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General Strike. Grundlagen zu Theorie und Geschichte des Kunstausstiegs

Zuerst veröffentlicht in:
Alexander Koch: General Strike, KOW Issue 8, Berlin, May 2011

Das Interesse an Künstlerinnen und Künstlern, die sich von der Kunst abwandten und ihre Praxis aufgaben, ist relativ neu. Als ich 2002 eine Ausstellung zu Gesten des Verschwindens konzipierte (1), die u.a. Lee Lozano und Arthur Cravan zeigte, stießen die meisten meiner theoretischen und historischen Recherchen ins Leere. Zwar fanden sich biografische Einzeltexte zu Künstlern, systematischere Darstellungen zu künstlerischen Rückzugsbewegungen aber nicht. Sie waren, wie es schien, ein ungeschriebenes Kapitel der Kunstgeschichte. So wurde es notwendig, den Topos des Ausstiegs aus der Kunst theoretisch und historiografisch erst einmal zu begründen. Im Folgenden führe ich die Argumente verschiedener, zwischen 2005 und 2008 von mir verfasster und veröffentlichter Texte (2) zusammen, um eine Begriffsbestimmung vorzunehmen und Konsequenzen daraus abzuleiten. Diese Bestimmung hat den Anspruch, eine Grundlage auch für künftige Forschungen zu liefern.

Die Neurezeption der Werke einst aus dem Kunstfeld ausgetretener Künstlerinnen und Künstler – Lee Lozano und Charlotte Posenenske erscheinen hier als paradigmatisch – hat dem Thema in den vergangenen Jahren einige Popularität beschert. Der Hang der zeitgenössischen Kunstszene, einerseits zuvor marginalisierte oder vergessene Künstlerpositionen zumal der Sechziger- und Siebzigerjahre aufzuwerten, und andererseits deren (unterstellte) Radikalität als Ersatz für eine Dringlichkeit heranzuziehen, die dieser Szene heute vielleicht oft fehlt, droht neue Mythen künstlerischer Dissidenz zu erzeugen. Sie gilt es zu dekonstruieren, noch ehe sie sich festsetzen. Genaues Hinsehen und Differenzieren scheint gerade da wünschenswert, wo immer öfter vom „Ausstieg aus der Kunst“ als eines vermeintlichen Widerstandes gegen Markt und Institutionen gesprochen wird, der keinesfalls immer gegeben ist, sofern von einem Ausstieg im engeren Sinne überhaupt die Rede sein kann. Zugleich gilt es zu verstehen, worin ein solcher Ausstieg streng genommen besteht und sein – aus Sicht des Kunstfeldes – möglicherweise (system-)kritisches Potenzial zu bestimmen.

Einen weiteren Anlass für eine solche Bestimmung bieten jüngere, teils akademisch, teils politisch motivierte Diskussionen über (künstlerische) Formen des Nichtstuns. Für ein Verständnis des Kunstausstiegs sind sie fruchtbar, sofern sie den performativen und die soziale Wirklichkeit mitgestaltenden Charakter nicht nur des Handelns, sondern auch des Nichthandelns erhellen und zeigen können, inwieweit auch dieses eine – ggf. kritische – Praxis ist.

Begriffsbestimmung

Als Ausstieg aus der Kunst bezeichne ich allgemein die soziale Translokation und im Besonderen die soziale Praxis eines
Akteurs, den wir zu einem Zeitpunkt X im Kunstfeld lokalisieren können, zu einem späteren Zeitpunkt Y jedoch nicht mehr, und der dies selbst so wollte.

Diese Definition birgt eine Reihe von Implikationen:

Ich folge Pierre Bourdieus Theorie sozialer Felder, indem ich von einem Akteur des Kunstfeldes spreche anstatt von Künstlerinnen und Künstlern. Andernfalls wäre zu bestimmen, wer legitimerweise als Künstler zu gelten habe und wer nicht. Da dies aber ein im Kunstfeld selbst vorgenommener Anerkennungsprozess ist – im Gegensatz zu einem privat reklamierten, sozial jedoch vielleicht aberkannten Künstlerstatus – gehe ich davon aus, dass wer „aus der Kunst aussteigt“, zuvor auch ein Mitspieler des Kunstbetriebs zu sein hat. Es wäre sinnlos, sonst von einem Ausstieg zu sprechen. Eine künstlerische Position kann nur aufgeben, wer auch eine hat. Wer aufgrund mangelnder sozialer, institutioneller oder finanzieller Anerkennung einen Strich unter seine Künstlerschaft zieht, die er oder sie aber eigentlich anstrebt, tut dies nicht wirklich aus freien Stücken. Das aber setzt der Begriff des Ausstiegs voraus. Er impliziert, dass eine Person intentional handelt – ohne hier die Spitzfindigkeiten des Intentionalitätsbegriffs zu berücksichtigen. Damit ist zugleich eine Abgrenzung gegen Zensur und Unterdrückung künstlerischer Praxen vorgenommen. Denn auch in diesem Fall würde man nicht von einem Ausstieg, sondern, lapidar gesagt, von einem Rauswurf sprechen. Es ließe sich einwenden, dass gerade verkannte, von Beginn an marginalisierte Positionen so gar nicht erst in den Blick geraten. Dieser Einwand liefe aber entweder auf eine Frage nach den gesellschaftlichen Anerkennungskriterien von Künstlerschaft hinaus, oder auf eine jenseits offiziell sanktionierter Kunst- und Künstlerbegriffe liegende Kunstpraxis, deren Ein- und Ausschlusskriterien sich an dieser Stelle nicht allgemein bestimmen ließen. Die Entscheidung für ein soziologisches Beschreibungssystem sozialer Praxen, das eine Beobachterposition voraussetzt, vermeidet ganz bewusst, einen ideologischen oder idealistischen Kunstbegriff zugrunde zu legen, auf den sich ein Ausstiegsbegriff dann speziell zu beziehen hätte.

