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Der letzte Tag des Jahres

Leseproben

Seite 1 ff.

Maria Magdalena starb am letzten Tag des Jahres. Wir kannten uns drei Tage und fünf Abende lang, ehe uns eine Welle in den Atlantik riss. Maria ertrank, ich nicht. Das ist jetzt fünf Tage her. Gestern veröffentlichte das Staatstheater Wiesbaden eine Pressemitteilung. Eine der radikalsten Theatermacherinnen und Kuratorinnen des Landes sei viel zu früh verstorben. Heute früh kam eine Nachricht von meiner Mutter. Auch in ihrer Lokalzeitung im Sauerland habe es gestanden. Da habe auch gestanden, ein Mann hätte noch versucht, die Frau zu retten. Ob das stimme, fragte sie. Das stimmt nicht, wie nun auch meine Mutter weiß, nachdem wir telefonierten. Ich habe nicht versucht, Dich zu retten. Dazu war keine Zeit.

Das Wort Radikal sei da übrigens nicht gestanden in dem Artikel, sagte meine Mutter in einem zweiten Telefonat, nachdem ich ihr die ersten Sätze dieses Textes geschickt hatte, um sie zu fragen, ob ich sie darin vorkommen lassen könne. Sie meinte, wenn man schon im ersten Satz weiß, dass Du tot bist, dann bekäme ich Probleme mit dem Spannungsbogen. Sie fände es aber gut, dass ich schreibe, meinte sie, das lenke mich ab. Ich fand das unmöglich und beendete das Gespräch.

Mit dem Wort Radikal hat sie aber recht. Das stand nicht in dem Artikel. Das stammt von mir. Für einen Pressetext wäre es sicher zu laut und zu anmaßend gewesen. Aber Du warst nun mal laut und anmaßend. Das will nur niemand sagen. Hier haben alle Angst, Maria. Ich jetzt auch. Vor dem Salzgeschmack in der Lunge, vor dem Sog hinaus aufs Meer, und vor all den Altären in den Kirchen und Museen, die Maria Magdalena zeigen, die den toten Geliebten beweint, wo doch heute ich es bin, der in vertauschten Rollen auf Dich schaut.

***

Das ist jetzt vier Jahre her. Vier Jahre, an denen ich an diesem Text gearbeitet habe. An Details. Einige Worte, etwas Satzbau, manchmal fiel mir noch etwas ein, das ich zuvor nicht erinnern konnte. Gelegentlich war ein Absatz verzichtbar. Um mehr zu verändern, hatte ich nicht viele Möglichkeiten, weil das, was ich geschrieben habe, mit zu dem gehört, was geschehen ist. Man hat mir immer wieder geraten, ich solle aus dem Material einen Roman machen, aber das geht für mich nicht. Auch Autofiction geht nicht. Nicht, weil ich an Wahrheit oder Authentizität glaube, sondern weil ich mir das alles ja nicht ausgedacht habe und der Text nun einmal so entstanden ist, wie er entstanden ist, teils unter Schock, wie ich heute weiß. Insofern ist er ein Dokument. Die ersten 150 Seiten (mein Manuskript hat 220 Seiten) habe ich in wenigen Tagen zwischen dem 5. und dem 12. Januar geschrieben. Dass ich jetzt eine Art Präambel schreibe, liegt daran, dass der Icherzähler der Geschichte in seiner eigenen Zeit schreibt, in einem Hier und Jetzt, das vergangen ist, und das der Autor der Erzählung, ich, heute nicht mehr zur Verfügung hat, während ich Ende Dezember mit dem Laptop in einem Café in Istanbul sitze, wo ich jetzt manchmal lebe, und das Manuskript noch einmal überarbeite und nicht so tun kann, als gäbe es mich nicht. Mich, vier Jahre später, der sich selbst noch einmal liest als jemanden, für den es damals nur noch Worte gab, während es heute für mich wieder eine Welt gibt. Eine Welt allerdings, die jedes Jahr wunder wird und lauter schreit, als Maria und ich es damals hätten ahnen können, wobei mich das, was nach uns geschah, nicht wirklich überrascht hat. Maria hätte es wahrscheinlich auch nicht überrascht.

Zum Jahresende hin hole ich den Text, der nun folgt, immer wieder hervor und klopfe gegen einige Sätze, weil ich nervös bin. Auch diesmal. An Sylvester schaue ich regelmäßig auf die Uhr. Nicht kurz vor Mitternacht. Den Zeitpunkt kennt jeder, er kommt zuverlässig und auf die Sekunde und man kann ihn kaum verpassen. Mein Zeitpunkt liegt am Nachmittag irgendwo um 16 Uhr. Genau weiß ich das nicht. Das macht es so unangenehm. Es ist nicht so, dass ich darauf warte. Ich weiß nur, dass sich der Zeiger dorthin bewegt, und mein Puls wird dann allmählich schneller, weil mir alles wieder einfällt. Und dann brauche ich mein Buch. Um mich zu vergewissern. Es ist noch immer nicht publiziert. Die Verlage, denen ich das Manuskript geschickt habe, wollten es nicht drucken. Es sei schon ganz gut, hat man mitunter gesagt. Nur sei das Genre und damit das Marktsegment nicht klar (Machen Sie doch eine Novelle daraus!), oder, auch nett: Wären Sie berühmt, wäre das ein toller Stoff. Auch für einen Film. Aber Sie kennt ja niemand (Was ich übertrieben finde, aber sei’s drum). Solange also niemand meine Erzählung lesen kann, weil sie in keiner Buchhandlung liegt, lese ich sie selbst, damit sie da ist. Wird sie gedruckt, kann ich damit aufhören und sie zu den anderen Büchern ins Regal stellen. Einstweilen beginne ich jedes Jahr wieder von vorne.

(…)

Unsere Leben waren ähnlich, wenn ich auch meines grauer fand. Geld hatten wir beide nicht viel, und was reinkam war gleich wieder fort. Doch hatten wir das Privileg, in der Kunstwelt hierhin und dorthin eingeladen zu werden und gelegentlich am Saum des Überschwangs mit am Tisch zu sitzen, wenn der Champagner floss. Sie arbeitete wie ich gut und gerne siebzig Stunden die Woche, wobei zu diesen Stunden auch die langen Abende mit Künstlerinnen und Intellektuellen zählten, Recherchereisen, oder in Kneipen sitzend an Kulis kauen und Konzepte schreiben. Im Grunde mochte jeder von uns seine Existenz und konnte sich sowieso keine andere vorstellen. Und doch war ich ausgelaugt, wie ich sagte. Ich pendelte seit Jahren als Handlungsreisender zwischen verschiedenen sozialen Welten hin und her, wie es in unserem Beruf üblich war, ohne je irgendwo wirklich dazuzugehören oder gar anzukommen. Es konnte vorkommen, dass ich morgens bei einer wohlhabenden Kunstsammlerin brunchte, danach eine Gruppe junger Kurden für ein Buchprojekt über Flucht und Vertreibung traf, und abends die letzten Münzen in der Hosentasche für ein Bier in der Eckkneipe ausgab. Maria kannte das. Wie ich managte sie jedes Jahr hunderttausende Euro von Fördergeldern, durchwanderte die armen und reichen Milieus der großen Städte und fühlte sich manchmal stark, wenn sie mit ihren Fingern einige Stücke aus dem Kuchen des Kapitals pulte, um sie dorthin zu bringen, wo man sie wirklich brauchte, wie wir fanden, ohne selbst viel davon abzubekommen. Es klingt wie ein Klischee, ich weiß. Aber wir lebten so.

Jetzt, da wir sprachen, durchquerte ich die Widersprüche in mir, die mit der Zeit immer beklemmender geworden waren. Täglich schoben sich die Wände des Kommerzes und die Lebenslügen der liberalen Kulturelite, zu der wir selbst zählten, näher um mich zusammen und rückten dem Glauben an die sozialen Ambitionen auf die Pelle, die ich mit der Kunst stets verbunden hatte. Während ich nicht sicher war, ob ich nicht längst selbst in einer Lebenslüge lebte. Einige Generationen lang war die Kunst für einen Teil der Menschen in den westlichen Gesellschaften eine zweite Heimat gewesen, wo sich freier atmen ließ und wo die Bilder einer humaneren Zukunft geschmiedet wurden, von denen manche im Laufe der Geschichte sogar wahr geworden waren. Doch seit etwa dreißig Jahren verwaltete der Kulturbetrieb das zunehmend anachronistisch gewordene Phantasma eines sogenannten Möglichkeitsraumes, dem die Möglichkeiten ausgingen. Ich erzählte Maria von einem befreundeten Künstler, mit dem ich arbeitete und der jüngst international Beachtung gefunden hatte – der nun aber nicht mehr weiterwusste. Er hatte vor Wochen einen Vortrag über seine Arbeit gehalten, bei dem ich zugegen gewesen war, und sich während einer Beschreibung der aktuellen Lage im Nahen Osten jäh selbst unterbrochen. Er hatte plötzlich minutenlang geschwiegen, geatmet, das irritierte Publikum ohne Regung angesehen und dann schließlich, den Tränen nahe, gesagt: Da wo ich herkomme, aus Kurdistan-Irak, werden in wenigen Jahrzehnten keine Menschen mehr leben können, so wie an anderen Orten der Welt auch. Der Klimawandel wird sie vertreiben, so wie sie heute schon von den Inseln im Pazifik vertrieben werden, die der Meeresspiegel bereits überspült hat. Und Europa macht schon die Grenzen dicht und bewaffnet sich gegen Fremde, weil ein paar Millionen Flüchtlinge um ihr Leben rennen. Aber es werden hunderte Millionen sein, die um ihr Leben rennen werden. Und dann hatte er wieder geschwiegen und war still von der Bühne gegangen. Er war kein Einzelfall. Viele meiner Freunde und Kolleginnen hatten ihre Illusionen aufgebraucht und waren, wie ich auch, in Therapie oder nahe dem Burnout. Eine Epidemie der inneren Erschöpfung hatte Regisseure und Dramaturgen, Kuratorinnen und Tänzerinnen, Künstlerinnen und Schriftsteller erfasst und ließ sie, während sie weitermachten, immer öfter mit leeren Blicken in der Gegend stehen. Die Politik ließ uns verzweifeln, der Populismus machte uns fassungslos und unsere privaten Beziehungen trugen uns nirgends dauerhaft hin.

