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In den Falten der Kunst. Kunst und Interkontextualität (Eröffnungsrede des Symposiums 1998)

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In den Falten der Kunst
Eröffnungsrede

Ich begrüße Sie zu schau-vogel-schau.
Zu diesem Projekt, das von Marcel Bühler und mir konzipiert wurde, gehört nicht nur das Symposium, das nun beginnt, sondern auch der Arbeitsprozess, der uns und Sie hierhergeführt hat und den wir weiterführen werden bis zur Herausgabe einer Publikation.

Dieser Prozess begann damit, dass wir uns die ebenso einfache wie selbstverständliche Frage stellten, was wir als junge Künstler heute unter Kunst und unter künstlerischer Arbeit verstehen wollen. Wir haben die Verfolgung dieser Frage zum Ausgangspunkt dieses Projektes gemacht. In dessen Verlauf wurde sie zu der Frage nach der interkontextuellen künstlerischen Kompetenz, die wir heute an die von uns eingeladenen Referenten und an Sie im Publikum weitergeben.

Was diese Frage alles einschließt, was genau sie meint, das werde ich Ihnen nicht in einem einführenden theoretischen Vortrag darlegen, weil das für mich bedeuten würde, ein Territorium zu betreten, das meine Kompetenzen übersteigt. Ich will Ihnen aber dennoch sagen, wie sich das Thema aus unserer Sicht darstellt:

Um über die Bedingungen und die Zusammenhänge der eigenen Arbeit nachzudenken, haben wir unsere gewohnten Kontexte vor anderthalb Jahren verlassen und uns als neuen Handlungsrahmen die Konzeption und Durchführung dieses Symposiums gesetzt, dessen Thema damals noch nicht feststand. In diesem Moment begann für uns ein offener Prozess, in dessen Verlauf wir gedanklich und physisch die unterschiedlichsten Räume aufsuchten.

Wir haben in Bibliotheken, Museen und Universitäten nach Ansätzen gesucht, die uns für unsere Fragestellungen interessant erschienen und führten anschließend etwa 25 Gespräche mit Künstlern, Kunstvermittlern, Geistes- und Naturwissenschaftlern. Das Interessante dabei war: Je länger wir an diesem Projekt arbeiteten, um so häufiger wurde uns die Frage gestellt: Ist das eigentlich ein Kunstprojekt, das Sie da machen? Und sind Sie eigentlich Künstler? So belanglos diese Frage sein mag, so aufschlussreich ist sie auch. Denn in gewisser Weise befindet sich das Podium, von dem aus ich dieses Symposium eröffne, selbst schon im kritischen Bereich der Thematik.

Der Prozess, der mich auf dieses Territorium an der Peripherie künstlerischer Praxis gebracht hat, führt dazu, dass ich Sie hier begrüßen darf und Ihnen trotz Kompetenzproblemen eine kleine Einführung in das von uns gestellte Thema schuldig bin. Und in diesem Moment ist die Frage interessant, wie ich das tun werde und als was Sie mich dabei wahrnehmen.

Wenn ich wie ein Philosoph, ein Soziologe oder ein Kunsthistoriker argumentiere und rede, wird mich scheinbar nichts von diesen unterscheiden, außer, dass mir die spezifische Kompetenz fehlt. Wenn ich mich ganz unzweideutig als Künstler darstellen wollte, dann müsste ich vielleicht meine Sprache, meine Gesten und meine Symbole ändern, so dass Sie das Gefühl hätten, einer Performance beizuwohnen – ich bin mir aber nicht sicher, ob ich Ihnen damit eine vernünftige Einführung in die Thematik gegeben hätte, die hier weitgehend auf einer theoretischen Ebene diskutiert werden wird. Dass ich hier spreche und dieses Symposium eröffne, ist, wie gesagt, ein Resultat aus der künstlerischen Praxis von Marcel Bühler und mir – aber deshalb ist es für Sie vermutlich noch kein Kunsterlebnis.

