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Nicht alle Macht geht vom Volke aus, manch Kunstwerk schon. Über Wandel und kulturelle Selbstwirksamkeit

1987 entschied die Regierung, dem im bundesdurchschnitt viel zu geringen Bildungsniveau in Bremen mit folgender Maßnahme zu begegnen: Man schickte zwei Drittel der Führungspersönlichkeiten an Schulen und Unis in Frührente und ersetzte sie durch Personal aus dem bildungsstarken Bayern, um bessere Standards einzuführen. Eine Buschzulage, wie man umgangssprachlich sagte, sollte dafür Anreize schaffen, denn niemand wäre freiwillig aus Bayern nach Bremen gegangen. Alle fanden diese Maßnahme eine gute Idee.

Undenkbar, nicht wahr? Kein Mensch wäre in der Bundesrepublik jemals auf eine solche Idee gekommen. Und in Bremen hätte man das auch nicht gut gefunden, sondern würde einen Aufschrei durch die Welt geschickt haben, der in Medienmeldungen etwa so gelautet hätte: Deutsche Regierung nimmt Bundesland Souveränität und richtet koloniale Verwaltungsstrukturen ein!

Gewiss, die Ausgangslage in den neuen Bundesländern zu Beginn der Neunzigerjahre war völlig anders. Vieles war ganz neu um- und aufzubauen, auch Verwaltungsapparate. Und doch macht mein fiktives Beispiel klar, wie krass die Maßnahmen waren, die nach der Wende vom Westen im Osten installiert wurden. Anstatt einen gemeinsamen Transformations- und Lernprozess zu beginnen und auf lokale Ressourcen, Kompetenzen und Engagements aufzubauen, trug die Wiedervereinigung koloniale Züge. Sie haben sich tief in die Erfahrungswelt vieler Menschen eingeschrieben. Nicht nur im Osten.

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Ich bin ein Wendekind. Aus dem Westen. Ich war Sechzehn, als die Mauer fiel, und mein junges politisches Interesse kannte damals nichts Wichtigeres. Ich leitete die Schülerzeitschrift unseres Gymnasiums und täglich beobachteten wir in der Redaktion, was geschah. Den Tag der Wiedervereinigung erklärten wir symbolisch zum Volkstrauertag, hissten eine schwarze Fahne und hielten in der Fußgängerzone eine Mahnwache ab. Denn wir vermeinten einer Annexion beizuwohnen, bei der die Bürgerinnen und Bürger der Ex-DDR entmachtet und entmündigt wurden, von denen viele aufgebrochen waren, um gemeinsam darüber nachzudenken, wie man sich künftig als freie demokratische Gesellschaft neu verfassen wolle. Die progressiven politischen Impulse dieser Zeit waren beispiellos. Als kritischen jungen Leuten am Ende der Thatcher-Ära war uns ja klar, dass unser eigenes politisches und wirtschaftliches System keineswegs die beste aller Welten war. Wir hatten auch keine romantischen Gefühle dem Sozialismus gegenüber – aber wir hofften inständig, dass durch die neuen Akteure im Osten die Karten neu gemischt und etwas aufdecken würden, das besser wäre als das, was wir hüben und drüben bislang hatten. Die Kohl-Regierung riss dann die Karten an sich legte das Blatt zu ihren Gunsten aus.

1992, mit Achtzehn, ging ich in den Osten, machte Zivildienst und studierte in Dresden und Leipzig, lebte später in Ostberlin und in Brandenburg. Heute gehöre ich selbst zu jenen Führungspersönlichkeiten im Kulturbetrieb, die aus dem Westen kommen, ihren eigenen gelebten – privilegierten – Osthintergrund haben, ohne im Osten je wirklich dazu gehört zu haben, während ich mich vom saturierten Westen entfremdet habe, dem ich bornierte Besitzstandswahrung vorwerfe, und also auch dort nicht mehr dazu gehöre. Das ist meine private Transformationserfahrung der letzten 30 Jahre. Wenn jemand sagt, unsere Gesellschaft sei gespalten, dann denke ich an manchen Tagen: Ja. In mir auch.

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Und an anderen Tagen denke ich das nicht. Zusammen mit vielen Mitstreitenden habe ich seit 2007 in einigen Teilen Deutschlands (Ost und West) ein Programm mit aufgebaut, das als eine Plattform zur bürgerschaftlichen Selbstermächtigung gelten könnte. Als ein Umverteilungsmodell sozialer und kultureller Gestaltungsmöglichkeiten, das aus Privilegien, die nur wenige genießen, ein Handlungsangebot für Viele macht.

Das Programm „Neue Auftraggeber“ bietet Menschen aus allen Gesellschaftsschichten die Möglichkeit, Künstler*innen damit zu beauftragen, Projekte zu entwickeln, die mit großer Ambition vor Ort ein Stück der eigenen Lebensumwelt und Lebenswirklichkeit verändern sollen. Bürgergruppen in Dörfern und Stadtquartieren werden von Mediator*innen dabei begleitet, in einem offenen Prozess Verantwortung für Belange der Gemeinschaft zu übernehmen und in der Zusammenarbeit mit erfahrenen Kulturschaffenden Herausforderungen der Gegenwart auf neuen Wegen anzugehen.