Mir war nach Besinnung. Ich wusste nur nicht, worauf mich besinnen. Als der Zug in Berlin einfuhr und sich die Fenster mit der Stadtkulisse füllten, sagte ich zu Maria: Weißt Du – seit zwei Jahren höre ich keine Musik mehr. Früher habe ich dauernd Musik gehört. Aber heute kommt es nicht mehr dazu. Ich weiß nicht mehr, welche. Dann musst Du mich besuchen kommen, stellte Maria munter fest. Bei mir läuft immer Musik. Und zwar gute Musik! Ich nahm sie beim Wort. Aber zunächst flog sie nach Athen. Sie hatte in Kerameikos eine Wohnung gemietet, was meinen Neid erweckte. Liebte ich doch Athen und hatte es mir jüngst aus dem Kopf schlagen müssen, dort zu überwintern. Ich schrieb ihr in den nächsten Wochen ein paar Nachrichten über Facebook, sie antwortete gelegentlich, ständig flog einer von uns irgendwohin zu einer Ausstellung, einem Festival, einem Symposium, unser ökologischer Fußabdruck war eine Katastrophe. Aber wir kämpften ja für die gute Sache, wie wir uns entgegen unserer Zweifel noch gerne erzählten, so wie alle im Kulturbetrieb, die an der Frontlinie einer Bewegung zu handeln glauben, die von einer gerechteren Welt träumt. Und Flugzeuge waren nun einmal die Pferde unserer Kavallerie. Ein paar Tausend Kilometer später lud mich Maria zum Essen ein. Sie war zurück in Berlin. Es war der erste Dezember.

Die jungen Architekten

Seite 61 ff.

Wir marschierten weiter und erreichten eine Stelle, an der die Wellenzungen besonders bizarre Sandsteinreliefs in den Steilhang gewaschen hatten. Wir schauten empor zu einer Art hervorstehender Balustrade, die wie ein langer Naturbalkon hoch über unseren Köpfen aufragte und an deren oberster Kante filigrane Ornamente ein Geländer andeuteten, das während des Jugendstil ein Designer auf LSD hätte entworfen haben können. Bleib mal stehen, sagte ich. Genau da wo Du jetzt stehst hat Antoni Gaudí zum ersten Mal die Idee gehabt, diese sonderbar rundgelutschten Architekturen zu bauen, für die er dann berühmt wurde. Obwohl – da wo Du stehst, da standen seine beiden Kinder, er stand etwas weiter links und zeichnete die Balustrade ab. Kennst Du den Park Güell in Barcelona? Da gibt es diese Terrassenkonstruktion, die eine künstliche Höhlenarchitektur überwölbt. Und oben an den Rändern bilden diese bunten, etwas kitschigen Kachelornamente eine geländerartige Mauer. Sieht fast so aus wie hier. Und weißt Du, warum? Der Park Güell geht auf die Zeichnungen zurück, die er hier gemacht hat. Ist alles nur aus der Natur geklaut. Und die Kinder haben genörgelt, weil sie weiterwollten und nicht länger auf den zeichnenden Vater warten, sagte Maria. Wie alt waren die beiden noch? Acht und zwölf, sagte ich. Und wie hießen die? Peter und Ludwig, sagte ich. Die Familie seiner Frau kam ja ursprünglich aus Dortmund. Sie hieß Lisa. Ja, sagte Maria. Die hatte doch diesen aristokratischen Hintergrund und eigentlich die Kohle, oder? Lass uns dahinten noch um die Felsnase rumgehen, und dann laufen wir langsam zurück, ja? Hinter vielen dieser Leute, sprach ich im Gehen weiter, die es schon jung weit brachten, standen in Wahrheit vermögende und starke Frauen. Auch die ganze Idee mit der Romantik und den Höhlen stammt eigentlich von Frau Gaudí, geborene Halberstädt. Sie hatte halt mehr Kultur als er, sagte Maria und hüpfte über einen Felsspalt. War doch nett von ihr, dass sie ihm half. Außer bei der Sagrada Família, sagte ich und hüpfte hinterher. Da stieg Lisa aus. Die ist viel zu groß, Antonin, hat sie immer wieder zu ihm gesagt. Das Ding wird niemals fertig. Nimm doch wenigstens ein paar dieser Türme weg! Aber nein, er musste auch noch einen Weihnachtsbaum mitten auf die Brücke zwischen den Türmen bauen. Sie fand das alles aberwitzig.

Und dann begann sie diese Affäre mit dem 19jährigen Hundertwasser, fuhr ich fort, was zu einer architekturgeschichtlichen Katastrophe führte. Jetzt konnte Maria nicht mehr an sich halten, ich auch nicht. Wir brachen in schallendes Lachen aus und hielten uns die Bäuche. Wir warfen uns schalkhafte Blicke zu, dann machte Maria weiter: Sie brannte mit Hundertwasser einen Sommer lang nach Rumänien durch, während ihr Mann an der Sagrada Família baute. Hundertwasser hatte ja diese rumänischen Wurzeln und sie auch. Sie suchten nach alten Familienspuren; und sie mochte ihn. Er war blutjung. Ja, sagte ich, am Ende war er ihr dann aber doch zu dumm. Versuchte dauernd, ihren Gatten zu imitieren, anstatt sich selber was auszudenken. Sie hatte noch einige andere Liebhaber, wusste Maria, und ihre späten Jahre verbrachte sie auf ihrem Landsitz bei Barcelona, wo sie diesen berühmten Rosengarten anlegte. Kennst Du den? Ja, die Rosen, sagte ich. Hast Du diesen schrecklichen Bahnhof von Hundertwasser mal gesehen?, fragte Maria und fegte mit den Turnschuhen durch Gestrüpp, das trocken am Boden lag. Irgendwo in dieser kleinen deutschen Stadt, Peine oder Uelzen? Ich guckte sie zweifelnd an. Uelzen? In Echt? Ist wahr!, sagte sie, den Bahnhof gibt es wirklich. Wir schauten kurz irritiert. Na und?, sagte ich. Alles andere ist doch genauso wahr! Es ist nur anders wahr! Maria lachte. Anders wahr, das fand sie gut. Ich dachte gleich, das passte zu ihren Inselrecherchen.

Wir waren mittlerweile wieder oberhalb der Küste in der Steppenlandschaft unterwegs zurück zum Auto. Wo Zaha Hadid wohl ihre Formensprache herhat, sagte ich in die Weite. Irgendwas mit Orient, sagte Maria. Und Mies van der Rohe? Es gab da diese prägende Reise, als der junge Mies von Berlin aus mit dem Zug seinen jüdischen Onkel in Odessa besuchen fuhr. Es war eine lange Reise gewesen. Begeistert zeichnete er vom Zugfenster aus die weiten Ebenen der Ukraine und die schlanken weißen Stämme der russischen Birkenwälder. Es gibt da dieses Skizzenbuch. Es besteht nur aus gezeichneten Horizontalen und Vertikalen. Hatte alles nichts mit Mondrian oder Moderne oder so zu tun, stellte ich fest. Er hatte einfach der Natur zugeschaut. Maria war sicher, dass das Skizzenbuch in der Berliner Staatsbibliothek aufbewahrt wurde. So wie ein anderes Buch, dass sie dringend für eine Recherche gebraucht und dort mehrfach angefragt hatte. Man hatte das Buch nirgends finden können, ihr aber schlussendlich mit Nachdruck versichert, es sei da. Das Buch sei da, und Punkt. Man wisse nur nicht, wo. Ja, sagte ich. So ist das mit Mies’ Skizzenbuch auch.

Wir sammelten noch eine Reihe weiterer Geschichten darüber, woher große Architekten in jungen Jahren die grundlegenden Ideen nahmen, die ihr späteres Werk geprägt und berühmt gemacht hatten. Ich erinnere mich an Chipperfield, den wir beide langweilig und konservativ fanden. Alte Schweizer Schieferhütten, begann Maria. Diese schwarzen Schindeln mit etwas grünem Moos darauf, weißt Du? Chipperfield hatte Familie in der Schweiz und verbrachte dort als junger Mensch einige Zeit. Ziemlich reich, ziemlich dekadent. Er langweilte sich. Bis er die alten, halb verfallenen Schieferhütten entdeckte und glaubte, den schweren Geist ihrer Geschichtlichkeit mit zeitgenössischer Architektur zusammenbringen zu müssen. Fürchterlich, sagte ich. Ja, sagte Maria, aber war so.

Daniel Liebeskind litt seit früher Kindheit unter grundlosen Kopfgeburten. Rem Koolhaas hingegen fanden wir gut, da war irgendwas mit Marihuana und Kommune in seiner frühen Biografie. Wir scheiterten aber bei dem Versuch, uns an Architektinnen zu erinnern, die wir kannten. Wir kamen immer nur auf Männer. Oh!, kennst Du John Lautner?, fragte ich mit plötzlicher Emphase. Nein? Den muss ich dir zeigen. Der ist bomfazionös. Maria: Der ist was? Ich: Bomfazionös! Ich hatte schon den ganzen Tag über sonderliche Kraftworte verwendet, die mir ewig nicht über die Lippen gekommen und die auch sonst eher selten im Sprachgebrauch waren. Ich hatte einige Jahre in meiner Partnerschaft Englisch gesprochen, nicht Deutsch, und auch beruflich sprach ich viel Englisch und Französisch. Jetzt entdeckte ich im Gespräch mit Maria wieder die Feinheiten meiner Muttersprache. Maria sprach ausdrucksstark und manchmal sehr präzise. Sie lachte mich etwas aus über die komischen Wörter, die herauszukramen mein Sprachzentrum sich jetzt offenbar ein Vergnügen machte. Wir hatten Spaß. Gott, was hatten wir Spaß bei diesem langen Spaziergang, und wir gelangten zu der Auffassung, dass wir unbedingt, ja zwangsläufig gemeinsam ein Buch über die Geschichten der jungen Architekten schreiben mussten. Wir konnten es gar nicht nicht schreiben, jetzt, da all diese herrlichen Ideen in der Welt waren und wir wussten, was niemand wusste, und was nun keiner mehr erfahren wird. Denn alleine kann ich dieses fulminante Buch nicht schreiben. Dazu fehlt mir ohne sie die Fantasie.

