne des Gemeinwesens gute Entscheidungen treffen wollen. Das entspricht den Prinzipien einer repräsentativen Demokratie. Der demokratischen Repräsentation verlangt man heute allerdings auch eine stärkere Öffnung ab. Allerorten fordern Bürgerinnen und Bürger mehr Mitbestimmung. Und mitunter erleben sie auch, dass sie ihre Geschicke in die eigenen Hände nehmen müssen, wenn sich etwas bewegen soll, oder wenn sie Themen ansprechen oder Orte aktivieren wollen, für die keine Fördergelder ausgelobt werden oder auf die sich das Interesse der Fachleute bislang nicht richtete.

In einer lebendigen Demokratie, so dachte man vor 33 Jahren in Frankreich, sollte da nicht jede Bürgerin und jeder Bürger von herausgehobener Bedeutung sein? Zumindest „einigermaßen gleich“, wie man so schön sagt? Müsste gerade in Sachen Kultur nicht mehr gesellschaftliche Kommunikation, mehr Dialogfähigkeit, mehr Aushandlung zwischen verschiedenen Stimmen und Interessen möglich sein? Sollten Bürgerinnen und Bürger nicht proaktiver mitentscheiden können – besser noch: miteinander entscheiden können –, welche Kunst vor ihren Augen entsteht, Zeichen setzt und ihr Lebensumfeld prägt? Gewiss, Teilhabe und Partizipation werden heute großgeschrieben. Kunst, Politik und Institutionen wollen mehr Menschen einbinden, auch bei der Entstehung von Kunst und Kultur, und sie tun dies auch. Doch was heißt einbinden? Was heißt Teilhabe?

Wenn Auftragskunst ein solch kraftvolles Instrument ist, das seit der Antike bis heute so viel Wichtiges hervorgebracht hat, stets jedoch im Auftrag weniger, sollte, ja muss dann nicht in einer progressiven Demokratie dieses Privileg so verallgemeinert und verteilt werden, dass jede Bürgerin, die dies wünscht, jeder Bürger, der sich engagieren will, auch eine Auftraggeberin und ein Auftraggeber zeitgenössischer Kunst sein kann? Müsste eine Kunst im Bürgerauftrag nicht wie selbstverständlich zu den Grundlagen eines demokratischen Gemeinwesens zählen, in dem viele Menschen zusammen Verantwortung für das übernehmen, was sie je einzeln wie auch gemeinsam betrifft?

Wie es scheint, ist dafür einiges Umdenken nötig. Als in den 1990er-Jahren in Frankreich die ersten Projekte in kleinen Dörfern entstanden, schüttelten die Kunstfachleute den Kopf. Das könne nicht klappen, warfen sie ein. Kunst interessiere die Leute doch gar nicht. Sie kämen gar nicht darauf, Kunst als eine Handlungsmöglichkeit in Erwägung zu ziehen und Künstlerinnen und Künstler zu beauftragen, und sie würden der Kunst gewiss auch nicht zutrauen, etwas zu verändern. Das Vorurteil hält sich bis heute, wir kennen es auch aus Deutschland. Es gibt Dokumentarfilme über Projekte der Neuen Auftraggeber, die eindrucksvoll vom Gegenteil berichten. Auch wissenschaftliche Studien kommen zu dem positiven Schluss, dass man der Kunst oftmals mehr zutraut, als sich mutmaßen ließe. Uns erreichen regelmäßig Anfragen von Bürgerinnen und Bürgern, die ein Projekt starten möchten – mehr als unsere aktuellen Kapazitäten leisten können.

