Deutsch DE English EN

Die Gestaltung der Nähe: Kulturwandel und Konfliktarbeit im Bürgerauftrag

Neurologisch betrachtet, lässt sich „Heimat“ als eine physiologische Veränderung im Gehirn beschreiben, die durch wiederholte Reizeinwirkung entsteht. Kurz: Heimat ist neuronale Prägung. Synaptische Loops der eintrainierten Wiederkennung von Bekanntem. Wie alles im Gehirn ist diese Prägung nicht in Stein gemeißelt, sondern bleibt beweglich, dynamisch, gestaltbar. Das allein sollte genügen, um jede inhaltliche Fixierung und Essenzialisierung des Heimatbegriffs zurückzuweisen. Das gilt auch für den Begriff der Identität. Gleichzeitig zeigt sich, dass Heimaten und die mit ihnen verknüpften Lebenswirklichkeiten aus der Interaktion mit einer Umwelt bestehen, die sich ihrerseits ständig wandelt. So sind Heimaten einerseits immer von Gestern, Spuren der Erinnerung, und andererseits Gegenstand einer fortwährenden Transformation, die in die Zukunft weist.
Zukunft zu gestalten, ist generell Aufgabe von Politik. Da Heimatpolitik immer öfter als kulturelle Aufgabe verstanden wird, sollte sie also vor allem als eine Politik der kulturellen Zukunft – statt Vergangenheit – begriffen werden. Ein Ministerium, das den Begriff der Heimat in seinem Titel führt, hätte demnach ein Kulturzukunftsministerium zur neuronalen Umordnung der Lebenswirklichkeit zu sein.
„Heimat ist da, wo man sich nicht erklären muss“, ist ein vielzitierter Ausspruch Johann Gottfried Herders. Dieses nostalgische, über 200 Jahre alte Heimatbild taugt heute nicht mehr viel und hat einen vordemokratischen Beigeschmack. Denn in einer demokratischen Kultur heimisch zu sein, bedeutet nicht, voraussetzungslos akzeptiert zu sei. Und wann ist man das je? Es bedeutet, auf offene Ohren zu treffen, wenn man sich zu Gehör bringen will. Akzeptanz zu erleben für die Dinge, die einem am Herzen liegen. Die Erfahrung zu machen, dass sich die eigene Welt so mitgestalten lässt, dass Vertrauen entstehen kann und Konflikte, die es in jeder Gemeinschaft gibt, nicht gefährlich, sondern verhandelbar sind. Ich würde Herders Satz gerne ins 21. Jahrhundert holen: Heimat ist da, wo man sich erklären kann!
Sofern Heimaten gefühlte Nahverhältnisse sind, geht es um weit mehr als Prousts Madelaine, jene berühmte literarische Szene eines synaptischen Rückfalls in die Zeit eines nostalgischen Wohlbefindens, in dem alles noch einmal warm und heil erscheint (Stichwort: Kindheit). Solch Wohlbefinden kann kein politisches Ziel sein. Neue Nahverhältnisse zu schaffen, in denen sich erwachsene Menschen in einer ihnen zugeneigten Welt so einrichten können, dass sie sich verstanden fühlen, indes schon.