Wir stiegen in den Wagen. Es war bereits drei Uhr, wir hatten Hunger und noch eine Strecke zu fahren. Maria war wieder DJane. Sie kam erneut mit Beethoven, aber ich wünschte mir etwas Anderes. Was denn? Ich weiß nicht, sagte ich… Etwas wie… Champagner?, sagte ich, während ich meine Arme durchstreckte und das Lenkrad fest umfasste. Oh, Champagner!, sagte sie und begann vor sich hin zu murmeln. Sie schien eine immense Plattensammlung auf ihrem iPad zu haben. Und vielleicht auch was mit Stimmen, fügte ich hinzu, und wechselte den Gang. Stimmen hab ich, war sie sicher und fingerte über das Glasdisplay. Sie spielte Lieder von Schubert und Gustav Mahler an. Ich erlaubte mir, das als Rotwein zu bezeichnen, nicht als Champagner. Sie versuchte etwas Anderes. Frank Sinatra, I did it my way. Alter Rosé, sagte ich, aber er schon unterwegs zu Weiß. Irgendein Hip-Hop Stück bezeichnete ich als Bier. Sie fand das unfair. Ein paar weitere Versuche kamen nur knapp in die Nähe von Sekt. Tom Waits!, sagte ich schließlich. Tom Waits?? Das ist doch nicht Champagner! Ich weiß sagte ich, das ist Whiskey mit Zigarre, aber es gibt da diese geile Liveplatte, Nighthawks at the Diner, die passt massiv zu Autofahren. Sie spielte stattdessen Walzing Matilda. Irgendwie lag Maria, was Musik anging, ständig eine halbe emotionale Tonlage tiefer als ich. Wir sangen aus Leibeskräften mit Tom, während wir auf glatten Straßen in den Nachmittag fuhren.

In Betancuria, dem historischen Herzen der Insel, das eng in ein Tal gedrängt lag und mit seiner üppigen Vegetation inmitten der Wüstenei einer Oase glich, kehrten wir ein. Wir setzten uns in das erste Café am Platze und bestellten Wein und Tapas. Es musste einige Sehenswürdigkeiten geben, die zu besehen aber nicht unser Ziel war. Stattdessen blickten wir unfreiwillig auf eine Art Bewegungslehrpfad, der vor uns lag. Rings um eine Schotterfläche standen mannshohe Schautafeln mit aufgebrachten Texten, die wir nicht lesen konnten. Davor befanden sich obskure Instrumente aus Holz und Metall, die offenbar Touristen über die Funktionen ihrer Körpergelenke aufklären sollten. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass jemand so etwas machte und aßen kleine Leckereien. Ich bin in den letzten Jahren ein ziemlich guter Koch geworden, sagte ich. Habe ich dir das schon mal erzählt? Oh, das hast Du mir schon dreimal erzählt, lachte Maria. Aber mach dir keine Sorgen, bis jetzt hast Du es immer etwas anders erzählt. Ich melde mich schon, wenn mir langweilig wird. Erzähle ich manche Sachen doppelt und dreifach?, fragte ich nach. Joa, kann vorkommen, sagte sie, aber macht nichts. Habe ich dir schon erzählt, dass die Schwulen sagen, ich hätte einen schönen Schwanz?, sagte ich, und Maria fingerte nach meinem Oberschenkel, wir lachten. Dann erregte etwas plötzlich Marias Aufmerksamkeit. Sie ergriff mein Handgelenk und wies mit Blicken in Richtung des Lehrpfads. Da saß auf einer grauen Metallbank ein Mann Mitte vierzig. Er blickte fest geradeaus, während er mit beiden Beinen und großem Ernst eine Fahrradtretvorrichtung bediente, die am Boden befestigt war. Er trat tüchtig in die Pedale und hatte dabei einen Lolli im Mund, der seine rechte Backe ausbeulte. Mit dem Arm hielt er eine übergroße Damenhandtasche im Luis-Vuitton-Stil an die Rippen gedrückt und gab sich eindrücklich seinen Exerzitien hin, während er möglicherweise auf seine Frau wartete, oder auf nichts. Im Hintergrund gesellte sich bald ein Paar hinzu, das konversationsreich an einer Schautafel stand und immer wieder einen Griff aus schwarzem Plastik betätigte. Er ließ sich um 90 Grad nach links und um 90 Grad nach rechts drehen, zusammen also faszinierende 180 Grad. Dabei hatte das Handgelenk jene Drehung zu leisten, wie man sie etwa vollzieht, wenn man einen Schlüssel im Schloss umdreht. Die beiden erörterten mit minutiösen Gesten die Mechanik ihrer Hände.

Beckett auf dem Sportplatz, sagte ich. Warte, unterbrach mich Maria. Gleich dreht der Typ da drüben an den Titten, wetten? Die Tittendrehmaschine, wie Maria sie nannte, bestand aus zwei nebeneinander angeordneten, zirka 50 cm großen hellblauen Scheiben, die sich mit einem Knauf jeweils sowohl nach links wie auch nach rechts drehen ließen. Wozu, blieb uns verschlossen. Ein etwa zwölfjähriger Junge begab sich an das Instrument und begann mit hochkonzentriertem Gesichtsausdruck, die Scheiben in kreisende Bewegungen zu versetzen. Maria hatte Mühe, sich auf dem Stuhl zu halten und unterdrückte ihr Gelächter. Man musste schon sehr großzügig sein, fand ich, um bei diesem Vorgang an rotierende Titten zu denken, aber Maria hatte sich entschieden und schnappte nach Luft. Alter, sagte sie, ich bin so horny, dass ich überall Titten und Schwänze sehe. Im Ernst?, fragte ich mit einer Mischung aus Unglauben und Geschmeicheltsein. Wir schauten noch eine ganze Weile diesem ungeschriebenen Kabarettstück zu, das außer uns niemand sah und dem sich immer neue Darstellerinnen und Darsteller hingaben. Hier und da rissen wir wie Kinder schnell die Hand vor den Mund, um nicht laut herauszuprusten. Irgendjemand muss auch über uns gelacht haben. Dann leerten wir unseren leichten weißen Wein, bestellten noch zwei Café, gingen jeder auf die Toilette und machten uns auf, um weiterzufahren.

Maria spielte Mozarts Requiem. Bester Laune summten wir diesem gewaltigen Musikstück hinterher. Gegen 18 Uhr erreichten wir unser Domizil bei Tejeia. Die kleine Hacienda lag am Ende eines Feldweges in der Landschaft und barg einige bescheide Ferienwohnungen. Unsere hatte eine offene Terrasse hinaus auf die Hügel und ein weites, weißes Bett. Maria ging Duschen. Bald kam sie in ein blaues Handtuch gehüllt zu mir hinaus auf die Terrasse und zog mich begleitet von kleinen Küssen hinein.

Verzeichnis einiger Verluste

Seite 132 ff.

Liebe Maria.

Heute ist der 12. Januar. Ich habe eine andere Einspielung des Requiems gefunden. Wahrscheinlich ist es die populärste Version, die man Online finden kann. Für 12 Euro 99. Ich habe nicht dein feines Gehör für besondere Variationen. Aber diese hat die Kraft und die Gewalt, die wir meinten. Herbert von Karajan, Wiener Philharmoniker, Wiener Singverein. Ich höre sie gerade über Kopfhörer von meinem Laptop im Lombardi in Berlin. Ich höre sie andauernd. Sie ist voller Schönheit, voller Verzweiflung und voller Musik. Dunkelblau wie weit unten das Meer. Da, wo einem die Luft ausgeht. Ich habe auch die andere Fassung gefunden, die Du an deinem letzten Morgen gespielt hast. Ehrlich gesagt: ich mag sie nicht. Sie ist raffinert in den Stimmen und im Rhythmus. Aber sie reicht mir nicht. Es fehlt etwas. Du hattest recht. Es ist immer gut, mehrere Requiems im Gepäck zu haben.

In meinem Koffer fand ich deinen Mantel. Ich muss ihn noch Friedrich geben. In einer Seitentasche war der schwarze Lippenstift. Wir konnten ihn am Straßenrand, wo wir ihn suchten, gar nicht finden! Ansonsten habe ich noch drei weitere Dinge von dir bei mir. Die kleine Flasche von deinem selbstgebrannten Schnaps, die Du mir schenktest, das illustrierte Lexikon der Angst, auch ein Geschenk von dir, und eines deiner Bücher, das zu entwenden ich mir erlaubt habe. Das Verzeichnis einiger Verluste von Judith Schalansky. Falls es jemand vermisst, dachte ich, wäre es halt ein weiterer Verlust mehr, aber einer, den man verschmerzen kann. Ich weiß, Du wärest einverstanden. Du selbst wirst es nicht vermissen. Ich muss Dir sicher nicht erst sagen, dass ich nun mein eigenes Verzeichnis von Verlusten zu verwalten habe.

Dein Tattoo ist weg. Du trugst es über dem Po auf dem Steiß. Natürlich erinnere ich es. Es gefiel mir, ich fand es sogar geil. Aber hättest Du es der Welt zeigen wollen, hättest Du eine andere Stelle dafür gewählt. Das macht es noch nicht zu einem Geheimnis, aber ich werde es nicht beschreiben.