Eine weitere und wichtige Implikation obiger Definition ist, dass die allgemeine Bezeichnung eines „Akteurs des Kunstfeldes“ nicht allein Künstlerinnen und Künstler einschließt, sondern ebenso Kuratorinnen und Kuratoren, Kritikerinnen und Kritiker, Galeristinnen und Galeristen, Sammlerinnen und Sammler, ja Hochschulprofessorinnen und -professoren – allgemein alle, die dem Kunstfeld zugehören und es entsprechend auch verlassen können. Dabei lege ich die Auffassung zugrunde, dass Praxen innerhalb des Kunstfeldes gegeneinander relativ – und zunehmend – durchlässig sind. Es wäre pathetisch und erneut ideologisch verengt, würde man den Wechsel von einer künstlerischen in eine kuratorische Praxis als Ausstieg aus der Kunst bezeichnen, während es sich tatsächlich um einen Praxis- und Rollenwechsel innerhalb des Kunstfeldes handelt, der übrigens leicht reversibel ist, zumal eine wachsende Zahl von Künstlern zugleich oder gelegentlich auch eine Rolle als Kurator einnehmen. Dass ein Wechsel aus der kuratorischen in die künstlerische Praxis (noch) kaum möglich scheint, vielleicht gar ein Tabu ist, steht auf einem anderen Blatt. Dass indes Künstlerinnen auch als Kritikerinnen, Galeristinnen und Hochschulprofessorinnen arbeiten, diese Arbeit gelegentlich verschieden gewichten und sich ggf. voll auf die Lehre oder aufs Schreiben konzentrieren, ist schon deshalb nicht ungewöhnlich, wenn man bedenkt, dass Künstler lange auch die Rolle von Kunsthistorikern einnahmen, ehe die Kunstgeschichte als eigenständige akademische Disziplin begründet wurde. Und wenn wiederum viele Galeristen einst Künstler waren, dann weist sie das als bleibende Kunstliebhaber aus, nicht aber als kunstflüchtig oder gar artophob. Wenn im Folgenden dennoch primär Künstlerinnen und Künstler als Kunstaussteiger beschrieben werden, dann als gezielte Engführung, um den Begriff zu schärfen.

Meine Definition enthält eine weitere, für den Historiker ernüchternde Implikation: dass sich von Kunstaussteigern nichts im Kunstfeld auffinden lässt außer Zeugnissen ihrer Praxis, die vor dem Ausstieg lag, sowie manche Fakten und Gerüchte über ihren Verbleib. Das macht die Bedingungen für ihre Beobachtung ungünstig. Man kommt immer zu spät, um sie noch anzutreffen. Bezeichnenderweise neigen sie auch dazu, im Nachhinein keine Interviews zu geben, was sie in gewissem Sinne wieder zu Mitspielern des Feldes machen würde. In vielen Fällen gibt es Hinweise bereits im Werk oder in Aufzeichnungen, die auf die Beweggründe eines Ausstiegs hinweisen. Um ihn selbst und insbesondere sein Ziel genau beschreiben zu können, müsste man quasi daneben stehen. Gelegentlich tun das Künstlerkollegen, Kuratoren und Galeristen, und ihre Berichte sind meist die einzig aufschlussreichen, wenn auch oft persönlich eingefärbten Quellen. Ein Ausstieg lässt sich also gar nicht anders dokumentieren als im dialektischen Bezug auf eine vergangene Praxis, die es heute nicht mehr gibt und die nicht den eigentlichen Kern der Sache ausmacht. Aus den gleichen Gründen lässt sich ein Ausstieg selbst auch nicht ausstellen.

Zwei Sonderfälle gilt es zu klären: den des freiwilligen Kunstausstiegs in repressiven Systemen und den des Suizids.

