„Der letzte Tag des Jahres“ entstanden weitgehend in den Tagen zwischen dem 5. und dem 12. Januar 2019, unmittelbar nach dem Unfall auf Fuerteventura, bei dem Maria Magdalena Ludewig ertrank. Die folgenden Leseproben aus dem 260-seitigen Manuskript veröffentliche ich hier zum Einblick in den noch nicht publizierten Text.
Leseproben
Seite 3 ff.
Maria Magdalena starb am letzten Tag des Jahres. Wir kannten und drei Tage und fünf Abende lang, ehe uns eine Welle in den Atlantik riss. Maria ertrank, ich nicht. Das ist jetzt fünf Tage her. Heute morgen rief meine Mutter an, in ihrer Lokalzeitung habe es gestanden. Eine der radikalsten Theatermacherinnen des Landes sei viel zu früh verstorben. Da habe auch gestanden, ein Mann hätte noch versucht, die Frau zu retten. Ob das stimme, fragte sie. Das stimmt nicht, wie nun auch meine Mutter weiß. Ich habe nicht versucht, dich zu retten. Dazu war keine Zeit.
Das Wort Radikal sei in dem Artikel übrigens nicht gestanden, sagte meine Mutter in einem zweiten Telefonat, nachdem ich ihr die ersten Sätze dieses Textes geschickt hatte, um zu fragen, ob ich sie darin vorkommen lassen könne, womit sie einverstanden war. Sie meinte aber, wenn man schon im ersten Satz erfahre, dass jemand tot sei, dann bekäme ich ein Problem mit dem Spannungsbogen, und Kraftworte wie Radikal solle ich generell vermeiden. Sie fände aber gut, dass ich schreibe. Das lenke mich ab. Ich fand das unmöglich und beendete das Gespräch.
Mit dem Wort Radikal hat sie aber recht. Das stand nicht in den Zeitungartikeln. Das stammt von mir. Für einen Pressetext wäre es zu laut und zu anmaßend gewesen. Aber du warst nun einmal laut und anmaßend. Das will nur niemand sagen. Man kann jetzt vieles nicht mehr sagen. Hier haben alle Angst, Maria. Ich auch. Vor dem Salzgeschmack in der Lunge, vor dem Sog hinaus aufs Meer, und vor den Altären in den Kirchen, die Maria Magdalena zeigen, die den toten Geliebten beweint, wo doch heute ich es bin, der in vertauschten Rollen auf dich schaut.
***
Jetzt sind es also schon sechs Jahre. Sechs Jahre, dass sie tot ist. Sechs Jahre, in denen ich an diesem Text gearbeitet habe. An Details. Einige Worte, etwas Satzbau, manchmal fiel mir noch etwas ein, das ich zuvor nicht erinnerte. Gelegentlich war ein Absatz verzichtbar. Um mehr zu verändern, hatte ich nicht viele Möglichkeiten, weil das, was ich geschrieben habe, zu dem gehört, was geschehen ist.
Man hat mir geraten, ich solle aus dem Material einen Roman machen. Das geht aber nicht. Auch Autofiktion geht nicht. Nicht, weil mir Authentizität oder gar Wahrheit viel bedeuten würden, sondern weil ich mir das alles ja nicht ausgedacht habe, Der Text ist entstanden, wie er entstanden ist, teils unter Schock. Insofern ist er ein Dokument. Die ersten 170 Seiten (mein Manuskript hat 257 Seiten) habe ich in den Tagen zwischen dem 5. und dem 12. Januar 2019 geschrieben, in der zweiten Woche nach Marias Tod. Dass ich jetzt eine Art Präambel schreibe, ehe der Text fortfährt, liegt daran, dass der Icherzähler der Geschichte in seiner eigenen Zeit schreibt, in einem vergangenen Hier und Jetzt, welches der Autor der Erzählung, ich, heute nicht mehr zur Verfügung hat, während ich Ende Dezember 2024 mit dem Laptop in einem Café in Istanbul, wo ich nun manchmal lebe, das Manuskript noch einmal überarbeite und nicht so tun kann, als gäbe es mich nicht. Mich, sechs Jahre später, der sich selbst noch einmal liest als denjenigen, der überlebt hat und für den es damals nur noch Worte gab. Heute gibt es für mich wieder eine Welt, eine Welt allerdings, die so viel schlimmer geworden ist, als Maria und ich es damals hätten ahnen können, wobei mich das, was nach uns geschah, nicht wirklich überrascht hat. Maria hätte es auch nicht überrascht.
Zum Jahresende hin hole ich den Text, der nun folgt, immer wieder hervor und klopfe gegen einige Seiten, weil ich nervös bin. Auch diesmal. An Sylvester schaue ich regelmäßig auf die Uhr. Nicht kurz vor Mitternacht. Den Zeitpunkt kennt jeder, er kommt zuverlässig und man kann ihn kaum verpassen. Mein Zeitpunkt liegt am Nachmittag irgendwo um 16 Uhr. Genau weiß ich das nicht. Das macht es so unangenehm. Es ist nicht so, dass ich darauf warte. Ich weiß nur, dass sich die Zeiger dorthin bewegen und mein Puls wird langsam schneller und das Atmen schwerer, weil mir alles wieder einfällt. Und dann brauche ich mein Buch. Um mich zu vergewissern. Es ist noch immer nicht publiziert. Die ersten Verlage, denen ich das Manuskript geschickt habe, wollten es nicht drucken. Es sei schon gut, hat man mitunter gesagt, nur sei das Genre nicht klar und damit auch das Marktsegment. Kein Roman, kein Sachbuch, keine Biografie (Machen Sie doch eine Novelle daraus!). Oder, auch nett: Wären Sie berühmt, wäre das ein toller Stoff. Auch für einen Film. Aber Sie kennt ja niemand (Was ich übertrieben finde). Die eine wiederkehrende Frage, warum ich diesen Text denn unbedingt veröffentlichen möchte, erstaunt mich jedes Mal. Ich kann dann nur antworten: Warum sonst hätte ich ihn schreiben sollen?
