Dieses Gespräch ist erschienen in: Barbara Gronau (Hg.), Künste des Anhaltens, Ästhetische Verfahren des Stillstellens, Berlin 2019.
Oliver Marchart:
Die Arbeit, die mir als Erstes zum Thema „Künste des Anhaltens“ in den Sinn gekommen ist, ist die Performance Nr. 0 des israelischen Performancekollektivs Public Movement: ein synchronisierter, spiegelsymmetrischer Verkehrsunfall.
Bevor ich darauf eingehe, möchte ich aber sagen, dass mein Zugang sich weniger auf die Frage des Kunststreiks als Streik innerhalb der Kunst beziehen wird oder als eine Bestreikung von Kunst, die dann ihrerseits als eigene künstlerische Arbeit wahrgenommen wird, es ist eher der Versuch, das Politische am Streik sowie die Verbindung künstlerischer Praxis zu diesem Politischen herauszuarbeiten. Denn Streik ist zunächst einmal ein politischer Begriff, obwohl er auch ein unpolitischer Begriff sein kann. Wenn wir von Kunststreik sprechen und wenn ein Künstler oder eine Künstlerin mit ihrer künstlerischen Praxis aufhören, lautet die erste Frage, die ich mir stelle: Wohin bewegt sich diese Praxis? Welcher Raum öffnet sich, der dann ernstgenommener Weise kein Raum der Kunst sein kann? Man kann natürlich im Privaten bleiben, aber es gibt auch andere Möglichkeiten und eine der Möglichkeiten ist, dass man eben doch in der Kunst bleibt. Es gibt diese berühmte Antwort von Daniel Buren auf die Bitte, sich einem Kunststreik anzuschließen, der geantwortet hat: „Ich bin sowieso schon seit Jahren im Kunststreik, weil ich mich weigere, irgendeine neue Arbeit oder irgendetwas Neues als Arbeit zu machen.“ In dieser Perspektive würden mir noch einige andere Künstler einfallen, die sich im Kunststreik befinden, ohne diesen explizit ausgerufen zu haben. Dieser heimliche Kunststreik hat allerdings auch noch eine andere Dimension, nämlich eine Dimension der Vorbereitung eines wirklichen Streiks.
Was mich also am Kunststreik interessiert ist die Frage des Wohin: in welches Feld? Und hier interessiert mich ausschließlich das Feld der Politik. Es geht also um Kunst, die aufhört Kunst zu sein, um in einem Moment des Umschlagens oder Übersprungs in das Feld der Politik zu wechseln. Und hier sind es v. a. künstlerisch-aktivistische Praktiken, die in den letzten Jahren (v. a. nach 2011) besonders prominent diskutiert worden sind. Es gibt natürlich zig künstlerische Praktiken eines artistic activism, der in den letzten Jahren vermehrt diskutiert wurde. Wenn man genau hinsieht, stellt man jedoch fest, dass dieser nie weg war. Schon Jacques-Louis David war ein artistic activist, als er sich den Jakobinern anschloss. Dort, wo wir künstlerische Praxis in Verbindung mit Bewegungsaktivismus sehen, ist es grundsätzlich falsch anzunehmen, dass soziale Bewegungen nur zu bestimmten Zeiten der Euphorie auftauchen. Soziale Bewegungen sind konstant. Man spricht von Zyklen, und genauso wie diese sozialen Bewegungen in Zyklen verlaufen, in denen sie mal die Phase der Latenz und dann wiederum des Manifesten erreichen, in denen sie interferieren, sich verstärken, mit anderen Bewegungen verknüpfen, aber dann auch wieder verschwinden oder untertauchen, verhält es sich mit artistic activism. Eine solche künstlerische Praxis war also nie weg. Insofern ist der Ein- druck, sie wäre jetzt zurückgekommen, auch falsch.
Um aber eine künstlerische Praxis, die sich als politische versteht, überhaupt definieren zu können, benötigen wir einen Begriff des Politischen. Ich selber verfechte einen sehr realistischen und viel- leicht etwas nüchternen Politikbegriff, nach dem eine Handlung dann und nur dann als politisch einzuschätzen ist, wenn sich andere gezwungen sehen, auf diese Handlung zu reagieren, wenn sie also bestimmte tatsächlich materielle Effekte in den Handlungen anderer, namentlich natürlich v. a. der politischen Gegner notwendig macht. Wenn man eine Handlung ignorieren kann, ist sie nicht politisch. Das zweite notwendige Kriterium ist, dass eine politische Praxis sich sehr oft – und genau das ist es auch, was den Streik definiert – durch eine Störung oder Unterbrechung von Zirkulationsströmen oder Funktionsabläufen auszeichnet, wie sie in modernen Gesellschaften das Leben der Gesellschaften überhaupt bestimmen. Ganz nach dem klassischen Modell der Gewerkschaften: „Alle Räder stehen still / Wenn dein starker Arm es will.“ Ein solcher Streik hält den üblichen Gang der Dinge an, und das ist etwas, was auch im Kleinen bestimmte politische Praktiken definiert. Unterbrechung als not- wendiges Kriterium des Politischen führt dann auch zu bestimmten künstlerischen Praktiken der Unterbrechung.
Da Streik nicht immer ein politischer Begriff ist, schlage ich vor, zwischen zwei Begriffen von Streik zu unterscheiden. Zunächst Streik im Sinne der berühmten Tarifkonflikte, von denen wir sehr oft in der Zeitung lesen. Diese Art von Streik hat natürlich etwas im Alltagsverständnis Politisches. Ich würde aber zumindest einen geschärften Begriff der Politik dafür nicht heranziehen, weil es dort letztlich nur um ein Ausverhandeln bestimmter partikulärer Interessen geht. Das ist zwar eine bestimmte Form von Politik, aber es ist eine von sehr klaren Regeln geleitete Form von Politik. Wenn ich nun aber von Unterbrechung in einem politischen Sinn rede, meine ich etwas Pointierteres, nämlich den politischen Streik, der in vielen Ländern verboten ist, weil dann gestreikt wird, um ein politisches Ziel zu erreichen, der möglicherweise den Sturz der Regierung bedeuten kann. 1968 in Frankreich gab es beispielweise nicht nur Studentenproteste, sondern den größten Generalstreik in der Geschichte Frankreichs, der das Regime de Gaulles fast zum Einsturz gebracht hätte. De Gaulle befand sich schon mit seiner Frau auf der Flucht zu in Deutschland stationierten französischen Truppen, bevor er sich entschlossen hat, zurückzukommen. Solch ein politischer Streik, der auch in bestimmten politischen Streiktheorien, wie etwa bei Walter Benjamin als proletarischer Streik oder bei Georges Sorel als Generalstreik theoretisiert wird, hat das Potential, ein ganzes politisches System zum Einsturz zu bringen. Deswegen ist er verboten, und wenn, mit Carl Schmitt gedacht, souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, dann bedeutet ein Streik, v. a. ein Generalstreik, dem Souverän dieses Recht zu entwenden und selbst über den Ausnahmezustand zu entscheiden bzw. den Ausnahmezustand auszurufen, indem möglichst viele, im Idealfall alle gesellschaftlichen Funktionsabläufe stillgestellt werden. Das ist sozusagen der Ausnahmezustand des Stillstands.