Natürlich stimmt es, dass der Gedanke, ein Kunstwerk in Auftrag zu geben, vielen Menschen erst einmal fernliegt. Auch die Politik mag sich fragen: Macht das überhaupt Sinn? Wer Kunst und Künstler nur aus Museen kennt statt aus nächster Nähe, und das ist ja die Regel, empfindet sie vielleicht als etwas Besonderes, aber auch als etwas Fremdes, Fernes. Und es spricht gegen jede Intuition, dass sich Künstlerinnen und Künstler, zumal wenn sie berühmt sind, für das eigene Lebensumfeld interessieren, für lokale Themen, die nicht unbedingt weltbewegend scheinen. Auch dies ist ein Vorurteil, wie Sie sehen werden, wenn Sie durch dieses Buch blättern. Tatsächlich sahen und sehen sich die Künstler, denen Sie auf den folgenden Seiten begegnen werden, in jedem Projekt herausgefordert, ihr Bestes zu geben, um dem Vertrauen, das man ihnen entgegenbringt, und der Verantwortung, die damit einhergeht, gerecht zu werden.

Man darf es auch so sehen: Viele Künstlerinnen und Künstler haben ihren Beruf gewählt in der Hoffnung, etwas Relevantes beizutragen, die Gesellschaft ein Stück voran zu bringen. Im üblichen Kulturbetrieb mit seinen ökonomischen und institutionellen Zwängen und Routinen kann einem das Gefühl immer wieder auch abhandenkommen, dass sich diese Hoffnung einlösen lässt. Und dann trifft man auf eine Gruppe von Menschen, die einem plötzlich sagt, dass man gebraucht wird. Dass etwas getan werden muss. Und man wird als Künstler angesprochen, es zu tun. Ist das schön? Ja, das ist schön.

Alles andere ist dann eine praktische Frage. Wie geht das? Wie genau werden Bürger zu Auftraggebern?  Welche Themen dürfen als wichtig und richtig gelten? Wie findet man die geeigneten Künstlerinnen? Wie sagt man ihnen, was man will? Wie geht man mit Konflikten um, die bestimmt entstehen können? Wie soll man das bezahlen, und selbst wenn: falls man eine Skulptur auf dem Marktplatz will oder ein ausrangiertes Gebäude abreißen möchte, um an gleicher Stelle ein neues Dorfzentrum zu errichten, wie soll man den Gemeinderat davon überzeugen, dem zuzustimmen? Woher bekommt man fünf Tonnen Stahl? Woher die Baugenehmigung?

Eben deshalb gibt es Mediatorinnen und Mediatoren. Das war vor 33 Jahren die innovative französische Idee, um aus einer Utopie – der Kunst im Bürgerauftrag für alle, die sie sich wünschen – eine Wirklichkeit zu machen. Die Idee ist in einem schlichten kleinen Dokument niedergelegt, das sein Erfinder, der belgisch-französische Künstler François Hers, ein „Protokoll“ genannt hat. Es ist auf Seite XX abgedruckt. Seine Botschaft war ganz einfach: Kunstvermittler gibt es viele, aber fast immer vermitteln sie etwas, das es schon gibt. Ein Kunstwerk, eine Ausstellung, eine künstlerische Idee. Hers erweiterte die Rolle der Kunstvermittler, damit sie mehr tun könnten als bislang, nämlich   echte Brücken zwischen Menschen bauen. Und er nannte diese Tätigkeit Mediation, und die Leute, die sie ausüben Mediatoren. Mediatorinnen und Mediatoren sind professionelle Begleiter, allererst für Bürgerinnen und Bürger, die auf sie zukommen mit dem Wunsch, ein Projekt zu starten. Für Menschen, die ein wichtiges Anliegen haben, es in die Öffentlichkeit tragen möchten, etwas zu verändern wollen, ohne, dass man schon immer genau weiß, was sich ändern könnte und wie. Mediatorinnen sind gut im Zuhören. Sie schaffen Raum für Austausch und Gespräch, für Nachdenklichkeit und Kritik, für die Überwindung von Konflikten, und sie ermutigen auch zur Kühnheit, ja manchmal zu wildem Denken. Denn das ist ja ein Versprechen der Kunst: in einem geschützten Raum alle Sachzwänge spielerisch ablegen zu können, um zu sehen, was geschieht, wenn man Selbstverständlichkeiten ausblendet und dem Vorstellungsvermögen freien Lauf lässt. So entsteht mancher Auftrag, der Großes will und dabei hofft, mit Kunst könne es möglich werden.