Da aber vorerst niemand meine Erzählung lesen kann, weil sie in keiner Buchhandlung liegt, lese ich sie selbst, damit sie da ist. Wird sie gedruckt, kann ich damit aufhören und sie zu den anderen Büchern ins Regal stellen. Einstweilen beginne ich jedes Jahr wieder von vorne.
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Seite 16 ff.
Unsere Leben waren ähnlich, wenn ich auch ihres farbiger fand. Geld hatten wir beide nicht viel, und was reinkam war schnell wieder weg. Doch hatten wir das Privileg, in der Kunstwelt hierhin und dorthin eingeladen zu werden und gelegentlich am Saum des Überschwangs mit am Tisch zu sitzen, wenn der Champagner floss. Wir arbeiteten beide gut und gerne siebzig Stunden die Woche, wobei wir zu diesen Stunden auch die langen Abende mit Künstlerinnen und Intellektuellen zählten, Recherchereisen, oder in Kneipen sitzend an Kulis kauen und Konzepte schreiben. Im Grunde mochte jeder von uns seine Existenz und konnte sich sowieso keine andere vorstellen. Und doch war ich ausgelaugt, wie ich sagte. Ich pendelte seit Jahren als Handlungsreisender zwischen verschiedenen sozialen Welten hin und her, wie es in unserem Beruf üblich war, ohne je irgendwo wirklich dazuzugehören oder gar anzukommen. Es konnte vorkommen, dass ich morgens bei einer wohlhabenden Kunstsammlerin brunchte, danach eine Gruppe junger Kurden für ein Buchprojekt über ihre Flucht aus dem Irak traf, und abends die letzten Münzen in der Hosentasche für ein Bier in der Kreuzberger Eckkneipe ausgab. Maria kannte das. Wie ich managte sie jedes Jahr hunderttausende Euro von Fördergeldern, durchwanderte die armen und reichen Milieus der großen Städte und fühlte sich manchmal stark, wenn sie einige Stücke aus dem Kuchen des Kapitals herauspulte, um sie eigenhändig dorthin zu bringen, wo man sie wirklich brauchte, wie wir fanden, ohne selbst viel davon abzubekommen. Es klingt wie ein Klischee, ich weiß. Aber wir lebten so und viele unserer Bekannten lebten ähnlich.
Jetzt, da wir sprachen, durchquerte ich die Widersprüche in mir, die mit der Zeit immer beklemmender geworden waren. Täglich schoben sich die Wände des Kommerzes und die Lebenslügen der liberalen Kulturelite, zu der wir selbst zählten, näher um mich zusammen und rückten dem Glauben an die sozialen Ambitionen auf die Pelle, die ich mit der Kunst stets verbunden hatte. Während ich nicht sicher war, ob ich nicht längst selbst in einer Lebenslüge lebte. Einige Generationen lang war die Kunst für einen Teil der Menschen in den westlichen Gesellschaften, und nicht nur dort, eine zweite Heimat gewesen, wo sich freier atmen ließ und wo die Bilder einer humaneren Zukunft geschmiedet wurden, von denen manche im Laufe der Geschichte sogar wahr geworden waren. Doch seit etwa dreißig Jahren verwaltete der Kulturbetrieb das zunehmend anachronistisch gewordene Phantasma eines sogenannten Möglichkeitsraumes, dem die Möglichkeiten ausgingen. Ich erzählte Maria von einem Künstler aus dem kurdischen Teil des Irak, mit dem ich befreundet war und auch arbeitete, und der international Beachtung gefunden hatte – nun aber nicht mehr weiterwusste. Er hatte kürzlich einen Vortrag über seine Arbeit gehalten, bei dem ich zugegen gewesen war, und sich während seiner Beschreibung der aktuellen Lage im Nahen Osten jäh selbst unterbrochen. Er hörte plötzlich auf zu sprechen, stand minutenlang stumm da, sah uns an und sagte schließlich, den Tränen nahe: Da wo ich herkomme, aus Kurdistan, werden in wenigen Jahrzehnten keine Menschen mehr leben können, so wie an anderen Orten der Welt auch. Der Klimawandel wird sie vertreiben, so wie sie heute schon von den Inseln im Pazifik vertrieben werden, die der Meeresspiegel schon überspült. Und Europa macht bereits die Grenzen dicht und bewaffnet sich gegen Fremde, weil ein paar Millionen Flüchtlinge um ihr Leben rennen. Aber es werden hunderte Millionen sein, die um ihr Leben rennen werden. Und dann war er wieder still geworden und von der Bühne gegangen. Ich ging ihm hinterher, wollte ihn irgendwie auffangen, aber er wollte das nicht. Es war kein Einzelfall. Viele meiner Freunde und Kolleginnen hatten ihre Illusionen aufgebraucht und waren, wie ich auch, in Therapie oder nahe dem Burnout. Eine Epidemie der inneren Erschöpfung hatte Regisseure und Dramaturgen, Kuratorinnen und Tänzerinnen, Künstlerinnen und Schriftsteller erfasst und ließ sie, während sie weitermachten, immer öfter mit leeren Blicken in der Gegend stehen. Die Politik ließ uns verzweifeln, der Populismus und die neuen Meinungsregime machten uns fassungslos, und unsere privaten Beziehungen trugen uns nirgends dauerhaft hin.
Mir war nach Besinnung. Ich wusste nur nicht, worauf mich besinnen. Als der Zug in Berlin einfuhr und sich die Fenster mit der Stadtkulisse füllten, sagte ich zu Maria: Weißt du – seit zwei Jahren höre ich keine Musik mehr. Früher habe ich andauernd Musik gehört. Aber heute kommt es nicht mehr dazu. Ich weiß nicht mehr, welche. Dann musst du mich besuchen kommen, offerierte Maria munter. Bei mir läuft immer Musik. Und zwar gute Musik! Ich nahm die Offerte an.