Dazu gibt es auch zwei Begriffe, die Chantal Mouffe in die Diskussion eingebracht hat: Den Begriff des Agonismus auf der einen Seite, in ihrer Theorie auch in Verbindung mit einer bestimmten Form von aktivistischer künstlerischer Praxis gedacht: Agonismus vom griechischen „agon“, was eigentlich der regelgeleitete Wettstreit ist. Das wäre z. B. der Fall einer Tarifauseinandersetzung, in der ganz klar ist, nach welchen Regeln diese funktioniert. Der interessantere Begriff an dem Punkt ist aber der Begriff des Antagonismus. Der Begriff des Antagonismus, der im Falle des politischen Streiks, dort ausbricht, wo die Spielregeln selber gekippt bzw. unterbrochen werden oder andere Spielregeln ausgerufen werden. Der Antagonismus also als der Moment, in dem eine über die allgemein anerkannten Spielregeln hin- ausgehende politische Mobilisierung eine Veränderung der Spielregeln erzwingt.
Wie kann sich nun künstlerische Praxis zu so einem dezidiert politischen Begriff von Streik bzw. von Antagonismus verhalten? V. a. dann, wenn sie in gewisser Weise nicht die ‚objektiven Bedingungen‘ eines Antagonismus vorfindet? Denn man darf sich keinen Illusionen hin- geben: Einen politischen Konflikt kann man nicht erzwingen. Was macht man also, wenn die objektiven Bedingungen nicht stimmen? Die klassische revolutionäre Antwort schon der russischen Revolutionäre vor der Revolution war natürlich: Man bereitet sich vor. Ein heimlicher Kunststreik im Sinne einer künstlerischen Praxis, die noch nicht die Passage ins Politische gemacht hat, sich aber auf diese Phase vorbereitet, wäre eine Möglichkeit, eine politische künstlerische Praxis in Zeiten der politischen Windstille zu denken.
Der für mich einschlägige Begriff, der in dieser Verwendung auch u. a. von Public Movement stammt, ist der Begriff des pre-enactments. Public Movement verwendet ihn in einem sehr spezifischen Sinn. Nämlich nicht in dem Sinn, in dem man z. B. bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen, die man in der heutigen Gesellschaft beobachtet, fortschreibt, in die Zukunft hinein extrapoliert und dann ein Zukunftsszenario entwickelt, das man dann spielt, sondern Public Movement versuchen, Staatsrituale für einen Staat der Zukunft selbst zu erfinden. Interessanterweise hat es aber eine andere, interessantere politische Form des pre-enactment in der Geschichte von Public Movement gegeben. Ein Ausgangspunkt war eine ganz ähnliche Performance, nämlich eine Unterbrechung der Verkehrsströme, die Blockade einer Kreuzung, die sie in Form einer Guerillaperformance zunächst in mehreren israelischen Städten aus dem Nichts heraus aufgeführt haben. Diese Guerillaperformance hat zunächst nichtsPolitisches, auch wenn die Arbeit selber etwas Hochpolitisches hat, insofern hier auf die Idee des Rundtanzes zurückgegriffen wird, der in Israel eine lange Tradition, wenn auch eher eine Poptradition hat. Zusätzlich wird auch zu dem sehr bekannten Lied Od lo ahavti dai getanzt, mit einer Choreographie und mit Schritten, die so gut wie alle beherrschen. Das bedeutet, dass sich auch alle anschließen und sich jederzeit in diesen Rundtanz eingliedern können. Natürlich hat der Rundtanz auch eine politische Funktion der Gemeinschaftsbildung in einem feindlichen Umfeld und außerdem auch eine staats- ideologische Funktion. Ich möchte v. a. auf den äußeren Konflikt ein- gehen, der nicht anwesend ist, also auf die objektiven Bedingungen. Es könnte auch ein Flashmob sein, kein Passant würde dem automatisch eine politische Bedeutung zuschreiben. 2011 ist es in Israel, wie an vielen anderen Orten, bekanntlich zu Protesten gekommen. Straßen und Boulevards wurden besetzt und natürlich hat man gerade in diesem Moment nach bestimmten, möglicherweise neuen Protestformaten Ausschau gehalten. Zu diesem Zeitpunkt sind Mitglieder von Public Movement, die natürlich selber Teil der Demonstranten und Demonstrantinnen waren, auf andere zugegangen und haben dieses Format eines Rundtanzes vorgestellt, mit dem der Straßenverkehr an Kreuzungen blockiert werden kann, mit dem Vorteil, dass alle Passanten, die vorbeikommen und sich mit der Sache solidarisieren wollen, mittanzen und mitblockieren können. Und so wurde dann 2011 an verschiedenen Straßenkreuzungen immer wieder Od lo ahavti dai aufgeführt und hat sich zu einem sehr erfolgreichen Protestformat entwickelt. Eine künstlerische Praxis, die einen Streik, also ein politisches Ereignis vorwegnimmt, in dem sie sich darauf vorbereitet, die also bestimmte Formate und Aktionsformen entwickelt, welche sich dann potentiell als produktiv erweisen können, ist also latent politisch.