Mediatorinnen sind auch Begleiter für die Künstlerinnen und Künstler, die sich auf die Bürgeraufträge einlassen und viel geben, um den Ansprüchen eines Auftrags zu entsprechen. Und wenn man für ein Kunstwerk fünf Tonnen Stahl benötigt und eine Baugenehmigung von der Stadt, dann werden Mediatorinnen zu Produktionsbegleitern, die mit Verwaltungen reden, Kostenpläne erstellen und an der Finanzierung arbeiten. Nicht selten werden Mediatorinnen dabei auch zu Partnern der Politik, weil diese, wenn sie aufgeschlossen ist, erlebt, das mit den Projekten Gutes entsteht, und sie daher unterstützt.

Kurz: Mediation ist eine große Verantwortung und eine anspruchsvolle Praxis. Sie hat sich bewährt. Seit vor 33 Jahren in Frankreich die ersten Mediatorinnen und Mediatoren damit begannen, der Kunst im Bürgerauftrag eine Chance zu geben, sind nahezu 600 Projekte in Europa entstanden. Alle im Auftrag von Bürgerinnen und Bürgern, begleitet durch Mediation. Die Zahl der Menschen, die sich in diesen Projekten engagiert und mobilisiert haben, geht in die Zehntausende. Zunächst in Frankreich, später entdeckten auch andere Länder das Modell der Neuen Auftraggeber, erst in Belgien und Italien, dann in Deutschland, Spanien, der Schweiz, mittlerweile hat man auch in Kamerun die Methode übernommen.

Kunst im Bürgerauftrag, das zeigt auch dieses Buch, ist nicht länger eine unbestimmte Vision. Sie entsteht heute an immer mehr Orten in Deutschland und Europa, sie findet ihre Anhänger in der Stadt und auf dem Land, in der Bürgerschaft und in der Kunstwelt, in den Medien und im universitären Diskurs. Aus kulturpolitischen Debatten ist sie kaum mehr wegzudenken. Kunst im Bürgerauftrag, das ist auch eine der Antworten auf zentrale Themen der gesellschaftlichen Entwicklung: wie lassen sich gleichwertige Lebensverhältnisse herstellen, um etwa drastische Unterschiede zwischen urbanen und ländlichen Räumen, zwischen vielen und wenigen sozialen Privilegien, zwischen guten und schlechten Teilhabechancen besser ausgleichen? Ob Demokratie gelingt, das wissen heute alle, ist ganz wesentlich auch eine Kulturfrage. Generell ist dabei der Anspruch an demokratische Kultur und Kulturvermittlung gestiegen. Es reicht nicht mehr, Menschen zur Vernissage ins Museum einzuladen oder Projekte der kulturllen Bildung auszuloben, als müsse man die Menschen heranziehen zu dieser Kultur. Demokratie heißt Mitbestimmung, Mitverantwortung, Miteigentum am gesellschaftlichen Prozess.

Wenn Sie dieses Buch durchblättern, werden Sie sehen, wieviel sich Bürgerinnen und Bürger zutrauen. Wieviel Verantwortung sie für ihre Gemeinschaft übernehmen. Wie sie demokratische Kultur direkt vor Ort am Laufen halten – oder wieder zum Laufen bringen, falls sie eingerostet war. Und wie viel Vertrauensvorschuss sie der Kunst geben, selbst wenn sie sich zuvor vielleicht nie für Kunst interessiert haben. Wenn eines in den Texten und Bildern dieses Buches schwingt, dann ist es die Zuversicht, dass die eigene Welt und Zukunft gestaltbar ist, nicht abgeschlossen, nicht verstopft durch Zwänge und Grenzen des Machbaren. Natürlich, manches fällt zurück auf den Boden der Tatsachen. Nicht jede Vision wird Wirklichkeit. Aber, wie es in einem der Projekte heißt: „Eine andere Welt ist möglich. Auf jeden Fall lässt sie sich zeichnen!“

Alexander Koch


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