Aber zunächst flog sie nach Athen. Sie hatte nahe dem Zentrum, in Kerameikos, eine Wohnung gemietet, was meinen Neid hervorrief, liebte ich doch Athen und hatte mir jüngst aus dem Kopf schlagen müssen, dort zu überwintern. Ich schrieb ihr in den folgenden Wochen einige Nachrichten über Facebook, sie antwortete gelegentlich, ständig flog einer von uns irgendwohin zu einer Ausstellung, einem Festival, einer Tagung, unser ökologischer Fußabdruck war eine Katastrophe, aber wir kämpften ja für die gute Sache, wie wir uns entgegen unserer Zweifel noch gerne erzählten, so wie alle im Kulturbetrieb, die an der Frontlinie einer Bewegung zu handeln glauben, die von einer gerechteren Welt träumt. Und Flugzeuge waren nun einmal die Pferde unserer Kavallerie. Ein paar Tausend Kilometer später lud mich Maria zum Essen ein. Sie war zurück in Berlin. Es war der erste Dezember.
Seite 61 ff.
Wir marschierten weiter und erreichten eine Stelle, an der die Wellenzungen besonders bizarre Sandsteinreliefs in den Steilhang gewaschen hatten. Wir schauten empor zu einer Art hervorstehender Balustrade, die wie ein langer Naturbalkon hoch über unseren Köpfen aufragte und an deren oberster Kante filigrane Ornamente ein Geländer andeuteten, das während des Jugendstil ein Designer auf LSD hätte entworfen haben können. Bleib mal stehen, sagte ich. Genau da wo Du jetzt stehst hat Antoni Gaudà zum ersten Mal die Idee gehabt, diese sonderbar rundgelutschten Architekturen zu bauen, für die er dann berühmt wurde. Obwohl – da wo Du stehst, da standen seine beiden Kinder, er stand etwas weiter links und zeichnete die Balustrade ab. Kennst Du den Park Güell in Barcelona? Da gibt es diese Terrassenkonstruktion, die eine künstliche Höhlenarchitektur überwölbt. Und oben an den Rändern bilden diese bunten, etwas kitschigen Kachelornamente eine geländerartige Mauer. Sieht fast so aus wie hier. Und weißt Du, warum? Der Park Güell geht auf die Zeichnungen zurück, die er hier gemacht hat. Ist alles nur aus der Natur geklaut. Und die Kinder haben genörgelt, weil sie weiterwollten und nicht länger auf den zeichnenden Vater warten, sagte Maria. Wie alt waren die beiden noch? Acht und zwölf, sagte ich. Und wie hießen die? Peter und Ludwig, sagte ich. Die Familie seiner Frau kam ja ursprünglich aus Dortmund. Sie hieß Lisa. Ja, sagte Maria. Die hatte doch diesen aristokratischen Hintergrund und eigentlich die Kohle, oder? Lass uns dahinten noch um die Felsnase rumgehen, und dann laufen wir langsam zurück, ja? Hinter vielen dieser Leute, sprach ich im Gehen weiter, die es schon jung weit brachten, standen in Wahrheit vermögende und starke Frauen. Auch die ganze Idee mit der Romantik und den Höhlen stammt eigentlich von Frau GaudÃ, geborene Halberstädt. Sie hatte halt mehr Kultur als er, sagte Maria und hüpfte über einen Felsspalt. War doch nett von ihr, dass sie ihm half. Außer bei der Sagrada FamÃlia, sagte ich und hüpfte hinterher. Da stieg Lisa aus. Die ist viel zu groß, Antonin, hat sie immer wieder zu ihm gesagt. Das Ding wird niemals fertig. Nimm doch wenigstens ein paar dieser Türme weg! Aber nein, er musste auch noch einen Weihnachtsbaum mitten auf die Brücke zwischen den Türmen bauen. Sie fand das alles aberwitzig.
Und dann begann sie diese Affäre mit dem 19jährigen Hundertwasser, fuhr ich fort, was zu einer architekturgeschichtlichen Katastrophe führte. Jetzt konnte Maria nicht mehr an sich halten, ich auch nicht. Wir brachen in schallendes Lachen aus und hielten uns die Bäuche. Wir warfen uns schalkhafte Blicke zu, dann machte Maria weiter: Sie brannte mit Hundertwasser einen Sommer lang nach Rumänien durch, während ihr Mann an der Sagrada FamÃlia baute. Hundertwasser hatte ja diese rumänischen Wurzeln und sie auch. Sie suchten nach alten Familienspuren; und sie mochte ihn. Er war blutjung. Ja, sagte ich, am Ende war er ihr dann aber doch zu dumm. Versuchte dauernd, ihren Gatten zu imitieren, anstatt sich selber etwas auszudenken. Sie hatte noch einige andere Liebhaber, wusste Maria, und ihre späten Jahre verbrachte sie auf ihrem Landsitz bei Barcelona, wo sie diesen berühmten Rosengarten anlegte. Kennst Du den? Ja, die Rosen, sagte ich. Hast Du diesen schrecklichen Bahnhof von Hundertwasser mal gesehen?, fragte Maria und fegte mit den Turnschuhen durch Gestrüpp, das trocken am Boden lag. Irgendwo in dieser kleinen deutschen Stadt, Peine oder Uelzen? Ich guckte sie zweifelnd an. Uelzen? In Echt? Ist wahr!, sagte sie, den Bahnhof gibt es wirklich. Wir schauten kurz irritiert. Na und?, sagte ich. Alles andere ist doch genauso wahr! Es ist nur anders wahr! Maria lachte. Anders wahr, das fand sie gut. Ich dachte gleich, das passte zu ihren Inselrecherchen.
