Zwischen 1963 bis 1969 entwarf Franz Erhard Walther die 58 Objekte seines 1. Werksatzes, der zu einem Klassiker der deutschen Nachkriegskunst wurde. Er passte in die »Bonner Republik«. Kaum 20 Jahre nach dem Ende des Faschismus war in Deutschland der Wunsch nach neuen, progressiven und zugleich unaufdringlichen Symbolen der Verständigung und des Gemeinsinns groß. Der 1. Werksatz bot sie. Zugleich fand er Anerkennung in den Augen internationaler Avantgarden, vor allem in den USA. Bereits 1969 zeigte ihn das Museum of Modern Art, 1972 Szeemanns Documenta 5. So konnte Walthers 1. Werksatz eine der künstlerischen Insignien für ein neues, ein demokratisches und weltoffenes deutsches Selbstbild werden.
Darin glich Walthers Rolle der von Beuys. Aber Beuys war eine andere Generation. Der Schamane aus Düsseldorf stellte sich – fußend auf alten, heroischen Künstlerbildern und einem zutiefst allegorischen Werkverständnis – selbst ins Zentrum seines bedeutungsschwangeren Kosmos, auf das man seinen Visionen folgen möge. Beuys machte die Düsseldorfer Kunstakademie, an der er hunderte von Gefolgsleuten versammelte, zeitweilig zum Ort nationalen Interesses. Walther studierte hier von 1962 bis 1964, orientierte sich jedoch an Künstlern wie Lucio Fontana, Yves Klein und Piero Manzoni, modernen Altarräubern alter Werkliturgien und Künstlermythen. Ganz im Gegensatz zu Beuys wollte Walther, dass seine Objekte bedeutungslos seinen. Allein für sich selbst genommen sollten sie nichts bieten, als die Möglichkeit einer Handlung, in der Bedeutung erst entsteht. »Ihre Bedeutung ist ihr Gebrauch. Das schrieb Wittgenstein über die Worte um zu sagen, dass die Sprache ohne den praktischen Rahmen und Zweck ihrer Verwendung leer ist. Nur für sich genommen bedeuten Worte nichts. Walther sagte gleiches über Kunstwerke und nahm damit hinsichtlich ihres epistemologischen Status eine entschieden antiessentialistische und pragmatische Position ein.
Die Objekte des 1. Werksatzes waren nicht gemacht, um angeschaut zu werden auf der Suche nach einem tieferen Sinn, der sich bei noch genauerem Hinsehen in ihnen finden lassen würde. Zumal wenn sie eingepackt waren wie meist, auch während sie ausgestellt wurden, ließ sich wenig »bedeutsames« an ihnen entdecken. Wenn sie etwas zur Erkenntnis der Menschen beizutragen hatten, dann erst als Folge einer Erfahrung, zu der sie wohl Anlass gaben, die sie aber keineswegs determinierten. Ihr Erkenntniswert blieb offen. Sie waren gemacht, um von einem Publikum benutzt zu werden. Erst dann machten sie Sinn. Sie »benutzen« hieß, die von Franz Erhard Walther konzipierten und unter Mithilfe von Johanna Walther gefertigten 58 Werkstücke (Walther) einzeln ihrem Lagerzustand zu entnehmen und sie gemäß den Vorgaben des Künstlers auszuführen bzw. den Nutzungsmöglichkeiten zu folgen, die in einem Objekt angelegt wurden und die Walther gelegentlich in Werkdemonstrationen (W) mit anderen vorführte. »Benutzen« hieß, sich eines von Walthers Objekten körperlich anzueignen – es zu entrollen, sich anzupassen, sich überzustülpen, meist gemeinsam mit anderen –, seine praktische und seine symbolische Funktion allmählich zu erfassen und am eignen Leib zu erfahren. In Walthers Worten: Eine Werksituation (W) oder einen Werkprozess (W) herzustellen, in der sich ein Werkgedanke (W) in dem Akt einer Werkhandlung (W) vollzieht.