Die Neuen Auftraggeber von Steinhöfel

Die Gemeinde Steinhöfel in Brandenburg besteht aus zwölf Dörfern, die im Zuge einer Bezirksreform zusammengelegt wurden und gemeinsam 4.448 Einwohner zählen. Lena Ziese, Mediatorin im Programm Neue Auftraggeber, wird von einer kleinen Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern aus Heinersdorf, einem der zwölf Dörfer, kontaktiert. Man habe da ein Problem. Die gut organisierte Initiative arbeitet seit Jahren daran, das ruinöse Gutshaus in eine Seniorenwohnstätte umzuwandeln. Ein architektonisches Konzept und ein Bewirtschaftungsplan liegen vor. Aber der Gemeinderat blockt ab. Das Projekt kommt nicht voran. Schon lange wird Heinersdorf als der privilegiertere, bevorteilte Ort betrachtet. Und das Bauprojekt erscheint vielen zu groß. Zu teuer. Zu abgehoben. Die anderen Teile der weitläufigen, großen Gemeinde sehen nicht ein, warum sie ihre ohnehin knappen Ressourcen ausgerechnet wieder in Heinersdorf bündeln sollen. Es droht Streit. Die Mitglieder der Gutshaus-Initiative bitten Lena Ziese, ein PR-Konzept zu entwickeln, um eine Mehrheit hinter das Projekt zu bringen. Stattdessen fragt die Mediatorin nach: Was sind die Gründe für die Blockade? Woher kommt der Zwist in der Gemeinde? Gibt es nichts Verbindendes? Aus dem Hintergrund treten Konfliktlinien hervor, die die DDR-Zeit durchziehen und noch weiter zurück in die Vergangenheit reichen. Was soll man also tun? Die Geschichte aufarbeiten? Querelen schlichten, deren Ursachen längst vergessen sind?
Die Mediatorin will den eingefahrenen Wegen entkommen und den alten Konflikten eine neue Dynamik geben. Einer der Auftraggeber schlägt vor, sich in der Mitte zu treffen, und zwar buchstäblich: der geografische Mittelpunkt der Gemeinde soll ermittelt werden, der, wie sich herausstellt, auf einem Acker liegt. Kann man sich dort neu und anders begegnen? Gemeinsames finden? Geht es wirklich nur um das alte Gutshaus? Allmählich zeigt sich, was nach und nach zum „Auftrag“ der Steinhöfler wird: Es geht darum, die Sprachlosigkeit zu überwinden. Das Dorf von morgen muss miteinander reden können, obwohl es vielleicht keine tradierte Gemeinsamkeit mehr hat. Es geht darum, wie man in Zukunft zusammenleben wird, denn bald wird klar, dass die Dörfer, jenseits aller Differenzen, eines miteinander verbindet: ihre Bewohner*innen werden alt. Und sie fragen sich in Anbetracht schwindender Infrastrukturen, wie das gehen soll.
Zukunftsangst klingt durch. Sie betrifft viele. „Was wird aus uns?“. Wie können wir miteinander reden, wenn die Treffpunkte weniger werden, die Kontakte virtueller, die Arbeit digitaler, das Altern teurer und einsamer? Wenn keiner dem anderen die Geschichten erzählt, die aus versprengten Dörfern ein Gemeinwesen werden lassen? Kann man eine Heimat neu erfinden, in der es sich gut zusammen alt werden lässt?
Bald formulieren Vertreter*innen der Dörfer einen erstaunlich offenen Auftrag, der an eine Künstler*in übermittelt werden soll: „Wir beauftragen ein künstlerisches Projekt, das die Menschen aus den zwölf Dörfern der Gemeinde Steinhöfel zu einem Dialog über die Gestaltungsspielräume ihres Älterwerdens zusammenbringt. Das Projekt soll den Menschen Möglichkeiten eröffnen, sich gegenseitig beim Älterwerden zu unterstützen. Durch den künstlerisch inspirierten Austausch sollen konkrete Anlässe entstehen, die es uns ermöglichen, unser Älterwerden in der Region gemeinsam zu gestalten.“
Dabei wird freilich viel erhofft. Denn was immer die Kunst zu leisten vermag – mangelnde Infrastrukturen für alternde Menschen in ländlichen Regionen wird sie nicht ersetzen. Was die Auftraggeber*innen indes formulieren, ist nicht die Forderung nach einer praktischen Lösung von Problemen, für die es keine einfachen Lösungen gibt. Sie erhoffen sich einen neuen Raum der Verständigung, der ihren Blick in die Richtung von etwas lenkt, das jenseits des Bestehenden liegt, einstweilen unbekannt ist und erst erfunden werden muss: Älterwerden in der Region gemeinsam zu gestalten. Der künstlerische Prozess, der aktuell, Stand Dezember 2019, im Auftrag der Bürger*innen von Steinhöfel in den Startlöchern steht, wird zeigen, welche Mittel und Wege die Kunst finden wird, um diesen Prozess der Verständigung zu mobilisieren. Vorläuferprojekte der Neuen Auftraggeber haben seit 30 Jahren vielfach gezeigt, dass, und wie, das gehen kann.