Wir waren mittlerweile wieder oberhalb der Küste in der Steppenlandschaft unterwegs zurück zum Auto. Wo Zaha Hadid wohl ihre Formensprache herhat, sagte ich in die Weite. Irgendwas mit Orient, sagte Maria. Und Mies van der Rohe? Es gab da diese prägende Reise, als der junge Mies von Berlin aus mit dem Zug seinen jüdischen Onkel in Odessa besuchen fuhr. Es war eine lange Reise gewesen. Begeistert zeichnete er vom Zugfenster aus die weiten Ebenen der Ukraine und die schlanken weißen Stämme der russischen Birkenwälder. Es gibt da dieses Skizzenbuch. Es besteht nur aus gezeichneten Horizontalen und Vertikalen. Hatte alles nichts mit Mondrian oder Moderne oder so zu tun, stellte ich fest. Er hatte einfach der Natur zugeschaut. Maria war sicher, dass das Skizzenbuch in der Berliner Staatsbibliothek aufbewahrt wurde. So wie ein anderes Buch, dass sie dringend für eine Recherche gebraucht und dort mehrfach angefragt hatte. Man hatte das Buch nirgends finden können, ihr aber schlussendlich mit Nachdruck versichert, es sei da. Das Buch sei da, und Punkt. Man wisse nur nicht, wo. Ja, sagte ich. So ist das mit Mies’ Skizzenbuch auch.
Wir sammelten noch eine Reihe weiterer Geschichten darüber, woher große Architekten in jungen Jahren die grundlegenden Ideen nahmen, die ihr späteres Werk geprägt und berühmt gemacht hatten. Ich erinnere mich an Chipperfield, den wir beide langweilig und konservativ fanden. Alte Schweizer Schieferhütten, begann Maria. Diese schwarzen Schindeln mit etwas grünem Moos darauf, weißt Du? Chipperfield hatte Familie in der Schweiz und verbrachte dort als junger Mensch einige Zeit. Ziemlich reich, ziemlich dekadent. Er langweilte sich. Bis er die alten, halb verfallenen Schieferhütten entdeckte und glaubte, den schweren Geist ihrer Geschichtlichkeit mit zeitgenössischer Architektur zusammenbringen zu müssen. Fürchterlich, sagte ich. Ja, sagte Maria, aber war so.
Daniel Liebeskind litt seit früher Kindheit unter grundlosen Kopfgeburten. Rem Koolhaas hingegen fanden wir gut, da war irgendwas mit Marihuana und Kommune in seiner frühen Biografie. Wir scheiterten aber bei dem Versuch, uns an Architektinnen zu erinnern, die wir kannten. Wir kamen immer nur auf Männer. Oh!, kennst Du John Lautner?, fragte ich mit plötzlicher Emphase. Nein? Den muss ich dir zeigen. Der ist bomfazionös. Maria: Der ist was? Ich: Bomfazionös! Ich hatte schon den ganzen Tag über sonderliche Kraftworte verwendet, die mir ewig nicht über die Lippen gekommen und die auch sonst eher selten im Sprachgebrauch waren. Ich hatte einige Jahre in meiner Partnerschaft Englisch gesprochen, nicht Deutsch, und auch beruflich sprach ich viel Englisch und Französisch. Jetzt entdeckte ich im Gespräch mit Maria wieder die Feinheiten meiner Muttersprache. Maria sprach ausdrucksstark und manchmal sehr präzise. Sie lachte mich etwas aus über die komischen Wörter, die herauszukramen mein Sprachzentrum sich jetzt offenbar ein Vergnügen machte. Wir hatten Spaß. Gott, was hatten wir Spaß bei diesem langen Spaziergang, und wir gelangten zu der Auffassung, dass wir unbedingt, ja zwangsläufig gemeinsam ein Buch über die Geschichten der jungen Architekten schreiben mussten. Wir konnten es gar nicht nicht schreiben, jetzt, da all diese herrlichen Ideen in der Welt waren und wir wussten, was niemand wusste, und was nun keiner mehr erfahren wird. Denn alleine kann ich dieses fulminante Buch nicht schreiben. Dazu fehlt mir ohne sie die Fantasie.
Wir stiegen in den Wagen. Es war bereits drei Uhr, wir hatten Hunger und noch eine Strecke zu fahren. Maria war wieder DJane. Sie kam erneut mit Beethoven, aber ich wünschte mir etwas Anderes. Was denn? Ich weiß nicht, sagte ich… Etwas wie… Champagner?, sagte ich, während ich meine Arme durchstreckte und das Lenkrad fest umfasste. Oh, Champagner!, sagte sie und begann vor sich hin zu murmeln. Sie schien eine immense Plattensammlung auf ihrem iPad zu haben. Und vielleicht auch was mit Stimmen, fügte ich hinzu, und wechselte den Gang. Stimmen hab ich, war sie sicher und fingerte über das Glasdisplay. Sie spielte Lieder von Schubert und Gustav Mahler an. Ich erlaubte mir, das als Rotwein zu bezeichnen, nicht als Champagner. Sie versuchte etwas Anderes. Frank Sinatra, I did it my way. Alter Rosé, sagte ich, aber er schon unterwegs zu Weiß. Irgendein Hip-Hop Stück bezeichnete ich als Bier. Sie fand das unfair. Ein paar weitere Versuche kamen nur knapp in die Nähe von Sekt. Tom Waits!, sagte ich schließlich. Tom Waits?? Das ist doch nicht Champagner! Ich weiß sagte ich, das ist Whiskey mit Zigarre, aber es gibt da diese geile Liveplatte, Nighthawks at the Diner, die passt massiv zu Autofahren. Sie spielte stattdessen Walzing Matilda. Irgendwie lag Maria, was Musik anging, ständig eine halbe emotionale Tonlage tiefer als ich. Wir sangen aus Leibeskräften mit Tom, während wir auf glatten Straßen in den Nachmittag fuhren.
Seite 109 ff.