Was also denken Sie das ich hier tue?
Das Einzige, was mich von den nachfolgenden Rednern offensichtlich unterscheidet ist, dass ich laut über mich und das Podium nachdenke, auf dem ich stehe. Aber ist das deshalb Kunst? Keinem der nachfolgenden Redner wird es anders gehen, auch wenn er es nicht explizit sagen wird. Und dennoch werden Sie den Soziologen einen Soziologen nennen, die Philosophin eine Philosophin und den Kunsthistoriker einen Kunsthistoriker. Wenn ich hier zu Ihnen spreche, jetzt, werden Sie mich dann einen Künstler nennen, sobald ich Ihnen sage, dass ich einer sei? Und wo, bzw. was wäre dann meine Kunst? Und noch schlimmer: die von Marcel Bühler, der im Moment nicht hier oben steht und spricht?

Und wenn wir Sie fragen, ob sie das Projekt schau-vogel-schau für ein Kunstprojekt halten, werden Sie dann antworten: Ja, es ist ein Kunstprojekt!? Wenn Sie so antworten, was halten Sie dann nicht für ein Kunstprojekt? Was ist dann Ihr Kunstbegriff? Und ist er nicht so weit gefasst, dass Sie Gefahr laufen, alles und jeden für Kunst oder Künstler zu halten, wo obendrauf Kunstverein und untendrunter »Gefördert durch den KUNSTFONDS Bonn« steht? Wenn Sie unsere Frage verneinen, was sind wir dann, und was ist schau-vogel-schau?

Es ist manchmal gar nicht so einfach, die Dinge beim Namen zu nennen und zu sagen, in welchem Kontext sie stehen. Denn wie Sie auch antworten, Sie werden weder dieses Symposium so ohne weiteres als Kunst bezeichnen wollen, noch werden Sie ignorieren können, dass ohne die beiden Initiatoren, die aus dem Kunstkontext kommen, dieses Symposium nicht stattfinden würde und Sie nicht hier wären.

Wenn Sie, wie wir auch, unser Projekt und mein Reden von diesem Podium aus keinesfalls leichtfertig als Kunst bezeichnen wollen – als was werden Sie es dann bezeichnen? Wenn ich Ihnen sage, meine Rede sei Kunst, dann werden Sie sie schon aus Gründen der Höflichkeit unter Kunst verbuchen. Wenn ich Ihnen nichts sage, außer einiger Überlegungen, die sich konkret auf das Thema des Symposiums beziehen, dann werden Sie mein Reden vermutlich für einen theoretischen Essay halten und nicht eine Sekunde daran denken, einer künstlerischen Aktion beizuwohnen – was Sie jetzt vielleicht tun.

Der Kontext, in den ich meine Rede stelle und der Kontext, in dem Sie gewillt sind, sie zu hören, entscheiden also gemeinsam über das Erlebnis, das Sie haben werden und darüber, wie Sie es benennen. Und das heißt, aus meiner Sicht – und vielleicht jetzt auch aus Ihrer – beginnt das Phänomen und das Problem der Interkontextualität in jenem Moment, in dem ich zu reden beginne.

Sie können nun natürlich sagen, ob wir schau-vogel-schau unter Kunst verbuchen und mein Reden für eine künstlerische Aktion an der Peripherie des gewohnten Kunstgenusses halten, tut überhaupt nichts zur Sache. Wichtig ist nur die Sache selber: Das Thema, über das ich bislang scheinbar kaum etwas gesagt habe und die Tatsache, dass wir hier sind, um zu diskutieren. Und mit diesem Einwand hätten Sie natürlich Recht. Es geht auch nicht um schau-vogel-schau oder um eine Definition von Kunst oder von dem, was ich hier tue, sondern ich möchte Ihnen einen Vorgeschmack auf einige Fragen geben, die hier diskutiert werden sollen und ich möchte Ihnen ein Gefühl für die Bredouille geben, in die man kommen kann, wenn man sich zwischen unterschiedlichen Kontexten bewegt.

Den sieben Konzepten zu diesem Symposium haben wir jedes Mal ein Zitat Arthur C. Dantos vorangestellt. In »Kunst nach dem Ende der Kunst« schreibt er:
»Ich nehme an, daß wir uns auf eine lange Periode gefaßt machen können, in der Künstler, von der Kritik angefeuert, leidenschaftlich gegen Grenzen angehen, die in Wirklichkeit gar keine Überschreitung zulassen. Ich sehe mit Freude einer Kunstwelt entgegen, in der dies erkannt wird.«

Künstlerinnen und Künstler haben vor allem in diesem Jahrhundert immer wieder versucht, die Grenzen künstlerischer Praktiken, Medien und Institutionen zu überschreiten, um neue Territorien für ihre Arbeit zu gewinnen. In der Kunst der Gegenwart setzt sich diese Entwicklung scheinbar fort in den Versuchen, die Kontexte der Kunst auf andere gesellschaftliche Felder auszuweiten, bzw. verschiedene gesellschaftliche Zusammenhänge in die künstlerische Praxis einzubeziehen.