Alexander Koch:
In den letzten Jahren ist das Thema des Ausstiegs aus der Kunst plötzlich in Mode gekommen und auch der Begriff des Streiks taucht häufiger auf. Man sollte hier allerdings um Differenzen bemüht sein. Die Minimalanforderung an einen Streik ist, dass er ein Ziel hat, dass er tatsächlich auf etwas hinauswill. Nur weil etwas stillgestellt wird, heißt das noch nicht, dass es sich um einen Streik handelt. Genauso ist auch ein Künstler, der nicht mehr produziert, noch lange nicht aus der Kunst ausgestiegen, so nur aufgehört zu arbeiten. Diese Unterschiede sind v. a. dann relevant, wenn man die Politizität oder das kritische Potential von Unterbrechung, Ausstieg, Streik usw. im Blick hat. Eben das war das Interesse meiner theoretischen Arbeit zum Ausstieg aus der Kunst, die ich einige Jahre betrieben habe und in der ich versucht habe, solche Positionen und Praxen kunsthistorisch zu identifizieren. Denn interessanterweise gab es bis vor noch gar nicht langer Zeit, genauer gesagt bis 2004, quasi überhaupt keine Literatur zu dem Thema. Es gibt zwar eine Vielzahl von Literatur zur Frage, wie eine künstlerische Praxis beginnt oder initiiert wird, aber ich fand keinen einzigen Text darüber, wie man aus dieser Praxis wieder herauskommt und die Künstler- rolle wieder ablegt. Das hat im Abendland Gründe, die man beispiels- weise bis zur Künstlerlegende Giottos zurückverfolgen kann. Es gibt ein Rollenmodell von Künstlerschaft, das historisch instituiert und institutionalisiert wurde und dazu führte, dass wir über das Aufhören von Kunst lange Zeit überhaupt gar nicht gesprochen haben. Das Interessante daran, dass Künstler freiwillig und vorsätzlich ihre Praxis beenden, sind letztlich die Gründe für eine solche Entscheidung. Gründe, die sich im Einzelfall als radikale Form von Institutionskritik beschreiben lassen, nämlich als eine Kritik an der Institution Kunst als Ganzer, als Kritik an dem sozialen Feld insgesamt. Das Problem daran ist, dass wir von solch radikaler Kritik in der Regel keine Kenntnis erlangen, weil sie sich eben nicht mehr im Kunstfeld mitteilt. Was es für die historische Recherche unheimlich schwierig macht, solche Gründe rückblickend festzumachen.
Ich möchte nun drei unterschiedliche Weisen des Aussteigens oder des Anhaltens vorschlagen, man könnte auch erweitert sagen, des Streikens. Zum einen gibt es ostentative Unterbrechungen. Ostentativ insofern als es sich um zur Schau gestellte Handlungen, also demonstrative Gesten handelt, die dann natürlich auch ästhetische Handlungen sein können oder ästhetische Formen haben, die also dezidiert für das Sichtbarwerden einer Lücke, einer Unterbrechung, gedacht und gemacht sind. Dann und nur dann würde ich im eigentlichen Sinne von einer künstlerischen Form des Streiks sprechen. Um solche ästhetischen Formen geht es meist, wenn wir im ästhetischen Diskurs oder im Kunstfeld von Stillstand, Stille, Schweigen, Leere usw. sprechen.
Davon würde ich eine kommunikative Unterbrechung unterscheiden. Das beste Beispiel ist Marcel Duchamp. Duchamps Schweigen war immer unheimlich laut. Marcel Duchamp ist nie aus der Kunst ausgestiegen, sondern er war permanent im Kunstfeld präsent als ein Akteur dieses Feldes, der gerade deshalb so interessant werden konnte, weil er keine üblichen Produktionsformen mehr hatte und stattdessen z. B. in Briefen kommunizierte: „Ich muss leider auf meinem Status der Inaktivität bestehen, deshalb kann ich an ihrer Ausstellung nicht teilnehmen.“ Mit einer solchen Kommunikation wird eine ganz bestimmte Rolle im Kunstfeld eingenommen, die keine ästhetischen Handlungen ausführt und nirgends Werkcharakter behauptet. Dazu gibt es eine ganze Reihe von Beispielen, z. B. wenn Maurizio Catellan ankündigt, dass er aussteigt und dann von Vernissage zu Vernissage reist, um überall mitzuteilen, dass er ausgestiegen ist. Das ist ein kommunikativer Akt in der Kunstwelt, der im Übrigen auch symbolische Kapitalien erzeugt.
Der eigentliche Ausstieg aus der Kunst ist das, was ich eine radikale Unterbrechung nenne. Das wäre sozusagen der permanente Ausnahmezustand, den eine Person für sich selber verfügt hat. Ich glaube, das kann man nur sinnvoll argumentieren, wenn man einen sozialen Akteur beschreibt, der ein bestimmtes Milieu verlässt. Der Ausstieg aus der Kunst liegt meiner Definition nach strenggenommen nur dann vor, wenn jemand ab einem Zeitpunkt X etwas anderes tut als zuvor und zugleich nicht mehr Teil der Community, nicht mehr Teil des Gesprächs ist. Hier möchte ich Charlotte Posenenske erwähnen, die unter den deutschen Minimalisten Ende der 1960er Jahre eine Rolle eingenommen hat, die man heute als zentral betrachtet. Das hat man 30 Jahre lang nicht so gesehen. Posenenske hatte eine ziemlich radikale Vorstellung von Partizipation. Sie machte Skulpturen, die darauf hinauswollten, verwendbar zu sein bzw. umgebaut werden zu können. Betrachter sollten Nutzer sein. Dahinter stand eine ganz bestimmte Vorstellung von einer demokratischen Gemeinschaft und einer Kunstform, die für einen demokratischen Prozess geeignet ist. Sie hat in art forum 1968 ein Statement veröffentlicht, in dem sie ihr Konzept beschreibt, und darin fällt dann ganz plötzlich dieser Satz: „Ich nehme mit Bedauern zur Kenntnis, dass die Kunst nichts zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen kann.“ Wenig später steigt sie aus. Sie verlässt tatsächlich das Milieu der Kunst, studiert Soziologie und versucht, mit den Mitteln der Sozialwissenschaften partizipative Modelle in der Fließbandproduktion zu imaginieren bzw. Nicht-Partizipation im Fordismus zu analysieren und zu kritisieren. Sie wechselt sozusagen die Waffen, sie wechselt die Sprache, sie wechselt die Disziplin. Das ist ein Beispiel für einen deutlich politisch motivierten Ausstieg aus der Kunst.