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Situation, Prozess, Gedanke, Handlung. Das sind Schlüsselbegriffe der progressiven und gesellschaftlich orientierten Kunstbewegungen der 1960er Jahre. Als man loskommen wollte von Kunstbegriffen, die statisch und ohne Bezug zur Wirklichkeit klangen. Ehrfurcht vor einem Werk und seinem Schöpfer stand hier synonym für bürgerliche Konventionen (vor denen Walther aus seiner katholizistischen Heimatstadt Fulda floh sobald er konnte), für festgefügte soziale Rollenmuster, für institutionalisierte Ordnungen sowohl der Dinge als auch der Menschen, für die Logik fordistischer Produktion und der Arbeitsverhältnisse, die sie stiftet. Heute, in der post-fordistischen, wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft mit ihren geistigen und digitalen Produkten und virtuellen Werten, tun wir uns zumindest theoretisch leichter damit, Kunstwerke nicht bloß mit zur Anschauung gefertigten Gegenständen gleichzusetzen, sondern Ideen, immaterielle Güter, prozessuale Abläufe und die Integration und Partizipation des Publikums durchaus als Werke anzuerkennen. Mitte der Sechziger Jahre musste ein solcher Kunstbegriff aber erst gegen Widerstände sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Fachwelt durchgesetzt werden, denn er rüttelte nicht nur an akademischen Kategorien und den Autoritäten, die sie vertraten, sondern auch an bestehenden Besitzverhältnissen. (Und auch unter heutigen »Avantgarden« und zumal im Mainstream ist es weiterhin eine Herausforderung, die Immaterialität bzw. den sozialen Charakter eines Werkes praktisch anzuerkennen – es gibt weder klare ökonomische Spielregeln noch geregelte institutionelle Umgangsformen dafür. Wäre es anders, hätte man jüngst um Tino Sehgal so viel Aufhebens gemacht? Oder um die »Kommunikativität« der Arbeit Rirkrit Tiravanijas oder Liam Gillicks.)
Franz Erhard Walther begann ab Mitte der 1960er Jahr alte Werkbegriffe umzuschreiben, indem er ihnen performative Konnotationen gab und neue Gebrauchszusammenhänge für ihre Verwendung schuf. In der künstlerischen Praxis wie in der Begriffsarbeit (Walther konzipierte zahlreiche Publikationen formal wie inhaltlich selbst). Walter gab den Werkbegriff nicht auf – er gab ihm neue Wendungen. Er ersetzte ihn durch kein aktionistisches Vokabular und vermied Formeln der »Entgrenzung« von Kunst und Leben. Aber er löste den Werkbegriff vom Objekt. Er entmaterialisierte ihn wie es dann auch die Konzeptkunst tat, ohne ihn jedoch zu intellektualisieren. Er verwendete ihn pragmatisch, setzte ihn in instrumentelle Zusammenhänge. Er konzipierte und beschrieb seine Werke in einem geradezu buchstäblichen Sinn als Mittel, als Vehikel, Instrumente und Werkzeuge (W). Aber er forcierte nicht ihren Prozesscharakter und distanzierte sich von einer Rezeption seiner Werkdemonstrationen als Performances. Walther blieb dicht an der Typographie und der Bildhauerei – interessierte sich für Zwischenräume. Die er aber als Relation zwischen Menschen verstand. Schrift und bildhauerische Skizzen finden sich in den Werkzeichnungen Hand in Hand und verbinden Raum, Tätigkeit und Terminologie.
Heute, wo Walthers Position kanonisiert ist und sich fünf von acht Exemplaren der Edition seines 1. Werksatzes in Museumssammlungen finden, vergisst man bisweilen, was die Zielrichtung dieser künstlerischen und terminologischen Arbeit war: den Kunstbegriff aus seiner Verankerung in einer zutiefst Objekt-zentrierten Tradition zu lösen und ein Praxisverständnis zu etablieren, für das Kunst nicht nur im Sinne der kollektiven Rezeption eine gesellschaftliche Veranstaltung war, sondern auch im Sinne ihrer Produktion. Walther stellte die Instrumente bereit und zeigte, wie sie funktionierten – ihre Verwendung, die den Werkprozess erst immer wieder neu vollendete, lag aber bei den Nutzerinnen und Mitspielern. Walther sah sie als Co-Autoren des
Werkes an. In einem Werkdiagramm von 1966 streicht er den Begriff Künstler und setzt die Produzenten einer Werkerfahrung mit den Benutzern der Werkzeuge gleich, die er bereit stellte. Damit warf er den Ball weit in die Zukunft. Walthers Vorstellung war, die omnipotente Position des Künstlers bei der Bedeutungsproduktion zu streichen und ein »Kunstwerk« als den Akt der Verwendung eines Handlungsangebotes zu betrachten, den ein Publikum vollzieht.