Dein Geruch ist fort. Neulich hatte ich mich getraut, deinen Mantel aus meinem Koffer zu nehmen, ihn langsam an meine Nase zu führen und dann einzuatmen. Es war dein Geruch! Er war etwas staubig. Das ist nicht despektierlich gemeint. Du hattest diesen Geruch eines Parfums, das ich an Frauen öfters beobachtet hatte und von dem ich keine Ahnung habe, ob Du es benutztest, oder ob Du einfach nur so rochst. Oder ob die anderen Frauen auch so rochen, auch ohne Parfum, aber das glaube ich nicht. Es war ein mild herber Geruch wie der von trockenem Gras, mit nur wenigen süßen Tönen darin, die mich ein bisschen an Aprikosen erinnerten, aber mehr noch an die New Yorker U-Bahnschächte im Sommer. Etwas süß-staubig eben. Er war gewiss weiblich, aber auch distanziert. Er war selbstbewusst. Nicht auf der Verführungsschiene, aber halt auf der Geruchsschiene. Ich hatte ihn, um ehrlich zu sein, nie gemocht. Ich mochte ihn an dir. Und ich hatte den Mantel in mein Gesicht gedrückt.

Da war während unserer ersten Liebesnacht ein kleiner Pickel an deiner Wange. Du hattest ihn am Abend aufgekratzt, er blutete. Auch der ist weg. Es war nicht wichtig. Ein Detail. Aber es hatte mir etwas über dich erzählt.

Ich habe dich nie Cello spielen gehört. Obwohl Du mir schon am ersten Abend vorspielen wolltest, da ich lange genug insistiert hatte. Ich hätte dich bewundert. Aber es kam nicht dazu.

Ich habe nie mit dir getanzt. Dabei wollten wir das unbedingt. Wir wussten, wir würden zusammen tanzen können und ich bin besonders sauer, dass uns das entging.

Ich habe nicht ein einziges Foto von dir. Es gibt auch von uns oder von unserer Reise kein Bild, nicht auf den iPhones, nicht auf dem iPad. Das Einzige, das uns gemeinsam zeigt, ist dieser Text. Und den musste ich nun alleine schreiben. Es tut mir leid, dass deine Stimme darin nicht angemessen wiedergegeben ist. Du warst präsenter, als Du nun in meinen Worten bist. Mal lauter und mal gewandter, mal frecher oder emotionaler. Du hast auch insgesamt mehrt gesprochen, als es jetzt scheint. Manchmal war es schwer, sich bei dir Gehör zu verschaffen, was für meinen Narzissmus nicht immer komfortabel war. Aber tatsächlich hattest Du immer etwas zu sagen, das man hören wollte. Ich kriege das nur nicht richtig hin. Die meisten Sätze, die ich im Text aus deinem Mund kommen lasse, hast Du genau so gesagt, oder fast genau so. Ich erinnere sie. Aber ich erinnere nicht genug von ihnen. Ich habe versucht, alles gut wiederzugeben, Maria. Aber ich kann nur meine eigene Erinnerung erzählen. Das geht nicht anders. Und ich weiß wohl, dass dir das nicht gerecht wird. Es ist nicht wahr, was ich sage. Es ist anders wahr.

Das markanteste Bild, das mir bleibt, ist der kurze Moment auf dem Felsen im Meer, von dem aus ich dich noch einmal sah, während sich die nächste Welle uns näherte. Seit den ersten Tagen in Berlin habe ich immer wieder diese gleiche Szene vor Augen, aber so, als hätte ich sie aus gut fünfzig Meter Entfernung vom Land aus gesehen. Ich sehe mich ganz deutlich selbst halb aufrechtstehend in der Situation, verzweifelt und in Panik über das Meer schreien. Ich kann diesen distanzierten Blick natürlich nicht gehabt haben, denn ich stand in Wahrheit mitten in dem Bild, auf dem Felsen, und von dort aus sah ich dich. Das heißt Maria, und das ich wichtig jetzt, dass ich vielleicht ganz falsche Bilder habe. Vielleicht von allem! Da könnten nur Einbildungen sein. Wenn ich hier stand, mein innerer Sekundenfilm aber von einem anderen Standpunkt aus aufgenommen wurde, den es gar nicht gab, zumindest nicht für mich, was sind dann alle meine Bilder wert und meine Filme? Ich weiß schon ganz gut, was ich sage oder schreibe. Aber weiß ich, was ich erlebt habe?

Und das bringt uns zu einem anderen Thema: Mir wollen keine Sätze gut gelingen, um zu beschreiben, wie Du aussahst. Ich sehe dein Gesicht oft nur als einen dunklen Punkt, der davontreibt. Es war nicht so, dass ich dieses Gesicht im Augenblick unserer ersten Begegnung sogleich als schön wahrgenommen hatte. Ich hatte es als Eindrücklich empfunden. Du hattest viele Gesichter und sie wechselten dauernd. Am 18. Dezember warst Du eine Diwa mit Lidschatten und dunklen Lippen, am 19. erst kämpferisch und dann weich, und am 29., als Du auf der Insel ankamst, eine Frau, die mich mit einer Idee von Liebe ansah. Deine Haare waren manchmal lausig, deine Kleidung, und das sagte ich schon, mal ganz egal und mal sehr gewählt. Täglich fallen mir neue Details über dich ein und ich muss oben nachlesen um sicherzugehen, dass ich nichts wiederhole. Trotzdem könnte ich dich nicht zeichnen oder malen. Ich habe im Alter von 22 Jahren an der Kunstakademie damit aufgehört, Stift und Pinsel zu benutzen. Ich fand, die Welt sei interessanter als meine Bilder von ihr. Und dann hatte ich mich mehr mit der Welt beschäftigt, anstatt mit meinem Blick auf sie. Das ändert sich wohl gerade. Jedenfalls, jetzt, wo ich dich nicht sehen kann, fehlen mir Bilder in gleich welcher Form, denen ich vertrauen kann. Meine Bilder. Ich will dafür nicht auf Facebook oder Instagram gehen, um in deine Timeline zu schauen. Und wenn mir jemand einen Nachruf auf dich schickt mit einem Portrait im Artikel, schrecke ich zurück. Das bist Du nicht, denke ich, und kann dich nicht sehen.

Mir fehlt deine Zärtlichkeit. Es war uns wohl vom ersten Augenblick an klargeworden, wie zärtlich wir miteinander waren. Und neben allem anderen, dass uns aneinander begeistert haben mag, war es am Ende auch das, wie mir schien, worauf wir in unseren Leben gewartet hatten: Auf die Ruhe einer innigen Berührung, auf die Verlass ist, der man trauen kann. Du hättest niemals all das an einen Mann gebunden, was Du für dich selber geschaffen und erreicht hattest. Niemals. Du hättest immer dein eigenes Leben gelebt, so unabhängig es eben ging. Du hattest mit vielem nichts am Hut, das ablief. Du lebtest deinen eigenen Film und hattest dafür die Kamera ständig auf die Welt um dich herum gerichtet, ohne ein fertiges Skript für die Wirklichkeit zu haben. Du wolltest immer Ernst machen und fülltest die Zeit zwischen einem Ernst und dem nächsten mit Spiel. Aber Du wolltest einen Partner, mit dem Du das teilen konntest. Es macht auf Dauer keinen Spaß alleine.

Wir kamen nicht dazu, uns zu sagen, dass wir uns lieben. So etwas sagt man ja auch nicht so schnell. In zu vielen meiner Beziehungen fielen die Worte sogar nie, weil sie nicht wirklich wahr gewesen wären. Jetzt wären sie wahr gewesen nach einer kleinen Weile, sagt mir mein Gefühl. Nach dieser kleinen Zeit, die wir noch gebraucht hätten, auf die wir uns ein bisschen unbewusst und ein bisschen bewusst so unbändig gefreut hatten. Auf das entdecken, wer wir zusammen sein würden. Wir wussten beide, dass der andere wusste, wie es ist, wenn es dunkel wird und wie es ist, wenn es wieder hell wird. Wir hätten uns da getroffen. Wir hätten uns gegenseitig sachte die Augenlider zugedrückt, damit wir schlafen würden, bis der nächste Tag kommt. Und dann hätten wir sie morgens wieder aufgeschlagen und uns erleichtert angeschaut mit kleinen Schatten um die Augen. Und jemand hätte leise und ernst gesagt: Ich liebe dich. Und der andere hätte das gleiche gesagt. Und beide hätten es genau so gemeint. Und hätten es noch manchmal gesagt. Manchmal einfach nebenbei, weil Einer frischen Oregano mitgebracht hat fürs Kochen. Und man küsst die Hand, die den Oregano auspackt und sagt: Ich liebe dich. Und manchmal beim Tanzen, nachdem man sich herumgewirbelt hat und die schweißnassen Gesichter kurz zueinander bringt für eine ausgelassene Liebkosung, und im farbigen Licht sagt, Ich liebe dich, Maria. Ich liebe dich, Alexander. Und weiter wär’s gegangen, wenn die Musik für uns gespielt hätte.

Ich hatte noch keinen Spitznamen für dich. Spitznamen sind schön. Eine verbale Liebkosung, die jedes Mal, wenn man sie sagt, davon erzählt, dass man sich zärtlich kennt. Ein Name, den man zu zweit versteht. Man kann auch manchmal Darling oder Schatzi sagen, aber das ist noch nicht der Spitzname. Den findet man irgendwann am Wegesrand bei einer beiläufigen Gelegenheit. Ich hatte eine Freundin, die wuselige rötliche Haare hatte und einen frechen Charakter. Ohne nachzudenken hatte ich sie irgendwann Frufru gerufen. Mir gefiel einfach das Wort. Frufru. Ich hatte sie gefragt, ob es auf Griechisch etwas bedeutete. Pumuckl, hatte sie gesagt, Frufru heißt Pumuckl! Ich fand, es passte zu ihr, und so wurde Frufru ihr Spitzname. Aber so weit waren Du und ich noch nicht. Du hattest mich dreimal Spatzl genannt. Das fand ich etwas automatisch. Ich erinnere mich, dass ich zusammenzuckte. Spatzl klang mir zu sehr nach Wiesbaden. Aber dir und mir wäre schon etwas eingefallen. Jetzt bleiben wir der Einfachheit halber bei Maria und Alexander.