Künstler gründen Firmen, Parteien oder Institute, entwickeln interdisziplinäre Forschungsprojekte, analysieren Archive, Museen und urbane Räume, Vogelgesänge und Philosophiebücher, es werden Dienstleistungen oder Produkte angeboten und vertrieben, Club-Events veranstaltet, Bars, Hotels und Boutiquen eröffnet, Häuser gekauft, Werbespots gedreht, Symposien gemacht etc.

So wie es im Laufe dieses Jahrhunderts irgendwann keine Rolle mehr spielte, ob man heute ein Bild malte, morgen einen Film drehte, übermorgen ein Buch schrieb und am Sonntag eine Multimediainstallation aufbaute, so nehmen sich Künstler heute die Freiheit, ebenso mit Botanikern, Physikern und Architekten zusammenzuarbeiten, wie mit Kuratoren, Börsenmarklern, Rechtsanwälten oder Obdachlosen. Als Arbeitsumfeld eignet sich eine Versicherungsanstalt genauso wie ein Stadtviertel, eine Bibliothek, ein Labor oder ein Auto. Material und Medium kann alles und jeder sein.

Ich spiele hier nur auf einen kleinen Teil der Grenzgänge und kontextübergreifenden Strategien an, mit denen wir es heute im Umfeld der Kunst zu tun haben. Ob es sich dabei um Grenzüberschreitungen handelt, ist fragwürdig. Sicherlich handelt es sich um Grenzsituationen und Erfahrungen, die aufs Neue nach den Kontexten und Grenzen der Kunst fragen, nach der gesellschaftlichen Position des Künstlers und nach einer möglichen Erweiterung von Produktions-, Rezeptions- und Distributionsweisen.

Wir haben vorgeschlagen, statt von Grenzüberschreitungen von interkontextuellen Prozessen zu sprechen, d.h. von Arbeits-, Rezeptions- und Distributionswegen, bei denen unterschiedliche Kontexte miteinander verknüpft, überlagert oder in Beziehung zueinander gesetzt werden, ohne dass dabei das Spezifische eines jeden Kontextes verloren geht. Die Frage nach der Grenze wird dabei interessant sein, denn einerseits kann es ohne deutlich voneinander getrennte Kontexte keine Beziehungen zwischen diesen geben – andererseits wird manchmal gerade dort, wo sich die Grenzen eines Territoriums nicht bestimmen lassen, seine Unfassbarkeit zur Sensation.

In vielen Interviews haben wir gemerkt, dass die Frage nach der Interkontextualität und nach den Grenzen der Kunst dann besonders deutlich wird, wenn wir nach den künstlerischen Kompetenzen fragen und danach, ob Künstler über Fähigkeiten verfügen, die außerhalb des Kunstkontextes von Bedeutung sind. Haben Künstlerinnen und Künstler bestimmte Kompetenzen, die sie in unterschiedliche gesellschaftliche Prozesse einbringen können? Und wenn nein, was würde das bedeuten? Und wenn ja, welche wären das, und inwiefern würden sie sich von den kreativen Fähigkeiten unterscheiden, die z. B. auch Wissenschaftler und Designer haben?

Oder ist Kunst im Gegenteil der Handlungsrahmen für gelebte Inkompetenz? Oder installiert sich Kunst in einer Dialektik von Fähigkeit und Unvermögen? Wir haben hier aber nicht nur nach der Interkontextualität und nach der künstlerischen Kompetenz gefragt, sondern auch nach der interkontextuellen künstlerischen Kompetenz. In einem Zustand der Gegenwart, der sich als zunehmend komplex und hybrid darstellt, versuchen Künstlerinnen und Künstler auf unterschiedlichste Weise, die verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit, in der sie leben, miteinander zu verbinden. Wie die Versuche, solche Verbindungen herzustellen, aussehen können, habe ich vorhin kurz angedeutet.