Mit Blick auf die besondere kulturpolitische Situation in den einst sozialistischen Staaten Osteuropas wird die Ausstiegsfrage komplizierter3. Nicht nur gab es hier zwei Kunstfelder – ein offizielles, staatlich reglementiertes, und ein inoffizielles, reichlich informelles Feld – die beide subtil miteinander verknüpft waren und bei denen die Motivationen und Konsequenzen eines Ausstiegs jeweils einzeln zu bedenken wären. Hinzu kommt die Frage, wie viele sich unter den gegebenen Bedingungen vielleicht gar nicht erst Zutritt zu dem einen oder dem anderen Kunstfeld verschafften und einer künstlerischen Praxis von vornherein entrieten. Für eine Geschichtsschreibung künstlerischer Ausstiegsbewegungen in repressiven Regimen kommt erschwerend hinzu, dass sie die Unsichtbarkeit bereits vom System unterdrückter Praxen durch ihre eigene, zwangsläufige Schwierigkeit, solche Praxen zu dokumentieren, noch einmal verdoppelte.

Immer öfter werden Suizid und Kunstausstieg in einen Topf geworfen. In Einzelfällen, wie Ray Johnson, bei dem AIDS oder Krebs eine Rolle gespielt haben mögen, oder Bas Jan Ader, der als erfahrener Segler um die geringen Chancen seiner Atlantiküberquerung allein in einem 3,8 Meter langen Boot wusste, mögen letzte, verzweifelt oder depressiv erscheinende Werke auch wie ein Abgesang auf die Kunst klingen. Ich halte sie aber für einen Abgesang auf das
Leben.

Drei Arten künstlerischen Nichthandelns

Um weitere Klarheit in das Phänomen des Abbruchs künstlerischer Praxen zu bringen, ist es hilfreich, ein wenig die Terminologie zu verändern. Im Rahmen von Performanz- und Theatralitätstheorien ließ sich in vergangenen Jahren lernen, dass nicht das Handeln des Menschen allein, sondern auch sein Nichthandeln eine Praxis ist oder sein kann. Denkt man daran, wie viel Gesten des Schweigens in der Kunst, und nicht nur dort, beizeiten bedeuten und bewirken können, leuchtet das ein.

Ich unterscheide im Folgenden drei Formen künstlerischen Nichthandelns, um schließlich die Dritte mit dem Ausstieg aus der Kunst gleichzusetzen und die ersten beiden nicht.(4)

Ostentatives Nichthandeln

Man kann fragen, was für die Entwicklung der Kunst in den vergangenen einhundert Jahren eigentlich wichtiger war: Hinzufügen oder Weglassen? Das Erfinden neuer und vielversprechender Tätigkeiten oder eher das Abstellen alter Gewohnheiten, die einer Anpassung des Kunstbegriffs an neue Zeiten im Wege standen? Zwar scheint in der künstlerischen Praxis das schöpferische Handeln vor allem anderen privilegiert, dennoch sind Formen des Nichttuns, sind das Unterlassen und Ausbleiben von Handlungen in der Kunst zumal der klassischen Avantgarden und der Post-Avantgarden kultiviert worden wie sonst nirgendwo. Für die Durchsetzung des Autonomiegedankens in der Kunst war die Streichung von Praxiselementen sogar zentral. Denn wann immer das Publikum anstelle von etwas nichts oder wenig zu sehen bekam, weil die Künstlerschaft den an sie herangetragenen Produktivitätserwartungen zuwider gehandelt und den künstlerischen Schöpfungsakt zurückgestutzt oder ganz ausgesetzt hatte, wurde künstlerische Handlungsfreiheit mindestens ebenso emblematisch reklamiert wie durch die Präsentation neuester erfinderischer Höchstleistungen. Weglassen, Ausradieren und Löschen wurden typisch für formalästhetische Innovationen in der Werkproduktion und gehören seit Langem zum festen Inventar künstlerischer Vorgehensweisen.

Schweigen und Verweigern haben in künstlerischen Erneuerungsrhetoriken eine Stimme. Wie dem Hässlichen, dem Schock und dem Skandal, kann auch dem künstlerischen Nichthandeln die Eigenschaft innovativer Kommunikationsunterbrechung zukommen. Zumal in kulturellen Transformationszeiten häufen sich solche Unterbrechungen. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts etwa reflektiert sich das Auslaufen der künstlerischen Moderne bekanntermaßen in einer historisch einmaligen Anhäufung von leeren Leinwänden, Formen des Schweigens und des Verweigerns alter Praxismuster.

Allerdings sind künstlerische Gesten des Schweigens und Akte der Verweigerung in der Regel nur dann beachtet und diskutiert worden, wenn sie sich öffentlich zeigten und etwas an sich hatten, für das sich letztlich ein Platz in musealen Archiven einrichten ließ – es sich also um ostentative, zur Schau getragene Unterbrechungen von Normen und Standards der Produktion, Präsentation oder Distribution von Kunst handelte, die ihrerseits Werk- oder Aufführungscharakter hatten oder sich in Dokumenten von Rang manifestierten. Klassische Beispiele hierfür sind John Cages Aufführung 4’33 in Woodstock, New York 1952, Yves Kleins Pariser Ausstellung Le Vide in der Galerie Iris Clert 1958, Daniel Burens Versiegelung der Mailänder Galerie Apollinaire mit weiß-grünen Stoffstreifen 1968, Robert Barrys During the exhibition the gallery will be closed, Amsterdam/ Turin/ Los Angeles 1968, Chris Burdens Disappearing-Performance von 1971 und sein B.C. Mexico Project von 1973. Viele weitere Beispiele ließen sich anführen.