Uns entgeht für allemal die Erfahrung, die das Schlafen miteinander über die Monate und Jahre immer schöner macht. Wenn man jeden Winkel aneinander kennt, jede Regung und alle Rhythmen, alle Töne schon hundert Mal gehört hat und miteinander geschmeidiger wird über die Zeit. Wenn man es kennt und kann, nach einer Reise, die den einen fortgeführt und den andern dagelassen hatte, übereinander herzufallen, und ein andermal tröstend ineinander zu kriechen wie die Erdhörnchen in ihren Bau. Nein. Wird nicht sein.

Auch nicht deine freundlichen Rüffel. Ach komm. Stell dich nicht so an. Mach mal halblang. Sure Darling. Glaubst Du doch selbst nicht. Schön wär’s. Tu doch nicht so. Das ging dir alles leicht über die Lippen und fand seinen Platz so hier und da mitten im Gespräch. Das war der kumpelhafte Charme des Dialogs mit dir, den Du mit Dosen von Spott wach und kritisch hieltst.

Da ist das Buch, das Du zuletzt nicht fertiggelesen hast. Erst jetzt entdeckte ich es in meinem Koffer, in den es fälschlich gelangt war. Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus von Eva Illouz. Bis Seite 78 hast Du mit leichtem Bleistift hier und da Zeilen unterstrichen und Anmerkungen gemacht. Weiter kamst Du nicht. In dem Kapitel über die Säkularisierung der Liebe markiertest Du: Vor allem bei der Brautwerbung lässt sich zeigen, dass die romantische Liebe dazu beitrug, dass der Liebende als zentrales Symbol eines letzten und höchsten Sinns an die Stelle Gottes trat. Illouz beschreibt, wie liebende Paare ab dem Ende des 19. Jahrhunderts himmlische Götter entthronten und an ihrer statt das je geliebte Gegenüber anbeteten – und dafür teuer bezahlten. Denn die neuen irdischen Liebesrituale spielten sich auf den Handelsplätzen der Freizeitwirtschaft ab, im Kino, in den Restaurants und in den Tanzsalons. Und all das hatte einen Preis. Die Liebespraktiken wurden zur Ware, schildet Illouz. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine Nachmittagswanderung am Strandregulieren unsichtbar die Möglichkeiten der freien und scheinbar unbedingten Zweisamkeit: Der Strand, das Wandern und das einfache Picknick erfordern allesamt ein Auto, ein verfügbares Einkommen und verfügbare Zeit. Das romantische Rendezvous erscheint ihr als die Schlüsselszene einer hedonistischen Norm des liberalen Paarungskapitalismus. Hast Du das im Flugzeug noch gelesen, um dich auf unser Treffen vorzubereiten? Ging dir das durch den Kopf, als wir im Mietwagen Lieder sangen, und als wir Hand in Hand auf den Klippen nach Muscheln suchten? Ich denke nicht. Trotzdem hätte ich gerne noch von Dir gewusst, was Du über dieses Buch dachtest.

Warst Du mit deiner Kindheit wirklich schon durch, wie Du behauptetest? Hing dir da von damals noch etwas nach? Es war schwierig für dich, als dein Vater nach Braunschweig berufen wurde und Du im Pfarrhaus mitten im Nichts der Innenstadt wohntest, wo es für Teenager kein Leben gab. Du hast gelitten. Dann, mit 17 glaube ich, hast Du den Schlüssel vom Kirchturm geklaut und Freunde eingeladen, mit dir ganz oben auf der Spitze Geburtstag zu feiern. Ihr wart über klapperige Leitern hinaufgeklettert und hattet spät abends laut herumgegrölt, so dass man euch durch die ganze blöde Stadt hören konnte. Die Polizei kam. Sie wollte von deinem Vater den Schlüssel zum Kirchturm, um euch dort einzukassieren, aber er konnte den Schlüssel nirgends finden, den Du ja geklaut hattest. Als euch die Polizei schließlich heruntergeholt hatte, gab dein Vater dir die einzige Ohrfeige deines Lebens. Er hatte völlig recht, sagtest Du zu mir. Es war echt nicht seine Schuld.

Deine Eltern haben jetzt keine Tochter mehr. Friedrich und Sarah keine Schwester. Du beschriebst mir Vater und Mutter als liebevoll und deine Kindheit als glücklich. Ich glaubte dir das nicht uneingeschränkt. War das wahr? War da nichts mehr zu tun? Wenn man seine Vulkane nicht kehrt, brechen sie irgendwann aus. Waren deine alle rein? Ich selbst hatte das mal geglaubt. Aber mit Ende Dreißig holte die Vergangenheit mich ein. Ich hatte plötzlich meinen Vater als schwarzen Schatten in der Ecke meines Zimmers stehen sehen mit zerplatzter Brust und dem Gewehr in der Hand, und machte eine Therapie. Die vergessenen Erinnerungen kamen wieder. Man hatte mich auf seine Beerdigung nicht mitgenommen und alle hatten so getan, als sei gar nichts geschehen. Ich konnte nie von ihm Abschied nehmen. Er war einfach verschwunden und mit der Zeit ein Phantom geworden. Aber vielleicht war deine Kindheit wirklich glücklich. Ich weiß nichts darüber. Ihr wart manchmal in den Alpen wandern und Du hast mir beschrieben, wie dein Vater dir Schokolade gab, um dich beim stundenlangen Laufen bei der Stange zu halten. Und wenn die Schokolade aus war, nahm er dich an der Hand und erzählte dir Geschichten, die er für dich erfand. Ich romantisierte dieses Bild sofort, ich fand es wundervoll. Ich habe solche Erinnerungen nicht.

Dein Roman wurde nicht fertig und wird wohl nie erscheinen. Weiß eigentlich jemand, wo auf einer deiner Festplatten das Manuskript liegt? Kennt jemand das Passwort dafür? Überhaupt: Was macht man jetzt mit allem, was Du von dir übriggelassen hast? Notizbücher, Konzepte, Dokumentationen deiner Arbeit? Und was ist eigentlich mit deinen Theaterstücken? Gibt es da etwas, das man ohne dich wird spielen können? Ist es eigentlich gut? Hast Du ein junges Werk gehabt, das dich überlebt? Ich habe keine Ahnung. Ich war nur einmal durch Zufall in einer deiner Inszenierungen. Vor zehn Jahren, als Du das Stück über Prostitution gemacht hast, in dem Ilan eine Hauptrolle spielte. Sie hatte mich eingeladen und ich saß vorne in der ersten Reihe. Ich weiß nicht mehr, ob ich die Inszenierung gelungen fand oder nicht. Der Spiegel hatte sie verrissen. Ich habe ja von Theater nie viel verstanden, wie Du weißt. Du musst natürlich auch da gewesen sein. Doch damals hatte ich nur auf Ilan geschaut.

Wiesbaden muss jetzt ohne dich auskommen. Sei’s drum. Du wirst denen keinen goldenen Erdogan mehr auf den Marktplatz stellen und damit eine polizeiliche Panik auslösen, weil alle Angst hatten, am nächsten Tag würden Türken und Kurden sich vor Ort wegen des Denkmals die Köpfe einschlagen, was dann eh nicht passierte. Man hatte plötzlich erst die Skulptur und dann auch dich als eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit betrachtet, und wollte euch loswerden. Du hast die ganze Nacht und bis zum Morgen wie ein Tiger die Polizei und die Feuerwehr davon abgehalten, Erdogan abzubauen, und auf der Kunstfreiheit beharrt. Dann warst Du vor Erschöpfung zusammengebrochen, hattest aber für den Augenblick gewonnen. Man baute dann Erdogan am darauffolgenden Tag dennoch ab und die ganze Geschichte ging durch die Medien. Ich hatte selber eine ähnliche Situation während der documenta 14 in Kassel durchlebt und gegen die lokale Politik halb verloren und halb gewonnen. Auch diese Art von Kampf verband uns. Die Wiesbadener jedenfalls können jetzt ruhig schlafen. Aber sie werden nicht mehr die Möglichkeit einer Insel bekommen. Zumindest nicht deine Möglichkeit. Sie müssen auch auf deine Nachbarschaftsbesuche verzichten ohne vielleicht zu wissen, was sie daran hatten. Du gingst von Tür zu Tür und erklärtest den Leuten, warum es eine Biennale in ihrer Stadt gab und warum sie wertvoll ist. Mit Engelsgeduld. Das ist nicht leicht, weiß ich, aber Du machtest das, wofür ich dich bewunderte, wie ich dir sagte.

Es ist mir so schwer vorstellbar, wie ich wieder jemanden finden soll, der so nah an den Idealen und an der Realität meines eigenen Lebens ist. Ich kann nicht sagen, wie unglaublich Du mir fehlst. Nicht nur mir, aber jetzt gerade mal vor allem mir. Du wirst nicht der Punkt werden können, auf den ich mich zur Not beziehen kann. Nicht die Hoffnung auf einen Sinn, wenn aller anderer Sinn verfliegt. Kein Ort, an dem ich mich vor der Welt wenn nötig verstecken kann. Du wirst nicht die Person sein können, an die ich glaube, wenn schon an sonst nichts. Und Du wirst mich auch nicht daran erinnern, und mich im Zweifelsfall ermahnen, an mich selbst zu glauben. Weil dein Glauben an mich einen Körper bräuchte, der noch atmen und beben kann. Aus diesem Grund wirst Du mir auch nicht mehr vertrauen können. Wirst mich nicht beschützen. Wirst keine Insel sein, die sich betreten lässt, und sei es auch nur für den Moment. Kein Boot irgendwohin und insbesondere kein Anker, schon gar kein Hafen oder eine Reise ins Unbekannte. Selbst das, was für mich am Fernsten lag, noch einmal Vater zu werden und eine Familie zu gründen, war vorstellbar. Es war viel zu früh, das auch nur zu erwägen. Aber es wäre eine Erwägung geworden. Und ich hätte dringend drauf bestanden, dass es eine Tochter sei. Als Du starbst schoss mir kurz durch den Kopf, ob Du schwanger gewesen sein könntest. Wie um alles noch schlimmer zu machen. Als ich am 29. Dezember ein Kondom überziehen wollte, nahmst Du es mir aus der Hand und sagtest: Jetzt ist doch eh alles egal. Der Satz geht mir immer wieder durch den Kopf.