Ob dabei künstlerische Kompetenzen von Bedeutung sind, ob das Ästhetische dabei eine Hauptrolle spielt oder das Performative und Prozessuale, das wird hier Teil der Debatte sein. Eine Frage von uns, die zugleich These ist, lautet: Können wir diese Versuche als ein Experiment sehen, bei dem wir die künstlerische Autonomie, bei allen Einschränkungen, als ein freies Spiel der Erkenntnislüste begreifen, dem heute mehr soziale, ökonomische, technische, ästhetische und mediale Infrastrukturen zu Verfügung stehen als je zuvor? Und zeichnet sich dann die Dialektik oder das Paradoxon einer interkontextuellen künstlerische Praxis ab?

Einer Praxis, die innerhalb der kulturellen und gesellschaftlichen Flechtwerke die unterschiedlichsten Verknüpfungen und Dialoge konstruiert, durchspielt und erforscht, aber auf eine originär künstlerische Weise in den Kontext der Kunst transformiert. Eine solche Praxis baut am Flechtwerk der Wirklichkeit mit, indem sie aus den Segmenten, die sie umgibt, auf offener See das Floß zusammenzimmert, das sie selber bis auf weiteres tragen soll – um ein Bild des japanischen Philosophen Nishida nachzuzeichnen. Dort, wo eine solche Praxis an den Grenzen der eigenen Möglichkeiten scheitert, markiert sie Territorien und formuliert dabei vielleicht einen komplexen und hybriden Zustand der Gegenwart, der sich nicht in simpler Zeitgenossenschaft erschöpft.

Die Protoplast AG aus Basel hat uns im Übrigen angeboten, ein imaginäres Produkt für schau-vogel-schau zu entwickeln. Als wir geantwortet haben, dass sie das gerne tun können, dass wir aber leider nur mit imaginärem Geld bezahlen können, da haben wir nie wieder etwas von ihnen gehört.

Ich will die Frage nach der interkontextuellen künstlerischen Kompetenz abschließend noch einmal so stellen: Wie faltet sich die Kunst in ein Anderes, und wie faltet sich ein Anderes in die Kunst? Dieses Gefaltetsein haben wir in dem Vexierbild der Vogelschau gesehen, dass wir zum Titel unseres Projektes gemacht haben. Der Begriff der Vogelschau verweist zum einen auf die kultische Handlung der Auspizien im alten Rom, bei der die Priester von einem abgesteckten Terrain aus die Vögel beobachteten und aus deren Flug die Zukunft prophezeiten. Zum anderen steht der Begriff für den analytischen, forschenden Blick aus der Luftperspektive auf die phänomenale Welt. Das Verhältnis zwischen dieser phänomenalen Welt und ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit einerseits, und den künstlerischen Praktiken, Imaginationen, Antizipationen und Formfindungen andererseits, wird auf diesem Symposium diskutiert werden.

Dieses Symposium ist seinem Thema gemäß selbst hybrid angelegt. Wir waren der Meinung, dass man über Interkontextualität auch ein wenig interkontextuell diskutieren sollte und haben deshalb Referenten eingeladen, die sich der Generationen, Diskursfelder, Arbeitsansätze, Mentalitäten und Haltungen nach zum Teil deutlich voneinander unterscheiden.

Wir hoffen, dass wir durch unsere Auswahl einige gute Kontroversen ermöglichen können, und wir möchten Sie bitten, das Reden nicht nur den Vortragenden zu überlassen. Ein Symposium ist zwar ein Gelehrtentreffen, was es aber von einem Buch, von einem Hörspiel und von einem Theaterstück in der Regel unterscheidet, ist seine Möglichkeit zum offenen Dialog und die Tatsache, dass es nur einmal, und zwar in der Gegenwart existiert.

Und existieren heißt Jan Peter Sloterdijk zufolge »die Zuständigkeit für etwas übernehmen, auf das wir naturgemäß nicht vorbereitet sind«, und er fügt hinzu: »Die Kunst ist dazu verurteilt, das zu können, was sie nirgendwo gelernt hat«. Insofern schlage ich vor, dieses Symposium irgendwo zwischen Kunst und Gelehrtentreffen anzusiedeln und die Chance zu einem experimentellen Diskurs zu nutzen.

 

https://www.yumpu.com/de/document/read/3902106/pdf-publikation-10-mb-deutsch-kunst-verlassen


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