Das nächste Beispiel ist besonders interessant, um die Schwellensituation zwischen Drinnen-Sein und Draußen-Sein zu beschreiben. Diese Situation kann man in der Kunst relativ selten beobachten. Eine der großen Ausnahmen ist Lee Lozano. Ebenfalls Ende der Sechziger war sie eine durchaus erfolgreiche Malerin in New York. Sie schwenkte dann um auf konzeptuelle Arbeitsweisen und machte ab 1968 zwei Jahre lang die sogenannten Language Pieces, für die sie posthum berühmt wurde. Die Language Pieces sind Handlungsanweisungen von Lozano an sich selbst. Es gibt über 50 davon und sie alle sind klar durchgestaltete, konzeptuelle Spracharbeiten auf Papier.
Im Dialogue Piece von 1969 legst sie fest, dass sie bestimmte Leute anrufen will, um sie nach Hause einzuladen und mit ihnen ein Gespräch zu führen. Dann gibt es diesen interessanten Moment im Text: „Note: The purpose of this piece is to have dialogues, not to make a piece.“ Lozano gerät plötzlich in diese paradoxe, tautologische Situation, dass sie eigentlich kein Kunstwerk machen will, ist dabei aber noch in einer Phase, in der sie gleichwohl diese Geste formalisiert und auch ausstellt oder sie für Publikationen in der Kunstwelt, z. B. von Lucy Lippard, zur Verfügung stellt. Die bekannteste Arbeit von ihr aus dieser Periode, General Strike Piece, steht für ihre Entscheidung, nicht mehr an öffentlichen Kunstereignissen teilzunehmen. Das Ziel des Ganzen: „In order to pursue investigation of total personal & public revolution.“ In einem Statement von ihr, das sie bei einer Veranstaltung der Artworkers Coalition in New York öffentlich vorgetragen hat, distanziert sie sich von der politisierten Aktivistenbewegung mit folgender Begründung: „Ich werde nur an einer totalen Revolution teilnehmen, die zugleich persönlich und öffentlich ist.“ Auf diesen Gedanken bezieht sich General Strike Piece, und es fixiert zugleich die Entscheidung, dass Lozano nicht mehr am Geschehen der Kunstwelt teilnehmen wird. Im April 1970 kommt nun der ent- scheidende Schritt in ihrer Ausstiegsbiografie, das Dropout Piece. Es soll darin bestanden haben, dass die Künstlerin 30 Jahre lang keine Kunst mehr gemacht hat. Ich habe von Anfang an die Auffassung vertreten, dass Dropout Piece kein piece ist, kein künstlerisches Werk.
Schon deshalb, weil es keine formalisierte, aufgeschriebene Form davon gibt. Wenn man nach dem Kunstwerk fragen würde, nach dem besagten piece, könnte man es nicht finden. Die Formulierung Drop- out Piece gibt es nur in kolportierten persönlichen Aussagen und in einer Tagebucheintragung aus ihren Notizbüchern. Wenn man sich diese Tagebucheintragung genau anschaut, argumentiert die Autorin darin vollkommen anders als in allen Language Pieces. Sie schreibt, sie möchte sich befreien von „powerful emotional habits, emotional dependence on love, trusting myself and others more“. Der Text wird sehr privat und intim, und er hat keine für die Öffentlichkeit bestimmte Struktur. Meiner Auffassung nach sind das Notizen eines Menschen, der sein Leben ändern will, und tatsächlich hatte Lozano zu diesem Zeitpunkt mit Einigem zu kämpfen. In den Language Pieces gibt es viele, die sehr persönliche Bereiche ansprechen, z. B.: „Experimentiere mit Marihuana und schreibe genau auf, wie viel Konsum davon welche Konsequenzen hat“; Masturbation Piece: „Benutze ganz bestimmte Gemüse und andere Formen, um damit zu masturbieren, und schreibe auf, wie gut oder mies das ist.“ Das alles ist schriftlich systematisiert, auch wenn es sehr privat ist. Aber in den Notizen zum Dropout Piece spürt man etwas anderes, eine Schwellensituation. Was als nächstes geschieht, ist, dass Lozano ihr Atelier auflöst und New York verlässt. 30 Jahre lang wird sie quasi vergessen. Nur einige wenige Konzeptualismusexperten erinnern sich noch an sie. Sie stirbt 1999 und wird posthum als eine der wichtigsten Konzeptkünstlerinnen ihrer Zeit rezipiert. Mein entscheidender Punkt ist, dass Lozanos Entscheidung, aus der Kunst auszusteigen, kein Kunstwerk ist. Darauf möchte ich insistieren, und genau an der Stelle gibt es aber in Schriften über den Ausstieg aus der Kunst, die jüngst erschienen sind, große Unstimmigkeiten, Unschärfen und auch Mythenkonstruktionen.
Zum Schluss möchte ich im Vergleich Posenenske und Lozano noch die Unterscheidung zwischen einem regressiven Ausstieg und einem progressiven Ausstieg vorschlagen. Ein regressiver Ausstieg bringt mich nirgendwo hin, außer hinaus. Ein progressiver Aus- stieg bringt mich aus einer Situation hinaus, um in eine andere Situation hineinzugelangen. Ich denke, wenn man untersucht, welcher Erwartungshorizont einer Entscheidung zum Aussteigen oder Anhalten oder Aufhören zugrunde liegt, dann versteht man mehr über die Zielsetzung und auch über die mögliche Kritikalität oder Politizität dieser Entscheidung.
Ludger Schwarte:
Ihr beide habt Beispiele gewählt, in denen das Künstlerische ein politisches Handeln vorbereitet hat. Es war also zukunftsgerichtet und es gab dann einen Ausstieg im Hinblick auf eine politische Handlung. Wenn die Kunst als eine Vorbereitung auf eine eigentliche politische Auseinandersetzung zu dem Zeitpunkt, wenn die äußeren, objektiven Bedingungen gegeben sind, verstanden wird, bedeutet das auch eine andere Zeitorientierung des künstlerischen Handelns, als das vielleicht im außerkünstlerischen Streik der Fall wäre. Dann läge nämlich eine Zukunftsorientierung vor; und diese Zukunftsorientierung könnte u. a. den Begriff der Gegenwartskunst infrage stellen. Man würde dann nämlich als künstlerische Praxis in diesem Sinne keine auf die Gegenwart bezogene, sondern im strengen Sinne nur eine auf die Zukunft bezogene werten können. Das würde einigen jetzt auch stark diskutierten Theorien der Gegenwartskunst zuwiderlaufen.