Ich habe keine Ahnung, wie vielen Freundinnen und Kolleginnen, Kollegen und Freunden Du ebenso fehlst, wie mir. Ich werde einige von ihnen auf deiner Trauerfeier zum ersten Mal treffen. Übrigens brauchst Du diese Feier gar nicht, dachte ich gestern. Sie ist für diejenigen, die da sind. Die müssen ja mit deinem toten Körper, mit deinem toten Leben, mit ihren Erinnerungen und mit sich selber klarkommen, nicht Du. Weißt Du, es ist auch nicht wahr, dass ich dieses Buch für dich schreibe. Natürlich widme ich es dir. Aber Du wirst es nicht lesen. Es kann nicht für dich sein. Es ist für uns hier.

Ist dir bewusst, dass wir nie jemanden getroffen haben, den wir gemeinsam kannten? Weder im Guten noch im Schlechten? Keine weinselige Diskussion bei Hirschragout im Freundeskreis. Keine gute Miene zum langweiligen Smalltalk auf irgendeinem Empfang, kein gemeinsamer Ärger über irgendein Arschloch. Ich habe dich nie in Gesellschaft erlebt, ob ausgelassen oder genervt. Oder zugehört, wie Du eine Pressekonferenz gibst oder eine Rede hältst. Wir waren auch nie zusammen auf einer Party. Geschweige denn in einem Swingerclub oder einem SM-Laden, wo wir uns gegenseitig hätten die Hintern versohlen können. Nicht, dass das wichtig wäre. Aber es hätte Spaß gemacht.

Wir haben keinmal in aller Ruhe in deiner Badewanne zusammen gelegen mit Kerzen, Musik und Rotwein. Wir sind nicht samstags mit dem Boot auf deine eigene Insel am Tegeler See geschippert, wo dein Garten lag. Wer wickelt den jetzt eigentlich ab? Und wir waren Lichtjahre davon entfernt, gemeinsame Zeit und Arbeit in einem Kibbuz zu teilen. Hätten wir wahrscheinlich nie, aber wer weiß.

Ich kenne deine Tulpen nicht. Nicht deine Hüte und Mäntel, nicht deinen Kühlschrank, und auch nicht deine Bibliothek. Wir waren nie in einer Ausstellung zusammen, nie im Kino oder im Konzert. Ich weiß gar nicht, welche Filme Du magst. Ich weiß auch nicht, ob ich deinen Kunstgeschmack eigentlich geteilt hätte. Deinen Erdogan fand ich gut und viele andere Sachen, von denen Du erzählt hast. Aber ob Du meine Liebe zu Henrike Naumann und zu Hiwa K verstanden hättest, oder ob wir mit gemeinsamer Ergriffenheit im Pariser Louvre vor dem Floß der Medusa von Gericault gestanden hätten, unter der Pyramide aus Lebenden und Toten im Meer, denen die Hoffnung am Horizont entschwindet, das kann ich nicht mehr herausfinden.

Ich weiß fast nichts über dich, Maria. Wir kannten uns gut siebzig Stunden lang und von denen haben wir rund zwanzig gemeinsam verschlafen. Ich kenne nicht einmal deinen Schnaps. Die kleine Flasche, die Du mir gabst, hebe ich noch auf. Darin ist etwas Unbekanntes. Ich weiß nicht, wann ich sie trinken werde. Vielleicht schmeckt es ja furchtbar, aber das glaube ich nicht. Ich finde, bei deiner Beerdigung sollte man all deine eingelagerten Flaschen bis auf den letzten Tropfen austrinken, solange, bis man die Vögel singen hört. Das hättest Du gut gefunden. Überhaupt hättest Du alles gut gefunden, dass die Leute vom Heulen abhält. Du hättest sicher nichts gegen gemeinsames Heulen gehabt, aber Du würdest lieber gesehen haben, wie sie einen Kirchturm besteigen und ordentlich Lärm für dich machen. Ohne, dass jemand eine Ohrfeige dafür kassiert. Und falls Du zum Abschied Glocken hättest für dich läuten hören wollen, hätten die schmettern müssen.

Wobei Schmettern nicht wirklich der Wortklang ist, den ich für die Glocken meine. Mir gehen die Kraftworte aus. Mein Sprachzentrum hat keinen Anlass mehr, nach ihnen zu suchen oder welche zu erfinden. Ganz sicher bin ich derzeit kein großer Dichter. Mir fällt nichts Neues ein. Mir fällt nur Altes ein. Wir haben keine Barsche oder Kaninchen zusammen in den Ofen geschoben um etwas zu essen, dass anders schmeckte als Alltag. Oder eine Landkarte vor uns auf dem Tisch ausgebreitet, um zu träumen, wo wir hinwollen. Wir haben nie gemeinsam ein Ziel erreicht. Wir waren nicht einmal zusammen in Athen, nie in Berlin Mitte und auch nie in einer Wüste. Nur auf einem Stück Land im Atlantik, das wir nicht kannten und um das ich künftig einen Bogen machen werde.

Ich werde nicht mehr erfahren, wie lange wir zusammengeblieben wären. Tage, Monate, viele Jahre? Es fing gut an. Wir haben uns ja nicht einmal je gestritten, wie Du weißt. Wann auch? Du meintest ja, Du mögest Streiten. Weil es hilfreich sei, und das ist gewiss wahr. Aber es mache auch Spaß, meintest Du, und das fand ich nicht. Ich hätte Angst vor dir gehabt. Du warst stark in Rhetorik und kein Zuckerschlecken. Ich habe dich nicht im Konflikt kennengelernt. Ich kenne dich nicht im Ausnahmezustand. Ich kenne dich nur auf die Weise, in der ich dich kannte. Ich weiß deinen Geburtstag nicht, nur deinen Todestag. Ich habe nie ein neues Jahr mit dir erlebt. Ich habe noch nicht einmal deine Emailadresse.

Das Fällige

Etwas beschäftigt mich noch. Das sage ich dir, mir, und jedem, der sich wundert. Ich schickte dir per Telefon ein Zitat von Max Frisch und wir sprachen darüber. Die kleine Passage in seinem Tagebuch von 1946 endete damit, dass es immer das Fällige sei, das uns zufällt. Das Verblüffende, das Erregende jedes Zufalls, schrieb er, besteht darin, dass wir unser eigenes Gesicht erkennen. Der Zufall, so Frisch, offenbare uns uns selbst. Er zeige uns, wofür wir je zu einer Zeit empfänglich seien, was uns ins Auge springe, statt ihm zu entgehen. Es möge zwar sein, dass wir manches, dass eigentlich auch zu uns gehörte, übersehen und überhören, weil wir nicht immer bereit dafür sind, unser Selbst mit dem Lauf der Dinge zu synchronisieren. Aber uns würde nie ein Zufall widerfahren, der nicht zu uns passte, der nicht für uns fällig wäre. Also sei es am Ende immer das Fällige, was uns zufalle.

Er meinte also, wir seien gewissermaßen reif für das, was uns jeweils widerfahre. Ich habe diese Passage aus Frischs Tagebuch immer geliebt. Aber jetzt funktioniert sie nicht mehr. War das, was geschah, für dich fällig? War es jetzt angesagt für dich, Du reif dafür? Hast Du dich darin erkennen können? Das kann man nicht im Ernst je sagen. Es wäre der blanke Zynismus. Was mache ich also mit Frisch? Was mache ich mit Albert Camus, der schrieb, am Strand von Algerien schiene die Sonne am Mittag so heiß, dass ein Mann in der Lage sei, einen namenlosen Araber aus heiterem Himmel einfach so zu erschießen? Auch darüber sprachen wir. Was soll ich anfangen mit diesem und mit all den anderen literarischen Toden, von denen wir tausende finden würden, und was mit all ihren literarischen Gründen? Was mit den Sätzen, die mir sagen, warum etwas sei? Es geht nicht. Und deshalb muss ich jetzt weg und selber schreiben. Schreiben ist nun mein Privileg. Wie jede Kunst das Privileg der Lebenden ist. So wie alles, das wir tun, anstatt es nicht mehr zu tun. Und mehr ist nicht. Außer dem Schreiben habe ich gerade nichts. Und Du hast gar nichts. Aber das ist egal, denn Du bist tot. Es ist so. Du brauchst nichts.

Was soll ich dir noch sagen? Ich höre in einer Kneipe unser Requiem auf Kopfhörern und schreibe dir. Ich schreibe dir meine eigene Totenmesse, damit man dich erinnert. Damit ich dich erinnere. Keine Presseerklärung kann dich wiedergeben. Ich kann es auch nicht. Und der liebe Gott gibt dich sicher nicht wieder. Wir waren unterwegs zu etwas, das wir nicht kannten, und wir brauchten eine Insel, um dorthin zu gelangen. Aber wir kamen nirgends an. Eine Welle trug uns fort.

Tag 15

Hier. Das ist alles. Diese vier Worte sagte Ulli Phillip, alias der kleine Prinz, zu Hardy Krüger, alias der Pilot, alias Antoine Saint-Exupéry, in der Tonaufnahme von 1977 in jenem Moment, da er, Phillip, sich von ihm, Krüger, verabschieden würde. Es ist das Ende der Aufnahme, die wir an unserem letzten Abend hörten. Obwohl – diese vier Worte hörten wir nicht mehr. Wir waren bereits eingeschlafen.

* * *

Zieh es nicht in die Länge, sagte der Fuchs zum kleinen Prinzen, das ist ärgerlich. Du hast dich entschlossen zu gehen, also gehe. Der Fuchs und der kleine Prinz hatten sich einander angenähert und waren sich vertraut geworden. Und der kleine Prinz zögerte, den Fuchs zu verlassen. Sie waren einander nun wertvoll. Ich weiß wohl, dass ich diesen Text in die Länge ziehe, sagte ich zum kleinen Fuchs, der mich mit halb leeren Augen ansah. Aber es gelingt mir nicht, Adieu zu sagen, ergänzte ich und sah in seinen jetzt leeren Blick. Wie soll ich abschließen?, fragte ich ihn. Wie soll ich mit Maria fertig werden? So wie Bach es tat, als er seine Kantate Ich hatte viel Bekümmernis ganz am Ende verhunzte? Bumm, tattaa, und aus!? Ich kann das nicht, sagte ich zu meinem Fuchs. Sie ist ja noch nicht einmal unter der Erde. Er blickte weg. Was sollte er sagen.