Eine weitere Welle rollte heran. Sie brach sich entlang mehrerer Felsen weiter vorn, aber diesmal wurden wir von ihren letzten Ausläufern erreicht. Einige dicke Spritzer schafften es bis hinauf auf unsere Plattform und prasselten gegen unsere Körper. Wir jauchzten auf und hielten uns bei der Hand. Fuck, das ist kalt!, sagte Maria lachend. Wir schauten uns an und an unseren Klamotten herab. Links waren wir trocken, rechts gebadet. Sie schüttelte ihr Haar, sah mich mit frischem Gesicht kurz an und dann schauten wir beide wieder hinaus. Wir sahen eine nächste Welle aus dem Meer kommen. Sie schindete Eindruck bei mir. Ich blickte kurz auf den Weg zurück hinter zum Strand, er war nass und erschien mir augenblicklich in der Kürze der Zeit zum Weglaufen nicht geheuer. Ich blickte auf die herankommende Welle. Sie baute sich immer weiter auf. Wir hatten guten Halt und standen mit dem Rücken an den Fels gelehnt. Ich sah auf Marias orangene Turnschuhe, sie stand solide. Ich umfasste sie fest mit beiden Armen, drückte sie an meine Brust und spürte ihr feuchtes Haar an meinen Lippen, roch seinen Duft, fühlte sie bei mir und sagte: Achtung! Jetzt werden wir nass!
Wir wurden nass. Über den Lavafelsen ging das Wasser laut und krachend nieder und zerbarst vielfach in alle Richtungen. Gischt erreichte uns und drosch heftig auf uns ein und dann, zwei, drei Sekunden später, erfasste uns ohne Vorankündigung eine geschlossene Wassermasse wie aus dem nichts und riss uns von der Plattform weg um uns blitzschnell hinabzuziehen – die nächsten Sekunden und Minuten sind kaum beschreibbar. Alle Perspektive wurde getilgt. Ich war sofort von Maria getrennt, mein Körper fiel abwärts und schlug hart mit dem Rücken irgendwo auf, um sofort tiefer hinuntergezogen und sehr schnell meterweit unter Wasser hinweg in eine unbekannte Richtung gesogen zu werden. Ich wurde überallhin herumgedreht und geschleudert, stieß gegen Stein und es toste lärmend in meinen Ohren. Ich bewegte ziellos die Arme ohne zu verstehen, wo oben und wo unten war, hatte dann plötzlich den Kopf kurz an der Luft, sog sie ein so schnell ich konnte, ehe ich erneut hinabgezogen und wahllos strudelnd gewunden und geschoben, gezerrt wurde hinein in die See. Es schien metertief hinunter und wieder hinauf zu gehen, mein Körper drehte sich um die eigene Achse, dann fühlte ich plötzlich Fels, krallte mich mit den Händen daran fest und das Wasser um mich herum glitt von mir ab.
Ich hob in Panik den Kopf und stellte mich auf den rechten Arm gestützt halb aufrecht, sah mich schnell um und verstand, dass ich auf einem der Lavafelsen mitten im Meer stand. Ich wusste, dass ich nur wenig Zeit hatte. Ich sah in Richtung der nächsten Welle, die bereits herankam, blickte auf das Toben ringsherum, schaute in Richtung Land und in die Bucht und rief Maria!!, Mariiaaa!! Um Gottes Willen!! Dann sah ich sie. Hundert oder zweihundert Meter entfernt weiter draußen im schäumenden Meer. Ich sah ihren Kopf Überwasser klein und dunkel inmitten eines großen Wahnsinns. Ich verstand nicht, warum sie plötzlich so weit weg war und rief sie: Maariiaaa! Und jetzt weiß ich nicht, ob ich sie wirklich habe rufen hören oder ob ich mir das einbilde. Wenn sie rief, war es kein Wort, sondern ein tiefer röhrender Ton. Aber vielleicht ist er nur in meiner Vorstellung. Ich glaube, sie war zu weit weg, als dass ich sie hätte hören können. Ich sah, wie sich die nächste Welle an sie heranwälzte und dachte, sie hat keine Chance. Sie hat keine Chance! Und ich schrie in Panik. Ich wandte den Kopf nach rechts und sah, was als nächstes kommen würde, und das jetzt kam. Sie war vielleicht zwei Meter fünfzig hoch, was nach wenig klingt aber viel ist, wenn man ein Meter dreiundsiebzig groß ist, und man irrt sich leicht darüber, welche Wucht und Masse Wasser hat. Es trifft einen wie eine tobende Wand. Ich wusste, dass ich von dem Felsen im Meer, auf dem ich stand, hinweggeworfen werden würde. Ich kniete nieder, senkte den Kopf und hielt mich mit den Fingerspitzen am Fels fest. Das kannst du nicht überleben, dachte ich,  schloss die Augen und atmete tief ein.
Es ging rasend schnell. Ich wurde mit einem gewaltigen Schlag sofort weit unter Wasser gerissen. In den Massen war mein Körper nichts. Ich presste die Lippen aufeinander und hatte die Augen aufgerissen. Mein Hemd zog sich in einem Ruck über den Kopf und verschwand, gleichzeitig gingen meine Schuhe fort von den Füßen. Die Beine voran sog es mich weg. Ich wurde unter Fels gezogen, fühle ihn schnell und schroff meine Brust ritzen, es wurde dunkel und tiefer. Das ist eine Höhle, dachte ich, hier kommst du nicht mehr hoch! Ich strudelte herum, mir ging die Luft aus, ständig warf es mich in eine andere Richtung. Ich ruderte mit den Armen, das Wasser um mich war graugrün verwirbelt und weiter oben heller, aber ich kam nicht hinauf. Jetzt kommt tatsächlich dieser Moment, schoss es mir in den Kopf. Jetzt passiert das wirklich. Jetzt ist gleich Schluss.