Sie zeigen, dass wir das Unterlassen und Ausbleiben von Handlungen vor dem Hintergrund eines Erwartungshorizontes zur Kenntnis nehmen. Ohne die gewohnheitsmäßige oder normative Erwartung von Handlungsereignissen ist es sinnlos, von deren Ausbleiben zu sprechen. Wenn künstlerisches Nichthandeln gegenüber künstlerischem Handeln einen Unterschied macht, dann nur insofern es den faktischen Erwartungshorizont unterläuft, der einem Werk oder einer Situation implizit (etwa aufgrund eines institutionellen Rahmens) oder expressis verbis (etwa aufgrund einer Ankündigung oder einer Forderung) unterstellt wird. Was in Bezug auf künstlerische Praxen als Unterlassung erscheinen und ins Gewicht fallen kann, und was nicht, ist also abhängig von dem, was in ihnen jeweils als erwartbar und wahrscheinlich gilt. Unter ostentativem künstlerischem Nichthandeln verstehe ich die vorsätzliche Zurückweisung technologischer, sozialer, institutioneller oder anderer Erwartungen, die künstlerischen Praxen entgegengebracht werden, wobei sich diese Zurückweisung selbst wiederum als künstlerischer Akt zeigt.

Kommunikatives Nichthandeln

Diesen meist werkhaften Formen ostentativen Nichttuns steht das Ausbleiben jeglichen künstlerischen Aktes gegenüber.
Dennoch kann dieses Ausbleiben im Kunstfeld Beachtung finden und sich als Negation künstlerischen Handelns zu erkennen geben. Solche Formen sichtbarer, ja öffentlicher Passivität – Das Schweigen Duchamps wäre hierfür ein klassisches Beispiel – verschieben die künstlerische Handlungsebene von der ästhetischen Praxis hin zur Teilhabe an der sozialen Konstruktion des Kunstfeldes und der darin zirkulierenden Kommunikation. Während im ostentativen künstlerischen Nichthandeln oftmals Werkbegriffe und ihre konkreten institutionellen Dispositive verhandelt werden, geraten im kommunikativen Nichthandeln vor allem künstlerische Rollenbilder in den Blick und werden soziale Rahmenbedingungen einer Existenz im Kunstfeld adressiert. Das Ausbleiben eines künstlerischen Aktes
geschieht dabei in kommunikativer und ggf. kritischer Absicht. Es lässt von sich wissen, zielt auf reflexive und diskursive Effekte innerhalb einer Szene.

Radikales Nichthandeln

Für die Unterscheidung von kommunikativem Nichthandeln und radikalem Nichthandeln liefert Richard Rorty einen hilfreichen Vergleich. 1998 hat er in seinem Buch Achieving our Country: Leftist Thought in Twentieth-Century America unterschieden zwischen einer reformistischen Linken, die das öffentliche Leben in den USA in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeblich mitgeprägt habe, und einer radikalen Linken, die ab Mitte der Sechzigerjahre die Oberhand gewonnen hätte. Während die reformistische Linke politisch agiert habe, um emanzipatorische Projekte durchzusetzen, etwa die Abschaffung der Rassengesetze, sei die radikale Linke aus der praktischen Politik in die politische Theorie und in die Kulturproduktion übergewechselt und hätte sich dabei – so Rortys Vorwurf – de facto entpolitisiert. Dem Klischee erlegen, dass sich vom Innern des politischen Systems aus an den sozialen Ungerechtigkeiten, die es hervorbringt, nichts ändern lasse, habe sich die radikale Linke auf der Suche nach einer idealen (theoretischen) Gerechtigkeit aus diesem System kurzerhand ganz verabschiedet. Während die reformistische Haltung für einen Kritikbegriff steht, der auf politische Teilhabe aus ist, schlägt die radikale Haltung die Möglichkeit solcher Teilhabe aus.

Dieser Unterscheidung zufolge könnte man das kommunikative Nichthandeln auch reformistisch nennen – es bleibt Teil des kritischen Diskurses im und über das Kunstfeld – und ihm ein radikales künstlerisches Nichthandeln gegenüberstellen, das nicht (mehr) an diesem Diskurs teilnimmt. Analog zu der von Rorty beschriebenen intellektuellen Haltung entspräche das radikale Nichthandeln einem Systemausstieg, also dem Unterlassen jeglichen künstlerischen Aktes ohne kommunikative Absicht und unter Verzicht auf jegliche kritische Einflussnahme oder sonstige Teilhabe an der sozialen Reproduktion des Kunstfeldes. Das bedeutet über die Werklosigkeit hinaus die Unterbrechung auch jeder anderen Form von Veröffentlichung, Aufführung oder Auftreten im Kunstfeld, kurz: den Ausstieg aus der Kunst. Im Unterschied zu negativen Akten im kommunikativen Nichthandeln ist das radikale Nichthandeln nicht auf Anschlusskommunikationen aus, sondern überlässt diese sich selbst. Anstatt Erwartungshorizonte, die der künstlerischen Praxis unterlegt sind, zu unterlaufen, entläuft es ihnen. Anstelle einer reformistischen Adressierung von Werkbegriffen und künstlerischen Rollenmodellen wird dem System Kunst insgesamt der Rücken gekehrt.