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Walther schlug vor, Kunst nicht länger unabhängig von ihrer Verwendung durch eine Öffentlichkeit zu denken und dieser Mit-Autorschaft an der Form und Bedeutung der Kunstwerke zuzusprechen, die sie sich privat oder institutionell zu Eigen macht. Die Pointe dieses Vorschlags lag darin, gesellschaftliche Produkte und Projekte jeder Art nicht als Selbstzweck, sondern als Organisationsformen sozialen Gebrauchs zu betrachten. Als Werkzeuge zur Konstruktion sozialer Gemeinschaften, die im besten Fall auf der Erfahrung von Teilhabe und Mitteilbarkeit gründen. Bis heute regt sich größter Widerstand gegen ein solches, »instrumentelles« Kunstverständnis. Gegen »Zwecke« und »Ziele« der Kunst. Als nähmen ihr ausgerechnet diese die Freiheit! Vom generellen Mythencharakter der »Künstlerischen Unabhängigkeit« und von den impliziten Zielsetzungen jedes ästhetischen Aktes einmal ganz abgesehen, werden Instrumente und Werkzeuge in der Regel zwar erfunden, um bestimmten, vorhersehbaren Zwecken zu dienen, bringen aber – einmal erfunden – auch neue Zwecke in die Welt. Dinge, die sich nun plötzlich tun lassen, auf die man zuvor gar nicht gekommen wäre. In Bezug auf die Konstitution eines Gemeinwesens klingt das weniger nach Zweckerfüllung, mehr nach Revolution (Tatsächlich beschrieb Thomas S. Kuhn diesen performativen Charakter im Gebrauch neuer Werkzeuge 1962 in dem Buch »Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen«).
Aber zu welchem Gebrauch taugen nun die Werkstücke des 1. Werksatzes? Zu welchem nicht? Welche Verwendungsformen wären eine Überraschung? Nehmen wir die Elfmeterbahn von 1964. Die weiße, elf Meter lange Textilbahn aus Nylonstoff mit langen Schlaufen an ihren Enden ist in ihrem Lagerzustand aufgerollt. Was mit ihr zu tun ist wissen wir aus einer Werkdemonstration Walthers oder Aufgrund von schriftlichen Handlungsanweisungen, durch erklärende und reflektierende Zeichnungen oder aus inszenierten oder dokumentarischen Fotografien und Filmaufnahmen: Zwei Personen können die elf Meter Textil ausrollen, die Schlaufen um ihren Hals binden und die Bahn zwischen ihre Körper spannen. Ihr Abstand zueinander ist so variabel wie es die Beschaffenheit der Bahn erlaubt. Sie schauen sich dabei vielleicht an und verständigen sich über die Situation. An welchem Ort? In einem Museum? Auf einer leeren Wiese? Im Berliner Hauptbahnhof? Wird gesprochen? Worüber? Wird sich bewegt? Wechseln die Benutzer?
Es gibt mögliche, plausible und kanonisierte Formen der Benutzung der Elfmeterbahn. Es gibt auch alberne, absurde, unvorhergesehene Verwendungen. Fotografien, die lange Zeit unveröffentlicht blieben oder wenig beachtet wurden, zeigen Franz Erhard Walther und verschiedene Co-Autoren selbst in unorthodoxen Gebrauchssituationen, die der idealisierten und kanonisierten Werkdarstellung zuwiderlaufen. Deshalb sind sie nicht »falsch«. Es sind Varianten. Wenn es keine Werkbedeutung gibt, die dem Gebrauch in einer Werkhandlung vorausgeht, dann kann es keine falsche und keine richtige Verwendung geben. Es gibt die Erfahrung mit dem Objekt an einem Ort je aktuell, und sie liegt in der Hand (und in der Verantwortung) der handelnden Akteure.