Das nächste, an das ich mich erinnere ist, dass ich mit dem Oberkörper voran hart gegen einen Felsen geworfen wurde. Ich krallte mich sofort mit den Fingern fest und presste mein Gesicht gegen den Stein. Das Wasser gab meine Beine frei, ich riss den Mund auf und gierte nach Atem. Ich blickte eilig über die Schulter. Die nächste Welle war noch entfernt. Ich hatte die Kraft, schnell an den scharfen Kanten aufwärts zu klettern. Ich wusste nicht, wohin, aber oben war richtig. Ich erreichte die Spitze des Felsens, sah um mich, orientierte mich und verstand nicht, wo ich war. Ich schrie: Um Gottes Willen! Um Gottes Willen! Meine Augen suchten hektisch die Bucht ab, ich rief: Maria!!, und ich sah nichts außer Wasser und Schaum. Dann blickte ich über die Felsspitze – dahinter lag in Ruhe der steinige Strand. Das kann doch gar nicht sein, sagte ich laut. Das ist doch gar nicht möglich! Es war unwirklich. Ich brach in Tränen aus. Warum war ich da? Ich starrte hinab auf den Strand, dann suchte ich erneut mit Blicken nach Maria, rief sie und wandte mich ab. Ich wollte auf die andere Seite des Felsens, an Land.
Als ich auf festem Sand stand, bückte ich mich, um zu atmen. Mir lief Blut in die Augen. Ich sah die nackte aufgescheuerte Brust, meine Jeans war dunkelrot gefärbt und an den Knien zerrissen. Ich stand auf nassen schwarzen Socken. Von meinen Fingerspitzen hingen Hautfetzen, ich zitterte am ganzen Körper. Ich richtete mich auf, atmete mehrmals tief ein, wobei der Brustkorb stach und brannte. Ich machte einen Schritt nach vorn. Die Oberschenkel schmerzten, als seien sie gebrochen. Ich presste eine Handfläche gegen die Rippen der linken Seite, die andere Hand gegen mein Bein. Die Ohren dröhnten. Ich biss die Zähne aufeinander, machte fünf Schritte vorwärts und drehte mich halb gebückt zum Meer um. Ich rief einige Male lange und laut nach Maria. Meine Augen blieben leer. Ich hörte die Brandung. Du hast keine Chance, sagte ich leise und weinte, keine Chance.
Seite 175 ff.
Hier. Das ist alles. Diese vier Worte sagte Ulli Phillip, alias der kleine Prinz, zu Hardy Krüger, alias der Pilot, alias Antoine de Saint-Exupéry, in der Tonaufnahme von 1977 in jenem Moment, da er, Phillip, sich von ihm, Krüger, verabschieden würde. Es ist das Ende der Aufnahme, die wir an unserem letzten Abend hörten. Obwohl – diese vier Worte hörten wir nicht mehr. Wir waren bereits eingeschlafen.
* * *
Zieh es nicht in die Länge, sagte der Fuchs zum kleinen Prinzen, das ist ärgerlich. Du hast dich entschlossen zu gehen, also gehe. Der Fuchs und der kleine Prinz hatten sich einander angenähert und waren sich vertraut geworden. Und der kleine Prinz zögerte, den Fuchs zu verlassen. Sie waren einander nun wertvoll. Ich weiß wohl, dass ich diesen Text in die Länge ziehe, sagte ich zum kleinen Fuchs, der mich mit vagen Augen ansah. Aber es gelingt mir nicht, Adieu zu sagen, ergänzte ich und sah in seinen jetzt leeren Blick. Wie soll ich abschließen?, fragte ich ihn. Wie soll ich mit Maria fertig werden? So wie Bach es tat, als er seine Kantate Ich hatte viel Bekümmernis ganz am Ende verhunzte? Bumm, tattaa, und aus!? Ich kann das nicht, sagte ich zu meinem Fuchs. Sie ist ja noch nicht einmal unter der Erde. Er blickte weg. Was sollte er sagen.
Außerdem geht meine eigene Geschichte ja noch weiter. Und deine auch noch. Deine Grablegung wird erst in einigen Tagen sein und einstweilen liegst du im Kühlhaus. Und so lange ist deine Anwesenheit auf Erden nicht vorbei. Friedrich schrieb mir heute, dass dein Leichnam endlich morgen nach Berlin komme und die Beisetzung am Samstag den 19. Januar stattfinde. Verdammt spät. Wie sieht dein Körper nach drei Wochen in der Leichenhalle aus? Hast du noch ein Gesicht, das wir sehen werden? Ist es vom Wasser aufgeschwemmt? Hatten dir die Wellen und Felsen die Knochen gebrochen, den Schädel zerschlagen oder das Rückgrat, ehe du starbst? Ich weiß, du konntest dich noch einige Minuten über Wasser halten, aber das sagt nicht viel. Es hatte eine Autopsie gegeben, ehe man dich für den Transport nach Deutschland freigab und deren Ergebnis ich nicht kenne. Sicher war es eine Routine der Behörden, festzustellen, dass du wirklich Wasser in der Lunge hattest und ich dich nicht etwa beidhändig erwürgt und ins Meer geworfen hatte. Man kann nie wissen. Ich hoffe, sie haben dich ordentlich wieder zugenäht[1]. Aber ehrlich gesagt interessiert das niemanden mehr. Ab kommenden Samstag, nachdem wir alle Sand auf dich geworfen haben werden, wird es endgültig vorbei sein mit deinem Leib. Zum Glück träume ich nichts. Ich trinke genug, um einige Stunden traumlos schwarz durch die Nacht zu schlafen. Wer darf träumen?, hattest du mich gefragt. Und wer hat das Glück, es nicht zu tun, sage ich dir. Du stehst jetzt auf meiner Liste von Verlusten, Maria. Von denen, die schwierig sind.
[1] Haben sie nicht, wie ich Monate später von Friedrich erfuhr. Er war vom Anblick der Leiche schockiert gewesen.
Seite 253 ff.