Kunst und Resonanz im Nahbereich

Das Beispiel Steinhöfel ist exemplarisch für viele Projekte der Neuen Auftraggeber. Das Programm, derzeit in einer fünfjährigen Pilotphase gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes, ist ein historisch noch junges kulturpolitisches Modell, das europaweit immer mehr Zuspruch erfährt[1]. Es bietet Bürger*innen jeglichen Hintergrundes insbesondere an Orten mit schwacher Infrastruktur die Möglichkeit, Künstler*innen von Rang mit Projekten zu beauftragen, die auf lokale Herausforderungen antworten – und dabei oftmals zu ungewöhnlichen Ergebnissen kommen, die in ihrer Wirkung beispielgebend sind. Ähnlich wie in Steinhöfel sind es oftmals Sackgassen im lokalen Handlungsvermögen, Verständigungsschwierigkeiten zwischen disparaten Gemeinschaften, oder die mangelnde öffentliche Wahrnehmung eines schwelenden Konflikts, die kleine Bürgerinitiativen dazu bewegen, sich als Auftraggeber eines Kunstprojektes auf neue und ungewohnte Wege zu begeben. Und wie in der Gemeinde Steinhöfel sind es oftmals die Strukturprobleme in ländlichen Räumen, die Bürger*innen nach neuen Handlungsoptionen suchen lassen, und dabei – das kann nur auf den ersten Blick überraschen – auch die Kunst als einen Transformationsmotor entdecken, der bisherige Denkmuster verlässt und eine Gestaltung des Wandels in Aussicht stellt, den anzugehen sich herkömmliche Instanzen und lokale Akteure alleine oft schwertun.
Wie die Konfliktforschung und die noch recht junge Disziplin der Social Innovation Studies gezeigt haben, ist es der zwischenmenschliche Nahbereich, in dem gesellschaftliche Transformationen besondere Aussicht auf nachhaltige Wirkung haben. Dabei ist die Erweiterung des Vorstellungsvermögens der handelnden Akteure ebenso entscheidend wie das Erleben greifbarer Ergebnisse, in denen sich die Wirkmächtigkeit des eigenen Tuns zeigt. Der Soziologe Hartmut Rosa spricht von „Resonanzachsen“, um ein Wirkungsverhältnis zwischen Individuum und Umwelt zu beschreiben, in dem der Einzelne erfährt, dass die Welt um ihn herum nicht still und passiv bleibt, sondern unmittelbar erreichbar ist. In ihrer komparativen Studie zur Entwicklung der Neuen Auftraggeber in Europa hat die französische Soziologin Estelle Zhong Mengual Hartmut Rosas Konzept der Resonanz wie folgt zusammengefasst: „Eine Resonanzachse zu haben bedeutet, etwas erreichen, bewegen und umgekehrt von der Welt in Bewegung gesetzt zu werden: „Ich handle, sie reagiert, und ich bin im Gegenzug betroffen““[2].
Diese Erfahrung machen viele Menschen heute offenbar nicht, drum ihr sozialer und politischer Frust, und drum der gesellschaftliche Handlungsbedarf, resonanzfähige Nahbereiche zu beleben. Im Falle Steinhöfels etwa spielen, wie vielerorts, Gemeindereformen eine Rolle, die politische Prozesse aus der lokalen Erreichbarkeit in immer ferne Apparate verrücken und dabei den Eindruck einer von Stille und Passivität geprägten, resonanzlosen Lebensumwelt verstärkt haben. Oder, wie mir ein Dorfbewohner sagte: „Früher sprach man den Bürgermeister in der Kneipe an, wann denn die Zone 30 vor der Schule endlich kommt. Heute weiß ich gar nicht mehr, wen ich das fragen soll. Und die Kneipe und die Schule sind auch weg.“