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Walthers Werke bleiben notwendig unabgeschlossen. Sie appellieren an unsere Teilnahmefähigkeit, nicht an unsere Ehrerbietung. Sie organisieren sich in der Zeit. Nicht, weil sie ausschließlich im Akt ihrer Verwendung existierten. Das wäre ein Missverständnis. Ihr Hauptzustand ist ihre Lagerform, in der sie die Potenz bewahren, jederzeit in eine Handlung zu führen. Es sind Modelle symbolischer Teilhabe, die sich von Fall zu Fall aktivieren, erfahren und überprüfen lassen. Sie wollen nicht aufgrund ihrer Eigenqualitäten sondern wegen ihrer Mediatorenfunktion geschätzt und bewertet werden. Es sind gar keine ästhetischen Objekte im traditionellen Sinn. Eine Anschauung, die sich in sie versenken will, wird auf die Handlungssituation verwiesen, zu der sie Anlass geben und auf die Erfahrungsdimension, die sie stiften können. Und die ist dann ebenso eine ästhetische wie eine empathische und sozial vollkommen reale Dimension des Handelns, nicht der Kontemplation.
Walther hat 1962/63, unmittelbar vor dem 1. Werksatz, skulpturale Gesten vollzogen – etwa das Auslegen rechteckiger Papierobjekte am Boden oder die Bezeichnung einer geometrischen Form durch im Raum gespannte Fäden – , wie wir sie zeitgleich oder später bei Carl Andre, Donald Judd und Fred Sandback finden, Hauptvertretern des amerikanischen Minimalismus. Aber anders als diese hatte Walther kein Interesse an der Entpersönlichung des Kunstwerkes, an dessen radikaler »Selbstheit«. Nicht das am Boden liegende Objekt interessierte ihn, sondern das Auslegen, Ordnen und Einsammeln, das Flüchtige und Flexible der Situation im Raum, das Werk als Prozess. Während die Fachwelt lange diskutierte, wie sehr die Skulpturen der amerikanischen Minimalisten tatsächlich »bei sich selbst« waren, allein mit ihrer »Objektivität«, oder ob sie nicht vielmehr die Rolle ihrer Selbstheit für die Blicke ihrer Betrachter einnahmen – weshalb George Didi Huberman sie später als »Schauspieler« bezeichnete – ging Walther von Anfang an von einem relationalen Verhältnis von Objekt und Subjekt aus, wobei er der Handlungserfahrung des Subjektes, nicht der Identität des Kunstobjektes Priorität gab.
Das rückt seine Position in unmittelbare Nähe zu der jüngst wieder rezipierten Charlotte Posenenske, die 1969 ihre künstlerische Praxis niederlegte und das Kunstfeld verließ, um ihre Arbeit an partizipatorischen Arbeitsmodellen in der Soziologie fortzusetzen (die sie dafür als besser geeignet betrachtete als die Kunst). Auch Posenenskes formal dem Minimalismus zuzuordnende Skulpturen von 1967/1968 waren weniger für die Anschauung als vielmehr zur Aneignung, zur Verwendung, ja zum Umbauen durch ihr Betrachter/Benutzer entwickelt worden. Walther und Posenenske können für eine politisierbare, gesellschaftlich orientierte Alternative zur amerikanischen Minimal Art stehen, die ja immer wieder für ihren essentialistischen und apolitischen Charakter kritisiert wurde.
Ich schlage vor, Posenenskes und Walthers Ansatz als »Partizipatorischen Minimalismus« zu bezeichnen. Einerseits im Sinne eines antiessentialistischen Minimalismus, dessen Form- und Materialeinsatz soziale Situationen stiftet und im Raum organisiert. Skulpturale Anordnungen, die meist unabgeschlossen bleiben, rücken dabei so in den Aktionsradius von BetrachterInnen, dass deren Teilnahme am Zustandekommen und/ oder an der möglichen Veränderung dieser Anordnungen für das Werkverständnis konstitutiv wird und damit auch die Rezeption der Skulptur als soziales Ereignis bestimmt. Zum anderen im Sinne eines stark formalisierten Partizipationsangebotes, das sich weder an der tatsächlichen »Mitmach-Dimension« vieler Partizipationskunst, noch an der praktischen Organisation von Aktionsgemeinschaften orientiert, sondern vielmehr auf eine grundlegend relationale Werkkonzeption hinaus will. Posenenskes und Walthers Partizipatorischer Minimalismus – der vielleicht nicht zufällig 20 Jahre nach Kriegsende in Deutschland entstand – rechnet mit der Handlungsbereitschaft des Publikums und entwirft typisierte Handlungsmodelle für den individuellen oder kollektiven symbolischen Gebrauch. Die Teilhabe an kultureller Praxis wird dabei letztlich als konkrete Erfahrung der Gestaltung eines demokratischen Gemeinwesens begriffen.