Florentiner Spiegel
Ich schaue in die weichen Züge eines versteinerten Gesichts. Sie neigt den Kopf und sieht mich ohne Augen an. Von der rechten Schulter fällt ein Überwurf die Taille hinab und bringt mit einem Schwung um ihre Hüfte ihre Scham in meinen Blick. Sie steht direkt neben mir. Barbusig und ohne Arme. Vor mir reckt eine Sphinx ihren Hals in die Höhe und sieht in die Weite. Auch ihre Brüste sind nackt. Spitz und straff schauen sie zu mir. Ihre kleinen Terrakottaflügel ragen aufwärts von den Schulterblättern und enden bald nach einer Abwärtskurve oberhalb des Pos, der auf Löwenpfoten sitzt. Von einem flachen Sockel auf dem Boden reichen Schienbeine hinauf zu Knien und wenden sich zur Rundung zweier Schenkel, die hinabgleiten zum Unterleib einer Frau, die über dem Becken abgebrochen ist. Ich sehe auf Granit. Ich drehe mich um. Auf der anderen Seite meines Bettes sitzt ein hoher Pudel neben mir. Er wacht mit stolzem Kopf. Sein Fell ist manieristisch grau gekräuselt und steif wie Beton. Neben der Tür liegt ein Fuß aus Travertin, auf einem schmalen Podest in Reichweite der Gipsabguss eines weiblichen Dekolletés. Ich habe einen Stuhl vor die Tür gestellt, damit sie nicht aufgeht. Sie hat weder Schloss noch Klinke. Ich bin nackt unter der Bettdecke und liege selbst auf einem Sockel. Zwei Meter lang, 80 Zentimeter breit, 60 Zentimeter hoch, mit einer Matratze darauf. Als hätte ich die Nacht im Museum verbracht. Oder als sei ich nun selber ein Relikt aus der Vergangenheit. Aber noch Fleisch statt Stein. Abgelegt in einer Dachkammer unter Skulpturen. Das Fenster über mir sieht den Himmel durch ein altes Gestühl aus weiß gestrichenen Balken. Ich habe unruhig geschlafen.
Ich lese seit einigen Tagen die Erzählung von Philippe Lançon. Der Fetzen. Er ist Journalist bei Libération und gehört zu den Autoren der Pariser Satirezeitung Charlie Hebdo. Er war am 7. Januar 2015 mit im Raum, als während der Redaktionssitzung zehn seiner Kollegen und Kolleginnen von zwei Männern mit Kalaschnikows erschossen wurden. Elf weitere Personen wurden verletzt, teils schwer. Er war einer davon. Es dauerte nur zwei Minuten. Während des Attentats zerfetzen ihm Kugeln den rechten und den linken Arm, eine weitere riss einen Teil des Gesichts weg. Kinn und Kiefer. Das lässt sich nicht vergleichen. Und doch verbindet mich etwas mit ihm und dem Buch. Er überlebt, die Gefährten nicht. Er sieht sie um sich, immer wieder, tot oder sterbend oder gerade so überlebend im Kugelhagel von Leuten, die er nicht kennt und die Allah Akbar rufen, so als sei das eine Erklärung. Er findet allmählich zurück ins Leben, aber als ein anderer. Er begreift schnell, dass ein Philippe Lançon starb, während ein unbekannter Philippe Lançon überlebt und erst langsam zu sich kommt. Acht Monate lang lebt er in Kliniken mit entsetzlichen Schmerzen nach siebzehn Gesichtsoperationen und Transplantationen. Das entzieht sich meiner Vorstellungskraft. Ich kann mir nicht ausmalen, wie es ist, wenn einem der Kiefer weggeschossen wird und nach dem ersten Schock allmählich das Körperbewusstsein zurückkehrt und mit ihm die Schreie der Nerven beginnen, die auch das Morphium nicht betäubt. Was ich mir aber vorstellen kann ist, warum er sich der Chirurgin beinahe intim verbunden fühlt, die ihm, einer Bildhauerin gleich, wieder ein Gesicht geben wird. Und auch, warum er nach wenigen Tagen wieder zu schreiben beginnt. Kafka liest und Thomas Mann, Bach hört, die Goldbergvariationen von Glenn Gould. Er schreibt Artikel und Kolumnen, die letzte Brücke zu seinem alten Leben. Mit seinem Buch beginnt er erst zwei Jahre später, schreibt aus der Distanz des Rückblicks. Die Erzählung endet am 13. November 2015, dem Tag des Anschlags auf das Bataclan. Der Kreis des Terrors schließt sich um ihn. Als das Buch erscheint, wird es emphatisch rezensiert. Auch, weil er die Attentäter nicht verurteilt oder stigmatisiert. Was ihn fast umbrachte, ist die Welt, über die er seit Jahren geschrieben hatte.
Ich bin nach Florenz gefahren, um meinen eigenen Text abzuschießen und nachzuschauen, wer ich geworden bin. Es ist an der Zeit. Lançons Abstand habe ich noch nicht, und ob sich irgendwo ein Kreis schließen wird, weiß ich nicht. Ich weiß, dass mich die Krankenkasse unter den Kennziffern F48, F21 und F55 abrechnet: Posttraumatische Belastungsstörung, Anpassungsstörung und mittelschwere Depression. Sie müssen jetzt mal raus aus ihrem Gegrübel, hat meine Therapeutin gesagt, und die Überhöhung ihrer Maria nervt auch ein bisschen. Fahren Sie mal richtig weg. Am besten irgendetwas mit Natur, damit ihr Realitätssinn wiederkehrt, meinte sie. Bloß nichts mit Kunst und Kultur. Und nehmen Sie sich Zeit.
Also schickte ich einem Freund, der beim Goethe-Institut arbeitet, eine Nachricht. Ob er eine Idee hätte, wo ich für einige Wochen hinkönne. Vielleicht ein Stipendium irgendwo. Ich hatte noch nie ein Stipendium. Immerhin schreibe ich an einem Buch, das könnte man doch unterstützen. Mein Freund leitete die Nachricht an eine Bekannte weiter, die ein deutsches Kulturinstitut am Stadtrand von Florenz führt, und sie bot mir per Email ein leerstehendes Zimmer an. Da bin ich jetzt. Umgeben von steinernen Hunden und tönernen Frauen in einer wundersamen kleinen Kammer unterm Dach. Das ist zwar nicht, was meiner Therapeutin vorschwebte, denn hier gibt es statt Natur ausschließlich Kunst und Kultur. Vor allem aber finde ich noch keinen Platz zum Schreiben. In der Villa, in der ich wohne, gibt es keinen Schreibtisch, drinnen kann ich nicht rauchen, draußen ist es klamm. In der Altstadt war ich noch nicht. Ich hänge herum in Vorstadtcafés. Lese und Schreibe auf dem Handy. Vielleicht reise ich wieder ab.