Heimaten – Transformationsgeschichten

Nun wäre es absurd, ersatzweise die Kunst herbeizurufen. Und es ist streitbar, wie weit die Zivilgesellschaft einspringen soll, um das Zurückweichen öffentlicher Infrastrukturen zu kompensieren, anstatt deren Ausbau zu fordern. Unstrittig sollte hingegen der Wert lokaler Initiativen von Bürger*innen sein, die sich Problemen in ihrem sozialen Nahbereich zuwenden und nach Wegen suchen, aktiv auf sie einzuwirken. In dieser Perspektive ist es keineswegs absurd, künstlerische Projekte als Stromerzeuger für neue Formen des lokalen Engagements in Betracht zu ziehen, und von ihnen jene Perspektiverweiterungen und Innovationsmomente zu erhoffen, ohne die vor Ort sonst vielleicht alles so stehen bleibt, wie es schon steht.
Wie Estelle Zhong Mengual in ihrer Studie herausstellt, haben künstlerische Projekte im Bürgerauftrag in verschiedenen Regionen Europas solche Resonanzräume, wie Hartmut Rosa sie beschreibt, vielfach dadurch neu eröffnet, dass Akteure von außen – die Mediator*innen und die beauftragten Künstler*innen – lokalen Bedürfnislagen neuen Schwung gegeben haben. Anders, als es mitunter an politischen Strukturmaßnahmen oder der Arbeit von Entwicklungs-NGOs kritisiert wird, entsteht dieser Schwung nicht in einem Top-Down Prozess durch von außen induzierte Maßnahmen, die lokale Erfahrungswelten und Kompetenzen, und damit Nachhaltigkeitseffekte, mitunter verfehlen, sondern in moderierten Bottom-Up-Prozessen, in denen Bürger*innen dabei begleitet werden, neue öffentliche Kulturgüter zu schaffen, ohne vorher schon zu wissen, was am Ende herauskommen wird, und mit viel Zeit für Wendungen und Richtungswechsel.
Im Programm der Neuen Auftraggeber sind Bürger*innen keine passiven Empfänger von Kulturangeboten. Sie fragen stattdessen aktiv nach Formaten einer zeitgenössischen Kulturpraxis, die ihre Erfahrungen und Fertigkeiten in lokale Initiativen einbringt und die Herausforderung annimmt, auch außerhalb angestammter Institutionen auf Bedarfe zu reagieren. Die Auftraggeber*innen übernehmen dabei Verantwortung für Belange ihres Gemeinwesens, für die Produktion sozialen Zusammenhalts. Bedürfnisse können öffentlich sichtbar werden, Differenzen verhandelbar. Sprachfähigkeit kann entstehen, wo Menschen aus verschiedenen Bereichen der Bevölkerung Vermittler*innen und Künstler*innen einladen, in Dialog zu treten, sich auf Unbekanntes einzulassen, zunächst einmal genau zuhören, worum es vor Ort geht, um sodann künstlerische Impulse zu setzen, auf die die Bürger*innen ihrerseits reagieren können. Estelle Zhong Mengual beschreibt, wie sich dabei auch das Verhältnis zur Politik und öffentlichen Verwaltung beleben kann. Schreitet ein Auftragsprojekt voran, müssen Finanzmittel eingeworben werden, Genehmigungen für Baumaßnahmen werden nötig, Amtsträger*innen werden in öffentliche Debatten eingebunden, neue soziale Orte und Partnerschaften entstehen, ein Werk wird feierlich eingeweiht.
So entsteht etwas Wesentliches: Resonanz. Ein Umfeld, in dem sich alle Beteiligten erklären können und müssen, um sich dem gemeinsamen Ziel zu nähern, etwas Neues zu errichten: Kunstwerke im Bürgerauftrag, die – weithin öffentlich sichtbar – Formen finden, um soziale Nahbereiche zu prägen, umgestalten, anders zu fassen und zu beschreiben, als bisher. Auf diese Weise trägt Kunst zur Daseinsvorsorge und zur Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen bei. Auch für kunstferne Akteure, und das sind die meisten Bürger*innen, die sich im Programm Neue Auftraggeber engagieren, stellen Kunstprojekte vielversprechende Resonanzachsen dar. Weil sie neue Sinnbeziehungen ins Spiel bringen, alte Themen und soziale Orte neu einrahmen, Blicke auf Vertrautes neu und anders ausrichten, und etwas in die Welt setzt, das dort vorher nicht war: eine künstlerische Form, die sich greifen lässt, die, sofern sie materiell ist, dauerhaft vor Ort verbleibt und wirkt, und oftmals mit einer lokalen Transformationsgeschichte verknüpft ist, die sich im Werk selbst immer wieder neu erzählt.
Die Bürger*innen von Steinhöfel wollten wissen, ob alles so stehen bleibt, wie es schon steht. Ihre eigene Antwort war: Nein. Heimat ist gestaltbar. Auch wenn das schwierig ist. Auch wenn es heißt, durch Konflikte zu gehen. Auch wenn es dafür Instrumente braucht, die unorthodox erscheinen mögen, und im weiteren Verlauf auch Institutionen von der Verwaltung bis zur Politik, Netzwerke in Stiftungen und Wirtschaft, in Kunst in Kultur. Heimaten sind die groß empfundenen Wendungen vom Einen ins Andere, ein Projekt zwischen erinnern, bewahren und erneuern.
Was, wenn nicht die Kunst- und Kulturpolitik – als Gesellschaftspolitik – sollte das Ganze der Beziehungen ins Auge nehmen, die das Zusammenleben in Gemeinschaft ausmachen? Die neue Rechte weiß das sehr gut. Auch, wenn auch natürlich nicht nur, vor diesem Hintergrund ist es hohe Zeit, kulturelle Naherlebnisse zu beleben, Bürger*innen als die entscheidenden Akteure in der Ausgestaltung ihrer Nahbereiche zu betrachten, und sie auch strukturell und finanziell in Prozesse echter gesellschaftlicher und kultureller Teilhabe einzurechnen.
[1] Nachdem in Frankreich, Belgien, Italien, Deutschland, Spanien und der Schweiz bislang über 500 Kunstprojekte im Bürgerauftrag entstanden, schließen sich derzeit immer mehr lokale und internationale Akteure aus Politik und Zivilgesellschaft dem Programm an.
[2] Estelle Zhong Mengual: La démocratie comme destin commun. Étude de l’action Nouveaux
commanditaires en Europe (Allemagne, Belgique, Espagne, Italie), Paris 2019

Nach oben / Back to top