Der zweite Punkt, der an Euren Beispielen aus meiner Sicht auffällig wurde, betrifft den Unterschied zwischen Anhalten, Aussteigen und Streiken. Ich halte den Begriff des Ostentativen in dem Zusammen- hang für sehr hilfreich. Man streikt also nicht dann, wenn man nicht mehr kann, erschöpft ist, anhält oder einfach nicht mehr will, sondern wenn es in irgendeiner Weise jemand mitbekommt und sich insofern etwas verändert. Durch das ostentative Anhalten der Produktion hat Streiken vielleicht auch immer einen systemtransformierenden Charakter, jedenfalls wenn es mehr ist als ein Tarifstreik, der eher Ritualcharakter hat. Aber man kann sich darüber unterhalten, inwiefern sich der Streik dadurch von einem radikalen Ausstieg unterscheidet, dass er sich in irgendeiner verborgenen Weise doch stets wie eine Art von karnevaleskem Ventil systemerhaltend auswirkt, obwohl er viel- leicht Herrschaft anders verteilt oder Eliten ausgetauscht werden. Stellt nur der Ausstieg das System radikal infrage?
Ein anderer Gedanke anschließend an den Hinweis auf Buren ist, ob man vielleicht an den gewählten Beispielen verschärft erkennen kann, was das Streikaffine und was das Politische daran ist, da man ja alle möglichen Beschreibungen der Kunstphilosophie dafür verwenden könnte, zu sagen, dass Kunst immer einen Streikcharakter hat. Sowohl hinsichtlich dessen, was auch heute Morgen vielfach diskutiert wurde, nämlich mit Bezug auf die Eigenzeitlichkeit, um es mal dabei zu belassen, aber auch hinsichtlich anderer Elemente, wie der Unterbrechung von Handlungsfunktionen oder der Verfremdung. Adorno sprichtbeispielsweise von „Entkunstung“. Das wäre ein Streik innerhalb der Kunst gegen die Kunst aus Transformationszwecken. Bei Heidegger gib es den Begriff der Kunstlosigkeit. Also ähnliche Phänomene, die Kunst mit Auszeichnungen beschreiben, die etwas Streikhaftes haben. Streik wäre dann quasi ein Definiens von Kunst und in dem Sinne könnte man sich fragen, ob es neben allen Formen von Darstellung, von Repräsentation, von Konfiguration ästhetischer Objekte auch noch solche gibt, die man Kunst nennt und innerhalb dieser noch- mal eine verschärfte Variante, die entweder nach innen hin streikt als Streik gegen Kunst oder aber nach außen hin streikt, indem sie Vorbereitungen auf politische Konflikte bedeutet. Könnte man also noch ein weiteres Kriterium einführen, das eure Auswahl von Beispielen vielleicht noch einmal genauer begründet?
Koch:
Eine kurze Bemerkung vorweg: Mir scheint, dass Streik eigentlich immer Kampf ist, also auch auf eine Transformation der Situation oder Verhältnisse hinauswill. Dramatisch deutlich wird das beim Hungerstreik, während der Ausstieg aus der Kunst nach meinem Verständnis eigentlich kein Kampf ist, sondern dann erfolgt, wenn man eigentlich die Waffen bzw. die Pinsel niederlegt oder den Kampfplatz wechselt. Ich will das gar nicht zu sehr als eine melancholische Figur zeichnen, aber ich glaube zwischen den beiden Kategorien gibt es einen Unterschied in der Motivation und in der Zielsetzung.
Schwarte:
Es könnte auch einen deflationären Streik geben, im Sinne von: Es gibt Krieg und keiner geht hin. Es gibt Kunst und keiner geht hin.
Marchart:
Dann ist die Frage, wo die Grenze zwischen Streik und Boykott verläuft. Es gibt natürlich auch jüngere Beispiele des Boykotts gegenüber bestimmten Biennalen, wo mit einem Boykott zumindest versucht wird, ein politisches Statement zu setzen, das aber doch im strengen Sinne nicht als Streik bewertet werden kann. Ich würde dann nochmal eine Unterscheidung machen zwischen einem Streik, der eine sehr viel breitere Streuung erfordert, eine vielleicht auch intensivere Auseinandersetzung, die auf Ausdehnung angelegt ist, und einem Boykott, der an einem bestimmten Punkt interveniert.
Gerade diese Praxisseite der Vorbereitung, die du angesprochen hast, ist sehr wichtig, was ich bei Public Movement besondersherausstechend finde. Nicht nur in der gezeigten Arbeit, sondern in vielen anderen Arbeiten, wo sie z. B. tatsächlich mit Aktivisten zusammenarbeiten, die z. B. Workshops anbieten, in denen man lernt, wie man sich von der Polizei wegtragen lässt, wie man also mit dem Körper umgeht. Sie verstehen sich ja auch als research body. Ihre Arbeit ist also eine sehr stark auf Körperpolitiken hin ausgerichtete Praxis, weswegen sie z. B. auch mit Rettungseinheiten zusammen- arbeiten. Sie arbeiten also mit politischen, staatlichen Institutionen zusammen, aber auch mit Bewegungsgruppierungen, die in bestimm- ten Katastrophenfällen oder in Form von politischen Auseinandersetzungen am Körper und an der Körperpolitik ansetzen. Ich finde das anschlussfähig an die jüngere Debatte zum Thema des Übens oder des Trainings, nicht so sehr an die Frage der Probe. Denn die Vorbereitung für etwas, von dem ich noch nicht weiß, welche Form es annimmt, unterscheidet sich von der Idee der Probe, wo ich ein bestimmtes mir schon mehr oder minder bekanntes Skript vorwegnehme. In dem Fall kann ich aber noch kein Skript vorweg- nehmen, weil es das Skript dieser zukünftigen Auseinandersetzung nicht gibt, d. h., ich kann eigentlich nur versuchen, bestimmte Bedingungen zu schaffen. Ich würde also sehr stark unterscheiden zwischen Training oder Übung auf der einen Seite und Probe oder Vorwegnahme von einem Ereignis, dessen Zuschnitt wir kennen, auf der anderen Seite.