1. Juni
Der morgendliche Café in der Villa schmeckt nicht. Also bin ich die Treppen hinuntergegangen und der Steinmauer gefolgt, die vom Anwesen aus zu der steilen Straße führt, über die man hinunter zur Piazzale di Porta Romana gelangt, wobei man einen guten Blick über die Florentiner Ebene hat, aus der sich die große Kuppel des Domes langsam erhebt wie ein behäbiger Ballon. Hat man die Piazzale erreicht, bleibt zum Laufen nur ein Streifen Bürgersteig, der rings um den großen Kreisverkehr führt, von dem aus neun Straßen Autos, Busse und Mopeds hinein ins Zentrum und hinaus aufs Land verteilen. Ich habe mich vor einem Café auf einen der Stühle gesetzt und einen Espresso bestellt und ihn getrunken. Es hat genieselt. So wie seit Tagen. Auch in Florenz ist der Frühsommer ins Wasser gefallen, aber es ist warm genug, um tagsüber draußen in kurzen Hosen und Jackett unterwegs zu sein. Als ich zahle und aufstehen will, um einen Spaziergang entlang der äußeren Stadtmauer zu beginnen, bemerke ich auf dem Rasenrund in der Mitte des Kreisverkehrs einen Fuchs. Ich halte inne. Ich bin überrascht. Ich sehe zu ihm. Sein Fell ist dunkel und feucht, er schnüffelt über das Gras, dann blickt er mit gesenktem Kopf in meine Richtung. Ich stehe auf und mache einen Schritt auf ihn zu. Hey! rufe ich über die vorbeifahrenden Autos zu ihm herüber. Und du? Was ist mit dir? Du mit deinem weichen Schwanz? Sag du doch mal was dazu! Er wendet sich ab. Hey!, rufe ich. Er huscht weg und über die Straße hinüber zum Stadttor und ich sehe noch, wie er sich an den alten Ziegelsteinen entlangdrückt und an den Fahrzeugen vorbei durch eine Gasse in Richtung Altstadt verschwindet. Ich rufe: Verdammt, ihr könnt doch nicht dauernd alle weggehen! Hey! Etwas bäumt sich in mir auf. Ich bahne mir durch den Verkehr einen Weg zum Stadttor und laufe die Gasse hinunter, in die der Fuchs gelaufen ist. Da hinten ist er. Hey! rufe ich, Bleib hier!, und laufe so gut ich kann, und denke kurz, ob ich nicht auf Italienisch rufen soll, was mir dann absurd vorkommt. Er läuft immer schneller hinunter in Richtung Altstadt. Verdammter Scheiß, jetzt komm her!, rufe ich im Rennen. Ich werde zornig, bekomme ein Seitenstechen, gehe in Trab über und verliere ihn schließlich aus den Augen. Ich bleibe stehen und beuge mich vor und atme durch, die Hände auf den Knien. Der Tinnitus pfeifft auf beiden Seiten des Gehirns. Vieni qui! Jetzt fällt es mir ein. Vieni qui. Komm her.
Dann hupt es hinter mir. Ein kleiner Elektrobus, der kaum durch die Gasse passt, rollt mit surrendem Motor heran, die Reifen ploppen auf dem Kopfsteinpflaster. Ich hebe eine Hand zum Zeichen, dass ich mitfahren will und steige ein. Der Bus ist voll wie ein Ei. Permesso!, zischt es neben mir, man drängelt, und der anfahrende Bus gibt die Stöße des Pflasters weiter an die Becken und Bäuche der umstehenden Fahrgäste. Draußen sehe ich im Vorbeifahren einen Dönerladen und daneben eine gemauerte Wandnische mit einer bunt bemalten Frauenfigur darin. Magdalena, denke ich, oder Maria oder Katharina oder Susanne. Irgendeine dieser verdrehten Figuren aus dem Wimmelbild feixender Bibelpuppen, die irgendwelche Leute installiert haben, um alles schön zu ihren Gunsten auszulegen, das eigene Maß und Recht auf Gold zu malen, in Wolken zu betten, in Nischen zu zimmern und einzurahmen in Smaragde aus Galle und Rubine aus Kot. Ich muss schmunzeln, wie gerne ich über die Kirche lästerte. Ich schaue den Gang entlang nach vorne durch die zitternde Windschutzscheibe. Von Füchsen ist nichts zu sehen. Am Ende der abschüssigen Gasse, die der Bus herunterbrettert, taucht der Arno auf und die Stadtsilhouette kommt näher.
Bevor wir die Brücke über den Arno passierten, rufe ich Descendere!, und als die Brücke schon hinter uns liegt nochmals: Descendere!!, und der Bus hält abrupt an der Piazza di Santo Stefano. Er kippt mich mit einer Körpertraube aus, durch die Wolken fällt Sonnenschein vor mich hin auf den vom Regen frisch gewachsten Bürgersteig. Es schillert. Um mich herum hunderte Beine und rollende Koffer. Über mir ockerfarbene Sandsteinfassaden. Darüber glänzendes Licht. Welch fabulöser Glanz! Eine tolle Masse beginnt, mich über das Kopfsteinpflaster durch die Straßen zu schieben, hinein in diesen alten Kanon, den ich nun betrete, und den emporgehaltene Regenschirme in allen Sprachen verkünden. Sie deklarieren den Menschen und seine Ideale, und zeigen zwischen Putten und Voluten, unter Kuppeln und Gewölben, auf Altären und auf Tafelbildern unter Heiligen und Seligen ein ums andere Mal die falsche Maria Magdalena!