Bezeichnenderweise häufen sich historische Fallbeispiele für solch ein radikales Nichthandeln in der gleichen Zeit, in der Richard Rorty den Umschlag von der reformistischen zur radikalen Haltung innerhalb der US-amerikanischen Linken ausmacht, nämlich ab Mitte der Sechzigerjahre. Was sie kennzeichnet, ist nicht selten Utopieverlust bzw. der Verlust des Glaubens an die gesellschaftliche Relevanz des eigenen Tuns, gewissermaßen ein Verlöschen des inneren Erwartungshorizontes, der eine Praxis auf Dauer motivieren kann. Zwar beruht radikales künstlerisches Nichthandeln also auf dem Erlöschen eines reformistischen Interesses, kann aber durchaus auf einer reflexiven, kritischen Einschätzung der Handlungsoptionen basieren, welche das Kunstfeld für die entsprechenden Akteure noch bereithält. Diese Einschätzung reflektiert ggf. die Rahmenbedingungen künstlerischer Praxis, die allgemeine kulturelle und politische Lage in einer Gesellschaft oder auch im Speziellen einzelne institutionelle, ökonomische oder soziale Routinen, die für das Kunstfeld typisch sind und adressiert diese Routinen gerade dadurch, dass ein Akteur dieses Feldes sie nicht länger akzeptiert und sich an dessen sozialer Reproduktion in Folge auch nicht mehr beteiligt.

Der Kunstausstieg als Sonderfall einer traNsitorischen Kunstpraxis

Ein solch komplexes soziales Verhältnis, wie es die künstlerische Praxis darstellt, erlischt jedoch selten über Nacht. Tatsächlich handelt es sich oft um einen allmählichen Prozess, in dem sich der Entschluss zum Ausstieg langsam anbahnt. In einer Schwellensituation zwischen Teilhabe und Entzug, Sprechen und Schweigen, Tun und Nichttun kann dabei eine performative Übergangszone entstehen, eine transitorische Praxis, mit der sich ein Akteur des Kunstfeldes schrittweise aus diesem löst. Zwar kann diese Loslösung auch abrupt geschehen, aber in der Regel ist das radikale künstlerische Nichttun, der Kunstausstieg, nicht einfach Verweigerung, nicht plötzliche Stille, sondern muss diese Stille erst herstellen bzw. eine künstlerische mit einer nichtkünstlerischen Praxis überschreiben in einer Kaskade von Unterbrechungen, in der sich die unterbrochenen Praxisanteile eventuell einzeln reflektieren. Der Ausstieg aus der Kunst kann also selbst als eine Kunstpraxis erscheinen, die sowohl ostentative wie auch kommunikative Akte noch beinhalten kann, schließlich aber auch diese stoppt. Der Kunstausstieg wäre somit ein – temporärer – Sonderfall von Kunstpraxis, unter Umständen auch von kritischer Kunstpraxis. Diese Praxis kann ggf. dann in die Verlängerung gehen, wenn Akteure des Kunstfeldes – Galeristen und Kunstkritiker etwa – nicht lockerlassen und etwa eine Ex-Künstlerin ihr Nein gegenüber alten Weggefährtinnen und -gefährten immer wieder erneuern muss und dabei zwangsläufig in die Kommunikation im Kunstfeld eingreift. Würde das ein Dauerzustand, müsste man fragen, ob der Ausstieg überhaupt geglückt ist.

Und natürlich ist ein Ausstieg auch jederzeit reversibel, wofür es zahlreiche Beispiele gibt. Es spricht für das Kunstfeld, dass es bei allen Restriktionen, zu denen es fähig ist, doch auch eine hohe Bereitschaft zur Integration hat, sofern es ein Eigeninteresse mit dem (Wieder-)Erscheinen eines neuen oder alten Akteurs verknüpfen kann. Vorsicht ist aber geboten, wo als Aussteigerklassifizierte Positionen heute gerne die Bühne betreten, die ihnen gerade junge Kuratorinnen und Kuratoren aufgrund ihrer eingangs erwähnten Vorliebe für vermeintliche Widerstandskämpfer aus vergangenen Tagen bereiten. Denn manchmal sieht aus der Ferne wie ein Ausstieg aus, was letztlich nur ein Versiegen einer Praxis war, die sich vielleicht ökonomisch nicht über Wasser halten konnte. Das kann tragisch sein. Ein vorsätzlicher Ausstieg ist es aber nicht, und schon gar kein Widerstandsmodell.