Koch:
Daran anknüpfend ist für die ästhetische Dimension wiederum interessant, dass der Witz an einer wirklich radikalen Form von politischem Streik in der Gefahr besteht, dass tatsächlich etwas passiert, also an der Ereignishaftigkeit. Z. B. ereignet sich der Umsturz eines politischen Systems. Solange diese Drohung eines tatsächlichen, radikalen Ereignisses, oder einer Transformation, nicht im Raum steht, hat ein Streik nicht viel Kraft. Das Drohen wiederum ist etwas, das die Kunst sehr gut kann. Bei Vito Acconci gibt es z. B. solche Aktionen und Installationen, bei Santiago Sierra gibt es Gegenstände, die von Fassaden hängen, tonnenschwer, und die runterrasseln könnten. Diese Form des katastrophisch Ereignishaften kennen wir aus der Kunst und das könnte man jetzt natürlich verknüpfen mit dieser Streiklogik im Sinne der Vorausschau.
Schwarte:
Furcht und Schrecken sind als ästhetische Phänomene möglicherweise schon seit der Antike das Pfund, mit dem die Kunst wuchert. Sie trainiert also, in dieser Weise ein Szenario aufzubauen und es zu entfalten statt bloß zu erinnern; wobei dann der Umschlag in das Politische im Entfalten von Militanz besteht. Militanz also, dass die Drohung im Raum steht, dass plötzlich, gewaltsam etwas ganz Anderes passieren könnte, ist ja etwas, das Streik und Demon- strationen gemein haben. Im Potential der Kunst liegt, dass es näm- lich nicht bloß um die Vermittlung einer Meinung geht oder das Ven- tilieren von Interessen, sondern dass eine bestimmte Militanz in den Raum gestellt wird und immer auch Friktionen gesucht werden.
Zum Streik gehört neben der Kenntlichmachung des Nicht-Arbeitens und dem Ausstellen einer Unterbrechung auch der Ort des Streikes, der in irgendeiner Weise markiert werden, aber auch leergelassen werden kann. Streiks müssen an bestimmten Orten stattfinden. Dass diese Orte offenbar auch beschrieben werden, ist interessant, da man sich fragen kann, inwiefern auch nichtperformative Künste einen Streik quasi ausstellen können, indem sie eine Örtlichkeit herstellen. Es gibt eine ganze Reihe von Arbeiten, Bruce Nauman oder Fischli/ Weiss, die quasi das leergelassene Atelier ausstellen und eine Art von désœuvrement des Künstlerischen ins Zentrum rücken, die also den leergelassenen Ort als eine Form von Ästhetisierung des Streiks oder der Nicht-Arbeit zentral machen. Die Frage ist also, inwiefern es Streik nur als körperliche Friktion gibt oder ob es Formen der Markierung von Orten gibt, die zum Streik notwendigerweise dazugehören und die anderswo auch ästhetisch bearbeitet werden.
Marchart:
Es muss einen bestimmten Ort geben, aber wieso kann dieser im Streik leer gelassen werden? Die Negation des Streiks ist ja ‚business as usual ‘. Denn es ist ja eigentlich der Sinn des Streiks, dass keiner da ist.
Schwarte:
Ich meine damit, dass es nicht egal ist, wo der Streik stattfindet. Er muss an einem konkreten Ort stattfinden, denn ob ein Streik gelingt, liegt nicht nur daran, dass sich Körper in einer bestimmten Art verhalten und dass Manifeste verteilt werden, sondern er muss an einem bedeutsamen, spezifisch gestalteten Ort stattfinden. Der Streikort kann auch sehr ausgedünnt sein und in irgendeiner Weise kann dann vielleicht der Ort stellvertretend eintreten. Ich kann mir vorstellen, dass in dieser Weise auch solche Arbeiten, wie bei Fischli/Weiss oder Bruce Nauman, die quasi das leergelassene Atelier präsentieren, die Entwerkung zentral werden lassen und dem eine bestimmte negative Potentialität entlocken.
Marchart:
Der stark verortete Streik wäre ja auch ein taktischer Streik, in dem z. B. eine bestimmte Berufsgruppe oder auch nur wenige Leute, die an einem neuralgischen Funktionsablauf sitzen, streiken. Das Problem mit Künstlern ist natürlich, dass diese so selten an solchen neuralgischen Funktionsorten sitzen, dass sich irgendjemand davon gestört fühlen würde.
Koch:
In einem weiteren Sinne stimme ich dem zu, aber es wird ja auch vorgeschlagen, dass man die Kunstwelt als mitten in der Gesellschaft befindlich begreift und davon ausgeht, dass das, was ich an der Kunstwelt verhandeln kann, auch ein Verhandeln in gesellschaftlicher Realität ist. Kunst befindet sich ja nicht an einem dritten Ort. Insofern ist z. B. bei Lee Lozano der Schritt, zu sagen: „ich gehe nicht mehr an diese Orte der New Yorker Kunstszene, sondern schließe mich in meinem Atelier ein“, tatsächlich eine ganz klare Positiv-Negativ- Markierung im Terrain und ebenso in der Topographie der Stadt. Natürlich sind Orte sehr wohl das Material oder Austragungsorte von Dasein und Wegsein, von Tun und Nichttun.
Schwarte:
Was ist denn das Wesentliche an der Geste des Streiks? Ein Moment ist natürlich, dass bestimmte Funktionen unterbrochen wer- den, etwa ein Arbeitsprozess. Das andere ist, dass dadurch Öffentlichkeit hergestellt werden soll. Es soll ein Licht auf bestimmte Umstände gelenkt werden und ein drittes Moment ist auch das Andauern, das unerträgliche Andauern. Streiken hat etwas genuin Temporales. Hier wird Zeit gleichzeitig gestaut und gedehnt.