Außerdem geht meine eigene Geschichte ja noch weiter. Und deine auch noch. Deine Grablegung wird erst in wenigen Tagen sein und einstweilen liegst Du im Kühlhaus. Und so lange ist deine Anwesenheit auf Erden nicht vorbei. Friedrich schrieb mir heute endlich, dass dein Leichnam morgen nach Berlin komme und die Beisetzung am Samstag den 19. Januar stattfinde. Verdammt spät. Wie sieht dein Körper nach drei Wochen in der Leichenhalle aus? Hast Du noch ein Gesicht, das wir sehen werden? Ist es vom Wasser aufgeschwemmt? Hatten dir die Wellen und Felsen die Knochen gebrochen, den Schädel zerschlagen oder das Rückgrat, ehe Du starbst? Ich weiß, Du konntest dich noch einige Minuten über Wasser halten, aber das sagt nicht viel. Es hatte eine Autopsie gegeben, ehe man dich für den Transport nach Deutschland freigab und deren Ergebnis ich nicht kenne. Sicher war es eine Routine der Behörden, festzustellen, dass Du wirklich Wasser in der Lunge hattest und ich dich nicht etwa beidhändig erwürgt und ins Meer geworfen hatte. Man kann nie wissen. Ich hoffe, sie haben dich ordentlich wieder zugenäht. Aber ehrlich gesagt interessiert das niemanden mehr. Ab kommenden Samstag, nachdem wir alle Sand auf dich geworfen haben werden, wird es endgültig vorbei sein mit deinem Leib. Zum Glück träume ich nichts. Ich trinke genug, um einige Stunden traumlos schwarz durch die Nacht zu schlafen. Wer darf träumen?, hattest Du mich gefragt. Und wer hat das Glück, es nicht zu tun, sage ich dir. Du stehst jetzt auf meiner Liste von Verlusten, Maria. Von denen, die schwierig sind.

Amazing Grace

Seite 160ff.

Gegen Ende der Feier dann sprach endlich Amelie. Seit deinen frühen Theatertagen war sie Mentorin und Freundin gewesen, und wenn jemand dein künstlerisches Werk kannte, dann sie. Wie sich nun herausgestellt hatte, trug das letzte Stück, das Du vor deinem Tod inszeniertest, den Titel Übung in Trauer. Exercise in Mourning. Darin Du selbst die Tote spieltest. Ein Kraftakt von 60 Stunden Performance in mehreren Kapiteln, mit verschiedensten Ritualen, rumänischen Klagefrauen und Leichenschmaus. Soviel Zeit hatten wir hier nicht. Amelie beendete ihre Rede damit, dass sie die letzte Email vorlas, die Du kurz vor dem Abflug nach Fuerteventura an sie schriebst. Liebe Amelie. Ich fliege jetzt zu Alex auf die Insel. Ich bin wahnsinnig verliebt in ihn und er in mich. Ich war in meinem ganzen Leben noch nie so glücklich. In einem einzigen Augenblick fielen plötzlich tausende Blumen von der Kirchendecke auf den Sarg herab mit einem unhörbaren Lärm, und mit einem verschluckten Aufschrei krümmte sich mein Oberkörper nach vorn, während ihn Ragnar und dein Vater auf dem Stuhl hielten.

Dann kam, worauf ich nicht vorbereitet war. Plötzlich standen alle auf. Es gab einen letzten Segen für die, die ihn wollten, und dann schritten rasch sechs Frauen und Männer vor zum Sarg, stellten sich auf beiden Seiten neben ihn und jemand rollte ein Metallgestell heran. Die Sechs gingen in die Knie und hoben den Sarg mit einem Ruck hoch. Was macht ihr da!, dachte ich. Nicht bewegen, lasst sie dort! Das Gestell wurde unter den Sarg gerollt, die schwarzen Gurte gelöst und dann schob man dich langsam in Richtung Ausgang. Ich war nicht mehr in Fassung zu bringen. Von Ragnar gestützt ging ich dir hinterher ohne wahrzunehmen. Menschenreihen links und rechts, ich kannte nichts. Die Treppen hinunter. Kies knirschte. Man schob dich in ein helles Auto mit roten Rücklichtern und schloss die Heckklappe zwischen uns. B J-9688. Dann fuhr es so langsam los, dass man hinterhergehen und auf die Blumen schauen konnte. Mein Vater lag auch kurz im Auto. Dudelsäcke pusteten sich auf und spielten in Flöten, ein Trauermarsch zertretener Kreatur, jetzt eine Insel finden und in seentiefem Blau, mir war kalt. Wir gingen. Polizei bewegte sich mit abgedrehten Martinshörnern und leitete die lange Demonstration von St. Elisabeth fort durch die Straßen von Mitte. Kurz vor dem Dorotheenfriedhof übernahmen Posaunen und Trompeten den Ton von den Dudelsäcken und begleiteten den Einzug weiter zwischen die Gräber.

Dann wurde es ruhig. Ich kam mit Ragnar unmittelbar vor deinem Grab zum Stehen. Sechs ältere, ernsthafte Männer in schwarzen Mänteln und mit Schirmmützen standen letztes Spalier. Ein Segen noch, dann gab einer das Kommando und dein Blumensarg glitt rau an Seilen in die Tiefe. Viel tiefer, als ich gedacht hätte. Deine Eltern traten als erste heran und warfen zwei Schaufeln Sand. Friedrich und Amelie zündeten Partytischbomben, aus denen goldenes Lametta knallte – oder knallen sollte, denn es gab Ladehemmungen und geriet unfreiwillig absurd. Aber die Geste war gemacht. Dann war ich an der Reihe. Ich trat an den Rand der tiefen Grube und schaute hinab. Aus der Manteltasche zog ich die kleine Flasche Schnaps, die Du mir geschenkt hattest und die ich am Morgen spontan aus meinem Zimmer mitgenommen hatte. Ich schraubte den Verschluss auf, hob die Flasche hoch an den Mund und blickte in den blauen Himmel, nahm einen tiefen Schluck. Es schmeckte rein und klar, fruchtig, ja köstlich! Ich setzte die Flasche ab, streckte den Arm weit aus und goss den Alkohol über die Blumen auf deinem Sarg. Dann warf ich die Flasche hinunter in die Grube und den Schraubverschluss hinterher. Mach’s gut, sagte ich leise. Und trat ab. Andere kamen und gingen, warfen Sand und Blumen, einige schluchzten. Ich war mit Schluchzen fertig. Unbekannte Gesichter kondolierten mir, auch bekannte. Die Bläser spielten gemeinsam mit den Dudelsäcken ihr letztes Stück. Amazing Grace. How sweet the sound. Die Stimmung löste sich, die Gespräche schweiften ab. Man plauderte. Ich dachte, der Friedhof sei der schwierigste Teil, sagte ich zu Ragnar. Aber es war der Leichteste. Sobald sie in der Erde war, war irgendwie alles gut. Das ist der Sinn des Rituals, antwortete Ragnar. Wenn es gut gemacht ist, schlägst Du am Ende ein Kapitel zu. Ich sah ihm in die hellen Augen. Fühlt sich so an, sagte ich und schaute auf die Grube. Weißt Du, dass Maria selber den besten Kommentar für diese Situation gegeben hat? Als sie mir von ihrem Garten auf der Insel erzählte, sagte sie: Buddel etwas in der Erde ein und warte, bis etwas Anderes herauskommt. Das ist jetzt das nächste Kapitel, nicht wahr? Ja, sagte Ragnar. Da wird jetzt etwas Anderes draus. Lass uns Essen gehen.

Florentiner Spiegel

Seite 217 ff.

Tag 148

Ich schaue in die weichen Züge eines versteinerten Gesichts. Sie neigt den Kopf und sieht mich ohne Augen an. Von der rechten Schulter fällt ein Überwurf die Taille hinab und bringt mit einem Schwung um die Hüfte ihre Scham in meinen Blick. Sie steht direkt neben mir. Barbusig und ohne Arme. Vor mir reckt eine Sphinx ihren Hals in die Höhe und sieht in die Weite. Auch ihre Brüste sind nackt. Spitz und straff schauen sie zu mir. Ihre kleinen Terrakottaflügel ragen aufwärts von den Schulterblättern und enden bald nach einer Abwärtskurve oberhalb des Pos, der auf Löwenpfoten sitzt. Von einem flachen Sockel auf dem Boden reichen Schienbeine hinauf zu Knien und wenden sich zur Rundung zweier Schenkel, die hinabgleiten zum Unterleib einer Frau, die über dem Becken abgebrochen ist. Ich sehe auf Granit. Ich drehe mich um. Auf der anderen Seite meines Bettes sitzt ein hoher Pudel neben mir. Er wacht mit stolzem Kopf. Sein Fell ist manieristisch grau gekräuselt und steif wie Beton. Neben der Tür liegt ein halber Fuß aus Travertin, auf einem schmalen Podest in Reichweite der Gipsabguss eines weiblichen Dekolletés. Ich habe einen Stuhl vor die Tür gestellt, damit sie nicht aufgeht. Sie hat weder Schloss noch Klinke. Ich bin nackt unter der Bettdecke und liege selbst auf einem Sockel. Zwei Meter lang, 80 Zentimeter breit, 60 Zentimeter hoch, mit einer Matratze darauf. Als hätte ich die Nacht im Museum verbracht. Oder als sei ich nun selber ein Relikt aus der Vergangenheit. Aber noch Fleisch statt Stein. Abgelegt in einer Dachkammer unter Skulpturen. Das Fenster über mir sieht den Himmel durch ein altes Gestühl aus weiß gestrichenen Balken. Ich habe unruhig geschlafen.