Bleibt die Frage nach dem im Kunstfeld verbliebenen Werk der Kunstaussteiger, dass – sofern es weiter rezipiert und ggf. distribuiert wird – ihre Namen natürlich im Gespräch hält. Da sie selber nicht mehr als Akteure Einfluss nehmen, bleiben ihre Hinterlassenschaften und Nachlässe in den Händen anderer, was ggf. erstaunliche Folgen haben kann. Drei Beispiele:

Die Pariser Galerie 1900/2000, die zahlreiche Dokumente aus dem Nachlass Arthur Cravans verwahrt, schreibt diesem eine Reihe von Gemälden aus dem Jahr 1914 zu, die mit „Édouard Archinard“ signiert sind. Ob die kleinen, unbeholfen in post-impressionistischer Manier gemalten Bilder tatsächlich aus der Hand des zwei Meter großen Amateurboxers stammen, der sich 1914 vor allem auf die Kunst des öffentlichen Skandals und der Publikumsbeschimpfung verstand, wird wohl immer fraglich bleiben.

Charlotte Posenenskes Werk erfährt Jahre nach ihrem Tod 1985 dank der Vermittlungsarbeit v.a. des ehemaligen Weggefährten Burkhard Brunn eine Renaissance. Seit einigen Jahren werden Werke in unlimitierter Auflage (die Künstlerin selbst hatte keine geschlossenen Editionen geplant) neu produziert, teils in Materialien, die es zur Entstehungszeit der Werkkonzepte und Prototypen noch nicht gab. Das passt durchaus zu Posenenskes offenem Werkbegriff, dennoch war es frappierend, ihre sonst meist in kühlem Metall oder schlichter Pappe gefertigten Skulpturen auf der documenta 12 als Neuauflage in OSB-Platte zu sehen.

Hoch fragwürdig sind einige jüngst entstandene Werke mit der Signatur „Lee Lozano as remembered by Stephen Kaltenbach“. Kaltenbach, einst ein Freund und Liebhaber der Künstlerin, beruft sich auf Arbeiten, die er in Lozanos Atelier gesehen haben will, die sie aber nie veröffentlichte, sowie auf Werkideen, die beide um 1970 gemeinsam ausheckten, aber nicht realisierten. Das Resultat sind Skulpturen und Installationen von zweifelhafter Provenienz und Qualität, die mit der konzeptuellen Strenge der Künstlerin schwer vereinbar scheinen und vom Lee Lozano-Nachlass auch nicht anerkannt werden. Lozanos konzeptuelle Arbeit Throwing Up Piecevon 1969 führte Kaltenbach gar 2010 in Los Angeles als Performance auf, was weder der Praxis der Künstlerin entspricht, noch vom Estate autorisiert wurde.

PROGRESSIVER UND REGRESSIVER AUSSTIEG

Offen blieb bislang, wohin sich eine künstlerische Ausstiegsbewegung orientiert. Tatsächlich lassen sich zwei verschiedene Grundmotivationen und Zielsetzungen unterscheiden, die auch verschiedene Ausstiegsfälle in Hinsicht auf ihr kritisches oder ggf. inspirierendes Potenzial verschieden qualifizieren. Ich unterscheide den progressiven Ausstieg, für den ich Charlotte Posenenske als Beispiel heranziehe, von einem regressiven Ausstieg, den ich im Falle Lee Lozanos gegeben sehe.

Progressiver Ausstieg

Charlotte Posenenske begründete ihren Rückzug aus der Kunst damit, dass sie dieser nicht zutraue, etwas zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beizutragen.5 Statt es dabei bewenden zu lassen, sattelte die Künstlerin um auf die Soziologie. Offenbar traute sie der Sozialforschung zu, durch die genaue Darstellung und Kritik der gängigen Wertermittlungsmethoden von arbeitsteiligen Prozessen in der Wirtschaft6 mehr für eine demokratischere und gerechtere Organisation von Arbeit zu leisten, als es die Skulpturen vermochten, die Posenenske konzipierte. Diese waren so gefertigt, dass sie umgebaut und neu arrangiert werden konnten – was ihre Betrachterinnen und Betrachter zu Benutzerinnen und Benutzern machte. Eine Darstellung arbeitsteiliger Prozesse auch hier, verbunden mit einem direkten Partizipationsangebot. Aber offensichtlich war das Posenenske nicht genug. Ob die wissenschaftliche Arbeit sie letztlich ihren Zielen näher brachte, sei dahingestellt. Entscheidend ist hier, dass sich das emanzipative, gesellschaftspolitische Interesse, das schon Posenenskes kurzes künstlerisches Werk motivierte, in einer anderen Disziplin unmittelbar fortsetzt, und nicht nur das: Ihre sozialwissenschaftliche Forschung gemeinsam mit Burkhard Brunn erlaubte Posenenske offenbar, auch die früheren Produktionsprozesse in ihrer eigenen skulpturalen Arbeit nachträglich kritisch zu analysieren.7 Damit liegt ein Beispiel dafür vor, wie Themen, die in einer künstlerischen Auseinandersetzung erarbeitet werden, sich in dieser nicht erschöpfen müssen, sondern über sie hinaus in andere Praxisfelder führen, den Zugang zu solchen Feldern vielleicht überhaupt erst methodisch eröffnen können und wie sich dabei sogar eine neue Perspektive bieten kann, die Bedingungen und Grenzen der zuvor ausgeübten künstlerischen Tätigkeit klarer zu sehen. Somit kann Posenenskes Ausstieg aus der Kunst als emanzipativer Schritt nach vorn gewertet werden und für sie selbst und für die Themen, denen sie sich verpflichtete, als Gewinn.