Koch:
Mir fällt dazu ein gescheiterter Kunststreik ein. Gustav Metz- ger hat 1977 einen Kunststreik ausgerufen und meinte, dass der inter- nationale Kunstmarkt gestürzt werden kann, wenn die Künstlerschaft sich kollektiv und international drei Jahre lang weigert, am Kunst- betrieb teilzunehmen. Er wollte den Ausnahmezustand ausrufen und die Souveränität der Künstlerschaft zurückerlangen. Aber niemand hat mitgestreikt. Ich denke, dass die Ankündigung der Zeitspanne von drei Jahren hier eine wesentliche Rolle spielte. Das vorab geplante Ende des Streiks nahm der Sache den Biss. Gustav Metzgers Kunst- streik ist einer der Klassiker zum Thema und interessanterweise auch ein Klassiker des Scheiterns. Was bei ihm allerdings ein künstlerisches Prinzip im Sinne der auto-destructive art war.
Schwarte:
Um uns noch einmal von der Bildenden Kunst wegzubewegen: Maurizio Lazzarato hat sich sehr viel mit dem Streik der Intermittent de spectacle in Paris und mit dem Streik der Schauspieler in Aix-en-Provence auseinandergesetzt, die von einem staatlichen Regime abhängen, die also eine bestimmte Anzahl von Tagen auf der Bühne stehen müssen, um ein ganzes Jahr finanziert zu werden. Das weist darauf hin, dass es künstlerische Bereiche gibt, in denen andere ökonomische Verhältnisse bestehen, wo es eine Art Angestelltendasein gibt, innerhalb dessen man auch für ökonomische Verbesserun- gen streiken kann. Das Merkwürdige ist ja, dass die Künstler in einem ähnlichen Sinn von Streik gesprochen haben wie Metzger. Hier wird die Drohung gemacht, dass man das nicht mehr stattfinden lässt, was normalerweise zu einem bürgerlichen Dasein dazugehört, was aber gleichzeitig auch mit einem Angestelltendasein zu tun hat. Inwiefern konfligiert die Idee des Streiks eigentlich mit der Idee der Autonomie der Kunst, also des Selbstbeauftragtseins? Würde man nicht sagen, dass ein Künstler, wenn er streikt, davon ausgeht, von der Gesellschaft beauftragt worden zu sein?
Marchart:
Ich habe mich in einem Forschungsprojekt mit der Prekarisierungsbewegung beschäftigt, die auch ein globales Netzwerk von Leuten etabliert hat, die im Kulturbetrieb als ‚intermittent‘, also befristet angestellt sind und für die dadurch ein Sozialversicherungs- problem entsteht. Da gibt es aber auch Menschen, die eine Ich-AG, also neue Beschäftigungsformen erfüllen müssen. Es gibt das euro- päische Netzwerk EuroMayDay, das am 1. Mai mit sehr karnevalesken Veranstaltungen in Opposition oder zumindest parallel zu den klassischen 1.-Mai-Demonstrationen der Traditionsgewerkschaften demonstriert, weil es hier eben um andere Arbeitsverhältnisse geht.
2008 wurde am Berliner MayDay der Ich-Streik ausgerufen. Ich-Streik ist eigentlich auf den ersten Blick eine künstlerische Strategie. Sein Ich zu bestreiken, ist erstmal ein symbolischer Verweis darauf, dass man in diesen neuen Beschäftigungsformen der Ich-AG, in der man sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer ist, zunächst einmal nicht streiken kann. Arbeitskampf im klassischen Sinn wird unter diesen Bedingungen also verunmöglicht. Das führt zu einer monadischen Individualisierung der Leute, bei der eine Form von Gewerkschaftsarbeit im klassischen Sinn eigentlich gar nicht mehr möglich ist. Wenn das Stichwort Lazzarato fällt oder auch bestimmte andere Theorien (Postoperaismus, Gouvernementalitätstheorien), die sich mit diesen Fragen beschäftigt haben, ist die andere Seite natürlich, dass diese prekarisierten Beschäftigungsbedingungen auch ein neues Subjektivierungsmodell erfordern: Ein Subjektivierungsmodell, in dem wir uns selbst als Ich-AGs subjektivieren, als kreative teamworkfähige Projektarbeiter. Deswegen hat dieser Ich-Streik auch noch die andere Komponente, dass wir auch diese Subjektivierungsform bestreiken müssen. Ich denke, an der Stelle ist ein Einsatzpunkt, an dem auch eine künstlerische Praxis, die mit sozialen Bewegungen zusammenarbeitet, ihren Ort hat. Denn natürlich sind wahnsinnig viele derer, die im Kunstfeld arbeiten, auch Teil dieser Bewegung, und es gibt ja auch in der visuellen Repräsentation dieser Bewegung bestimmte Fertigkeiten, die ganz klar aus der Kunst kommen, und das hängt mit einer Personalidentität zwischen Künstler und Aktivist zusammen.
Koch:
Da könnte es natürlich sein, dass der Begriff Streik irgend- wann nicht mehr richtig zieht, denn wenn wir davon ausgehen, dass die Macht des Streiks in der Drohung besteht, dass tatsächlich etwas passieren könnte, ist die Bestreikung des eigenen Ichs vergleichsweise machtlos hinsichtlich äußerer Kräfte, die man damit adressieren möchte. Tatsächlich ist es recht schwierig, sich das in der Kunst wirk- lich vorzustellen. Es wurde die Autonomie angesprochen, die man heute neudeutsch Selbstunternehmertum nennt. Und tatsächlich hat sich ja diese ganze Begrifflichkeit an künstlerischen Rollenmodellen bedient und insofern sind Autonomie und Selbstunternehmertum eng miteinander verknüpft. Das macht in der Tat die Vorstellung eines – zumal kollektiven – Streikgeschehens in der Kunstwelt relativ überraschend.
Schwarte:
Wenn wir darüber nachdenken, ob es einen Streik nur in einem etablierten Feld geben kann oder welche vorbereitende Funktion Kunst in der Weise haben kann, möchte ich nochmal auf die Idee zurückkommen, dass etwas dann politisch ist, wenn es u. a. um Souveränität geht, um Entscheidungshoheit, also um die Frage, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Ihr habt beide den Streik als ein Mittel charakterisiert, das den Ausnahmezustand erst einmal herstellt.