Das Bild, das ich für diese Publikation ausgewählt habe, zeigt den Entwurf eines Kunstwerks des renommierten Künstlers Daniel Knorr. Er entstand 2021 im Auftrag von acht Lehrerinnen, die sich in der Greifswalder Plattenbausiedlung Schönwalde I an der Intergrierten Gesamtschule IGS Erwin Fischer mit großem Engagement und auch Erfolg um die ihnen anvertrauten Kinder, Jugendlichen, und auch Eltern kümmern. Trotz des positiven Klimas in der Schule gilt sie in den Augen der Stadtbevölkerung als Problemschule. Um dieses falsche Bild zu korrigieren wünschten sich die Lehrerinnen ein Kunstwerk, das weithin sichtbar ein Zeichen dafür setzt, dass Integration und Zusammenhalt im Schulalltag gelingen! Knorrs Entwurf mit dem Titel „Engagement“ zeigt einen großen, goldenen, mit leuchtenden Juwelen überkrönten Verlobungsring, der auf einem Pavillon vor der Schule in die Höhe ragen soll: Als ein Zeichen der Verbindung, der Einheit und Gemeinsamkeit, auch des Versprechens, mit Optimismus einen Teil des kommenden Lebensweges zusammen zu gehen. Zugleich soll dem Stadtviertel mit dem Werk etwas geschenkt werden, das die Vergangenheit zurücklässt und Mut und Lust macht, Verbindung neu zu denken.

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Auftragswerke wie dieses markieren einen Wendepunkt in der Deutschen Kulturlandschaft. Im alten Westen waren es Kommunen und Institutionen, Unternehmen oder vermögende Einzelne, die Künstler*innen mit der Erfindung neuer Werke betrauen konnten. Im Osten war Auftragskunst weitgehend ein Instrument des Staates und unterlag Kontrolle und Reglementierung. In beiden Systemen gab es keine Möglichkeit, dass acht Lehrerinnen unabhängig von jeder äußeren Autorität als freie Bürgerinnen selbst ein Anliegen aufbringen und in direkter Zusammenarbeit mit einem bekannten Künstler ihrer Leistung und ihren Werten ein öffentliches Denkmal setzen.

Das wurde erst möglich, als man 1990 in Frankreich das Mediationsmodell der Neuen Auftraggeber erfand und die mit Auftraggeberschaft verbundene Macht und die nötigen Ressourcen für jeden zugänglich wurden.1 Seither entstanden dank dieses Modells europaweit über 500 Projekte. Hinter ihnen stehen tausende von Bürger*innen, die sich für das Gemeinwohl mobilisiert haben. Aktuell entstehen in Deutschland zwanzig Projekte im Bürgerauftrag – der Bedarf in der Bevölkerung ist um ein Vielfaches Größer. Menschen im Westen fällt es etwas leichter, als Auftraggeber initiativ zu werden, im Osten scheinen historische Erfahrungen diesen Schritt mitunter zu erschweren. Aber hier wie dort zeigt sich der Wille, etwas zu bewegen, etwas zu tun, das zählt. Viele Leute sind lange Zeit herumgeschubst, entmündigt und enttäuscht worden, in Ost wie in West. Und sie stehen in den Projekten der Neuen Auftraggeber auf und holen sich ein Stück ihrer Welt symbolisch zurück, eignen es sich an, geben ihm Gestalt, füllen es mit Gemeinsinn. Da sind schweigende Dorfgemeinschaften, die wieder zu reden beginnen. Da sind Konflikte, die man verdrängt hatte und nun angeht, weil es neue Perspektiven für ein gemeinsames Handeln in der Zukunft gibt. Da sind Fragen des Daseins, auf die niemand fertige Antworten hat, auch die Kunst nicht. Aber die Kunst versteht es, solchen Fragen nicht auszuweichen, sie aufzugreifen und ins Licht zu halten, dass man sie besser sehen kann.

Im Programm der Neuen Auftraggeber bildet sich deutschland- und europaweit ein neues bürgerschaftliches Engagement heraus, das von der der Kunst Gebrauch macht, um Selbstwirksamkeit in dem zu erleben, was Transformation genannt wird und in einer Demokratie bedeuten sollte, dass diejenigen, die von Wandel betroffen sind, diesen Wandel mit erzeugen. Manches, was im Wendeprozess schiefging, wie die ungerechte Verteilung von Mitsprache und Entscheidungsgewalt, kann in Bürgerprojekten der Neuen Auftraggeber korrigiert werden.

Alexander Koch, November 2021

Erschienen in: Franziska Richter (Hg.), Traumaland. Wer wir sind und sein könnten. Identität & Zusammenhalt in Ost und West, Bonn 2021

1 Zur Funktionsweise des Mediationsmodells der Neuen Auftraggeber vergleiche www.neuauftraggeber.de


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