Das Kunstfeld gibt sich stolz, wenn es Zulauf aus anderen Disziplinen erhält. Gerne wird auf das frühere Biologie-, Germanistik- oder Politikwissenschaftsstudium eines Künstlers verwiesen (nicht aber auf dessen Bäckerlehre) mit einem Unterton, der auf die besondere Fundierung und gesellschaftliche Relevanz der Praxis dieses Künstlers oder dieser Künstlerin hinweist. Schwerer vorstellbar scheint, dass sich die Kunstszene rühmen würde, einen ihrer Akteure an die Biologie, Germanistik oder Politikwissenschaft abgegeben zu haben. Standesdünkel, weil da jemand in die Niederungen bürgerlicher Berufe oder beschämend harter Wissenschaft gewechselt ist? Gäbe es mehr Fälle wie Posenenskes – eine andere Durchlässigkeit und ein anderes Wirkungsverhältnis zwischen künstlerischen und nicht-künstlerischen Praxen und Diskursen wäre greifbarer.

Regressiver Ausstieg

Auch Lee Lozanos Kunstausstieg ist voller Hinweise darauf, dass sie der Kunst das gesellschaftliche Potenzial nicht mehr zutraute, das sie sich von ihr erhofft hatte.9 Genau adressiert sie in ihren Language Pieces und Notizbüchern einzelne Faktoren, die sie an der Kunstwelt mehr und mehr gering schätzt – vor allem deren Eitelkeit. Ihr Ausstieg öffnet ihr aber – und auch uns – keine Perspektive, führt sie in die Einsamkeit und in ein Leben in schwierigen finanziellen und privaten Verhältnissen. Für Insider der Kunstszene bieten die bisweilen schonungslosen Selbstoffenbarungen aus ihrem künstlerischen Lebensalltag wenig Neues, legen aber zweifellos offen, was mancher weder sich selbst noch anderen eingestehen würde. Lozanos Themen reichen von exzessivem Drogenkonsum über finanzielle Sorgen bis hin zu der Hoffnung, die Kunst würde vielleicht doch noch in ein glücklicheres Leben führen. Für Outsider der Kunstszene zeichnen die Notationen ein Portrait der inzestuösen, karrieristischen und scheinrevolutionären Verhältnisse im Innern der Szene. Das ist erhellend und auch amüsant. Analytische Tiefe haben diese Aufzeichnungen ungeachtet ihrer bestechenden inneren Logik aber nicht.

Ihre kritische Haltung gegenüber der Kunstwelt brachte Lee Lozano nirgendwo anders hin, als aus dieser Welt hinaus. Und falls es ihr weitere Erkenntnisse über diese Welt brachte, lassen sie sich nicht beobachten. Das trifft leider auf die überwältigende Mehrzahl von Kunstausstiegen zu. Dass sie produktive Brückenköpfe oder Drehscheiben hin in andere Praxisfelder sind, scheint eher die Ausnahme zu sein – womit nicht gesagt ist, dass die betreffenden Personen nach dem Ausstieg nicht vielleicht ein zufriedeneres und in ihren Augen fruchtbareres Leben führen würden. Lozanos Rückzug als regressiv zu bezeichnen, mag hart klingen. Aus Sicht des Kunstfeldes, und das ist die Perspektive dieses Textes, ändert sich durch ihn aber nichts, außer dass eine interessante Akteurin eben nicht mehr zur Verfügung steht.

Es ist wichtig, den Unterschied zwischen Lozano und Posenenske zu sehen, wenn man vom kritischen Potenzial und von der Radikalität des Kunstausstiegs spricht. Wenn ich selber vom radikalen Nichthandeln gesprochen habe, dann aufgrund der Unbedingtheit und der Finalität, mit der hier ein Entschluss getroffen wird. Der Begriff der Radikalität bedeutet nicht automatisch eine positive Wertung, wie der Querverweis auf Richard Rorty zeigte. Motivation, Zielrichtung und Anschlussoptionen einer individuellen Ausstiegsbewegung sind im Einzelfall genau zu prüfen.

FAZIT

Unter ostentativem Nichthandelnverstehe ich künstlerische Praxen, die gewohnheitsmäßige oder normative Handlungserwartungen, die ihnen entgegengebracht oder ihnen zugeschrieben werden, mittels künstlerischer Akte unterlaufen oder negieren.

Unter kommunikativem Nichthandelnverstehe ich negative künstlerische Praxen, das heißt solche, die ausgesetzte künstlerische Akte im Kunstfeld zu erkennen geben und kommunikative Effekte nach sich ziehen oder es auf solche Effekte anlegen.

Unter radikalem Nichthandeln verstehe ich das vorsätzliche Unterlassen jeglichen künstlerischen Aktes, verbunden mit einem vorübergehenden oder dauerhaften Wechsel des Kommunikations- und Handlungsfeldes (Verlassen des Kunstfeldes).