Ich lese seit einigen Tagen die Erzählung von Philippe Lançon. Der Fetzen. Er ist Journalist bei Libération und gehört zu den Autoren der Pariser Satirezeitung Charlie Hebdo. Er war am 7. Januar 2015 mit im Raum, während der Redaktionssitzung zehn seiner Kollegen und Kolleginnen von zwei Männern mit Kalaschnikows erschossen wurden. Elf weitere Personen wurden verletzt, teils schwer. Er war eine davon. Es dauerte zwei Minuten. Während des Attentats zerfetzen ihm Kugeln den rechten und den linken Arm, eine weitere riss ein Drittel des Gesichts weg. Kinn und Kiefer. Das lässt sich nicht vergleichen. Und doch verbindet mich etwas mit ihm und dem Buch. Er überlebt, die Gefährten nicht. Er sieht sie um sich, immer wieder, tot oder sterbend oder gerade so überlebend im Kugelhagel von Leuten, die er nicht kennt und die Allah Akbar rufen, so als sei das eine Erklärung. Er findet allmählich zurück ins Leben, aber als ein anderer. Er begreift schnell, dass ein Philippe Lançon starb, während ein unbekannter Philippe Lançon überlebt und erst langsam zu sich kommt. Acht Monate lang lebt er in Kliniken mit entsetzlichen Schmerzen nach siebzehn Gesichtsoperationen und Transplantationen. Das entzieht sich meiner Vorstellungskraft. Ich kann mir nicht ausmalen, wie es ist, wenn einem der Kiefer weggeschossen wird und nach dem ersten Schock allmählich das Körperbewusstsein zurückkehrt und mit ihm die Schreie der Nerven beginnen, die auch das Morphium nicht betäubt. Was ich mir aber vorstellen kann ist, warum er sich der Chirurgin beinahe intim verbunden fühlt, die ihm, einer Bildhauerin gleich, wieder ein Gesicht geben wird. Und auch, warum er nach wenigen Tagen wieder zu schreiben beginnt. Kafka liest und Thomas Mann, Bach hört, die Goldbergvariationen von Glenn Gould. Er schreibt Artikel und Kolumnen, die letzte Brücke zu seinem alten Leben. Mit seinem Buch beginnt er erst zwei Jahre später, schreibt aus der Distanz des Rückblicks. Die Erzählung endet am 13. November 2015, dem Tag des Anschlags auf das Bataclan. Der Kreis des Terrors schließt sich um ihn. Als das Buch erscheint wird es emphatisch rezensiert. Auch, weil er die Attentäter nicht verurteilt oder stigmatisiert. Denn was ihn fast umbrachte, ist die Welt, über die er seit Jahren geschrieben hatte.

Ich bin nach Florenz gefahren, um meinen eigenen Text abzuschießen und nachzuschauen, wer ich geworden bin. Es ist an der Zeit. Lançons Abstand habe ich noch nicht, und ob sich irgendwo ein Kreis schließen wird, weiß ich nicht. Ich weiß, dass mich die Krankenkasse unter den Kennziffern F48, F21 und F55 abrechnet: Posttraumatische Belastungsstörung, Anpassungsstörung und mittelschwere Depression. Sie müssen jetzt mal raus aus ihrem Gegrübel, hat meine Therapeutin gesagt, und die Überhöhung ihrer Maria nervt auch ein bisschen. Fahren Sie mal richtig weg. Am besten irgendetwas mit Natur, damit ihr Realitätssinn wiederkehrt, meinte sie. Bloß nichts mit Kunst und Kultur. Und nehmen Sie sich Zeit.

Also schickte ich einem Freund, der beim Goethe-Institut arbeitet, eine Nachricht. Ob er eine Idee hätte, wo ich für einige Wochen hinkönne. Vielleicht ein Stipendium irgendwo. Ich hatte noch nie ein Stipendium. Immerhin schreibe ich an einem Buch, das könnte man doch unterstützen. Mein Freund leitete die Nachricht an eine Bekannte weiter, die ein deutsches Kulturinstitut am Stadtrand von Florenz führt, und sie bot mir per Email ein leerstehendes Zimmer an. Da bin ich jetzt. Umgeben von steinernen Hunden und tönernen Frauen in einer wundersamen kleinen Kammer unterm Dach. Das ist zwar nicht, was meiner Therapeutin vorschwebte, denn hier gibt es statt Natur ausschließlich Kunst und Kultur. Vor allem aber finde ich noch keinen Platz zum Schreiben. In der Villa, in der ich wohne, gibt es keinen Schreibtisch, drinnen kann ich nicht rauchen, draußen ist es klamm. In der Altstadt war ich noch nicht. Ich hänge herum in Vorstadtcafés. Lese und Schreibe auf dem Handy. Vielleicht reise ich wieder ab.

Tag 152

Der morgendliche Café in der Villa schmeckt nicht. Also bin ich der Steinmauer gefolgt, die vom Anwesen aus zu der steilen Straße führt, über die man hinunter zur Piazzale di Porta Romana gelangt, wobei man einen guten Blick über die Florentiner Ebene hat, aus der sich die große Kuppel des Domes langsam erhebt wie ein behäbiger Ballon. Hat man die Piazzale erreicht, bleibt zum Laufen nur ein Streifen Bürgersteig, der rings um den großen Kreisverkehr führt, von dem aus neun Straßen Autos, Busse und Mopeds hinein ins Zentrum und hinaus aufs Land verteilen. Ich habe mich vor einem Café auf einen der Stühle gesetzt und einen Espresso bestellt und ihn getrunken. Es hat genieselt. So wie seit Tagen. Auch in Florenz ist der Frühsommer ins Wasser gefallen, aber es ist warm genug, um tagsüber draußen in kurzen Hosen und Jackett unterwegs zu sein. Als ich zahle und aufstehen will, um einen Spaziergang entlang der äußeren Stadtmauer zu beginnen, bemerke ich auf dem Rasenrund in der Mitte des Kreisverkehrs einen Fuchs. Ich halte inne. Ich sehe zu ihm. Sein Fell ist dunkel und feucht. Er schnüffelt über das Gras, dann blickt er mit gesenktem Kopf in meine Richtung. Ich stehe auf und mache einen Schritt auf ihn zu. Und Du?, rufe ich über die vorbeifahrenden Autos zu ihm herüber. Was ist mit dir? Du mit deinem weichen Schwanz? Sag Du doch mal was dazu! Er wendet sich ab. Hey!, rufe ich. Er huscht über die Straße hinüber zum Stadttor und ich sehe noch, wie er sich an den alten Ziegelsteinen entlangdrückt und an den Fahrzeugen vorbei durch eine Gasse in Richtung Altstadt verschwindet. Ich rufe: Verdammt, ihr könnt doch nicht dauernd alle weggehen! Hey! Etwas bäumt sich in mir auf. Ich bahne mir durch den Verkehr einen Weg zum Stadttor und laufe die Gasse hinunter, in die der Fuchs gelaufen ist. Da hinten ist er. Hey! rufe ich, Bleib hier!, und laufe so gut ich kann, und denke kurz, ob ich nicht auf Italienisch rufen soll, was mir dann absurd vorkommt. Er läuft immer schneller hinunter in Richtung Altstadt. Verdammter Scheiß, jetzt komm her!, rufe ich im Rennen. Ich werde zornig, bekomme ein Seitenstechen, gehe in Trab über und verliere ihn schließlich aus den Augen. Ich bleibe stehen und beuge mich vor und atme durch, die Hände auf den Knien. Der Tinnitus pfeifft auf beiden Seiten des Gehirns. Vieni qui! Jetzt fällt es mir ein. Vieni qui. Komm her.

Dann hupt es hinter mir. Ein kleiner Elektrobus, der kaum durch die Gasse passt, rollt mit surrendem Motor heran, die Reifen ploppen auf dem Kopfsteinpflaster. Ich hebe eine Hand zum Zeichen, dass ich mitfahren will und steige ein. Der Bus ist voll wie ein Ei. Permesso!, zischt es neben mir, man drängelt, und der anfahrende Bus gibt die Stöße des Pflasters weiter an die Becken und Bäuche der umstehenden Fahrgäste. Draußen sehe ich im Vorbeifahren einen Dönerladen und daneben eine gemauerte Wandnische mit einer bunt bemalten Frauenfigur darin. Magdalena, denke ich, oder Maria oder Katharina oder Susanne. Irgendeine dieser verdrehten Figuren aus dem Wimmelbild feixender Bibelpuppen, die irgendwelche Leute installiert haben, um alles schön zu ihren Gunsten auszulegen, das eigene Maß und Recht auf Gold zu malen, in Wolken zu betten, in Nischen zu zimmern und einzurahmen in Smaragde aus Galle und Rubine aus Kot. Ich muss schmunzeln, wie gerne ich über die Kirche lästerte. Ich schaue den Gang entlang nach vorne durch die zitternde Windschutzscheibe. Von Füchsen ist nichts zu sehen. Am Ende der abschüssigen Gasse, die der Bus herunterbrettert, taucht der Arno auf und die Stadtsilhouette kommt näher.

Bevor wir die Brücke über den Arno passierten, rufe ich Descendere!, und als die Brücke schon hinter uns liegt nochmals: Descendere!!, und der Bus hält abrupt an der Piazza di Santo Stefano. Er kippt mich auf den Bürgersteig und durch die Wolken fällt Sonnenschein auf das vom Regen frisch gewaschene Pflaster der Straße vor mich hin. Es schillert. Um mich herum hunderte Füße und Beine und rollende Koffer. Über mir helle Sandsteinfassaden. Darüber Licht. Welch fabulöser Glanz! Eine tolle Masse beginnt, mich über das Kopfsteinpflaster durch die Straßen zu schieben, hinein in diesen alten Kanon, den ich nun betrete, und den hochgehaltene Regenschirme in allen Sprachen verkünden. Sie deklarieren den Menschen und seine Ideale, und zeigen zwischen Putten und Voluten, unter Kuppeln und Gewölben, auf Altären und auf Tafelbildern unter Heiligen und Seligen die falsche Maria Magdalena!


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