Noch einmal historisch gewendet: Neuzeitliche Macht etabliert sich in der frühen Neuzeit, gerade im 17. Jahrhundert als diejenige Macht, die über die Staatsraison Ausnahmezustände herstellt, um sich selbst zu legitimieren, also die Staatsmacht selbst noch einmal vorzuführen. Schon bei Ludwig XIV. ist selbst das Theater ein Instrument zur Herstellung eines Ausnahmezustands, was die Notwendigkeit staatlicher Intervention über irgendwelche Begrenzungen hinweg und damit die Legitimation des absoluten Souveräns zum Zweck hat. Aber man kann diese Genealogie des Staatsterrors gekoppelt mit der Ideologie der Staatsraison natürlich jetzt auf die Frage anwenden, wie ich es schaffe, mich in dem Sinne zu ermächtigen, dass ich den Ausnahme- zustand herstelle. Ich will also dem Souverän die Verfügungsgewalt über den Ausnahmezustand entziehen und damit den Staatsterror erst einmal unterbrechen, der in der Permanenz oder in der Herstellung von solchen Krisen besteht. Das ist auch eine mögliche Formel zur Beschreibung von Kunst. Aber man kann sich natürlich fragen, inwiefern diese Kompetenz der Kunst zur Herstellung von Ausnahme- zuständen noch viel radikaler zur Geltung kommen kann als bei Public Movement. Gibt es noch andere, weiter gehende Varianten?
Marchart:
Ich bin mir nicht so sicher, dass wir unter der Vorstellung, den Ausnahmezustand durch eine bestimmte Praxis auszurufen, etwas Grandioses oder Staatszertrümmerndes verstehen müssen. Eine solche Unterbrechung dieser gesellschaftlichen Funktionsabläufe kann auch recht bescheiden sein. Die Bescheidenheit, die Kürze, das Nichtdramatische an solchen Situationen spricht nicht gegen sie, sondern es ist eher die Frage, was an äußerer Antagonisierung, also an Zielgerichtetheit des Protests hinzukommt. Was kommt dazu, damit es tatsächlich einen politischen Effekt hat? Welchen politischen Effekt erzeugt so eine Handlung, die eben kurzfristig einen Ausnahme- zustand, vielleicht auch eine Art Blase des Ausnahmezustands, die dann wieder platzt, in der Gesellschaft erzeugt? Hat das einen politischen Effekt? Ist es angekoppelt an eine kollektive politische Artikulation oder ist es eben nur ein Flashmob? Für mich ist also nicht so sehr die Frage, ob der Staat einbricht oder nicht. Es gibt eine Möglichkeit, diese Idee des Generalstreiks bei Sorel, diesem berühmten syndikalistischen Theoretiker des Generalstreiks, so zu lesen. Er meinte, der Generalstreik sei das Fernziel, das die Herrschaftsverhältnisse zum Einsturz bringen wird, und wir brauchen diesen Generalstreik als Mythos, damit unsere jetzigen Handlungen eben nicht nur in Tarifkonflikten versanden. Man müsste natürlich auch noch diskutieren, wie faschistisch diese Idee war oder nicht. Aber wir brauchen diesen Mythos des Generalstreiks, da er uns eine Orientierung zur Überwindung der herrschenden Verhältnisse gibt. Und genau diese Differenz zwischen Lee Lozano und der Artworkers Coalition ist ein gutes Bei- spiel: Bilden die Leute in der Artworkers Coalition, die sich um ihre Partikularinteressen kümmern, einerseits eine Gewerkschaft, dann gibt es andererseits eine Person, die sagt, dass ihr das zu sehr an den eigenen Interessen orientiert ist und nicht an einer Überwindung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die das Problem darstellen.
Koch:
Mir scheint, dass diese kulturaktivistischen Formen, die sich jetzt in der Praxis häufen und auch mehr und mehr besprochen wer- den, eher geeignet sind, um ein politisches Momentum hervorzubringen. In der Bildenden Kunst scheint uns das schwer zu fallen, und ich glaube, darunter leiden wir im Kunstfeld. Denn Kunst als Streik kennen wir eher in Form der Negation, also nicht des progressiv- normativ Fordernden, sondern eigentlich des Unterlassens einer ganz bestimmten Funktion, die zu erfüllen man von uns erwartet. Wenn man nochmal kurz zurückdenkt, könnte man sagen, dass in diesem Sinne Streik geradezu konstitutiv wäre für das, was wir den autonomen Kunst- und Künstlerbegriff nennen. Der kommt ja erst mit der Romantik auf und in der romantischen Literatur beispielsweise gibt es zum ersten Mal den literarischen Topos des Künstlers ohne Werk. Der definiert sich darüber, dass Künstler im Atelier vor der leeren     Leinwand sitzen, umgeben von ihren Musen und ihrer Entourage, aber nichts sonst geschieht. Es entsteht kein Bild. Und doch behaupten diese Künstler, Künstler zu sein. Sie können das, weil es in dem Setting Atelier plus Entourage offensichtlich möglich ist, eine eigen- ständige Souveränität herzustellen und sich die Künstlerrolle normativ selbst zu geben, unabhängig vom ästhetischen Gegenstand. Vielleicht ist das der Gründungsmythos für diese Form von Souverän, die wir mit dem autonomen Künstler versuchen zu beschreiben. Das funktioniert, aber eigentlich über Negationsformen, von denen es dann historisch eine ganze Menge gibt. Wenn man von da aus einen künstlerischen Fortschritt über die letzten zweihundert Jahre beschreiben wollte, würde man das wahrscheinlich eher darüber tun, was man weggelassen hat, als darüber, zu beschreiben, was man an Formen, Medien und Praxen hinzu addiert hat.
Schwarte:
Vielleicht noch eine Bemerkung zu dem Weglassen und der Idee minimaler Gesten. Vielleicht kennzeichnet das eben genau das Künstlerische, dass es zwar eine Intervention ist, aber eine minimale Intervention. Darin besteht die, der Ungleichheit der Waffen geschuldete, Herausforderung: wie man es mit infimen, also winzigen, fast unsichtbaren Mitteln schafft, kleine Explosionen auszulösen, die eine umso größere Wirkung zeitigen. Darin könnte etwas spezifisch Künstlerisches liegen. Das Invasive ist so zu gestalten, dass sich die Künstlerpersona daraus zurückzieht zugunsten von etwas, das durchgereicht werden kann, um außerhalb des künstlerischen Bereichs umso größere transformative Kraft zu entfalten.