Beim radikalen Nichthandeln noch einmal zwischen progressivem und regressivem Ausstieg zu unterscheiden ist hilfreich, um dieses Nichthandeln im Einzelfall näher zu charakterisieren.

Vor dem Hintergrund eines performativen Wirkungsverständnisses, das wir heute auch geneigt sind, dem Unterlassen und Ausbleiben von Handlungen zu unterstellen, würde ich den ersten beiden Formen künstlerischen Nichttuns generell und der dritten partiell Praxischarakter zuschreiben und zudem eine teils reflexive, teils sogar mitgestaltende Funktion bei der historischen Entwicklung des Kunstfeldes einräumen. Denn auch wenn der Ausstieg aus der Kunst, einmal vollzogen, nicht mehr als eine Leerstelle in der Kunstlandschaft hinterlässt, kann diese Leerstelle doch landschaftsprägend sein. Zwar kann die zurückgewiesene Teilnahme an den Spielen der Kunstwelt nicht die Spielregeln ändern, wohl aber den Spielverlauf. Gesetzt den Fall, besonders kritische und anspruchsvolle Geister würden aus dem Spiel scheiden, weil es ihnen „zu doof“ wird, dann fehlte gerade ihre Stimme, um vielleicht das Niveau zu heben. Gingen umgekehrt gerade jene, denen das Niveau ohnehin egal war, würde sie eventuell niemand vermissen und die Stimmung steigen. Gleichwie: Auch der Abtritt eines Spielers prägt das Spiel.

Viele Ausstiege aus der Kunst bleiben unbemerkt, längst nicht alle sind kritisch motiviert, manche mögen Erleichterung auslösen. Andere können schmerzliche Lücken reißen und in der Szene für Aufsehen sorgen, wieder andere mögen symptomatisch sein für Zweifel, die viele teilen, ohne die gleichen Konsequenzen zu ziehen. Erfolgt ein Ausstieg aus explizit systemkritischen Gründen, mag er sogar als eine Zuspitzung institutioneller Kritik erscheinen, die sich an die Institution Kunst als Ganzes richtet statt nur an einzelne Teile. Das kann in der Summe für das Kunstfeld auch verdrieß-
lich sein: zu sehen, dass es für eine nicht näher bezifferbare Zahl von Menschen verzichtbar ist.

Als ich 2002 die Arbeit an dem Thema aufnahm, teilte ich Charlotte Posenenskes Auffassung, dass Kunst in der Öffentlichkeit oft mehr als „eine Ware von vorübergehender Aktualität“8 diskutiert wird, statt dass ihre eigentlichen Anliegen zur Debatte kämen. Mich interessierte, ob eine ähnliche Einschätzung nicht nur Posenenske, sondern vielleicht auch weitere Akteure aus der Kunst vertrieben haben möge und ob nicht sogar ein Teil der Öffentlichkeit, der tatsächlich Interesse an der Debatte gesellschaftlicher Anliegen hat, aufgrund der gleichen Einschätzung das Kunstfeld von vornherein mied. Legt man die Latte hoch und fragt, wohin die brillantesten und engagiertesten Köpfe unserer Kultur ihre Aufmerksamkeit richten, muss man nicht zwangsläufig zu dem Schluss kommen, das sei die Kunst.

Vielleicht stimmt das aber gar nicht? Vielleicht steht manche skeptische Einschätzung künstlerischer Perspektiven nur synonym für eine skeptische Einschätzung gesellschaftspolitischer Perspektiven insgesamt? Um solche Fragen zu klären lohnt es, sich mit den Utopien und mit der Kritik von Künstlerinnen und Künstlern eingehender zu befassen, die sich aus dem Kunstfeld zurückzogen und dabei die Motive zu verstehen, die sie zu diesem Rückzug bewegten.

Kunstgeschichte, -soziologie und -kritik haben das Phänomen lange nicht bedacht. In einzelnen Ausstiegsbewegungen, dies wollte ich zeigen, werden aber Auseinandersetzungen um Sinn und Perspektive kultureller Praxen geführt, um gesellschaftliche Rollenmuster und deren institutionelle Legitimität, um soziale Utopien und deren Aussicht auf Umsetzung. Das macht sie aufschlussreich. Für ein Verständnis der sozialen Entwicklung des Kunstfeldes und letztlich für eine Einschätzung von dessen gesellschaftlicher Relevanz sind die oft sehr persönlichen Kämpfe, die mancher Ausstieg aus der Kunst auf kleinem Terrain austrägt, lehrreich auch für den Blick auf die Kämpfe auf größerem Terrain.

Alexander Koch, 2005-2011

1 KUNST VERLASSEN 1. Gestures of Disappearance, Galerie der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, 22. Mai – 22. Juni 2002. Die Ausstellung unterschied seinerzeit noch nicht zwischen dem Ausstieg aus dem Kunstfeld und Gesten, mit denen sich Künstler innerhalb des Kunstfeldes für eine Weile unsichtbar machten, wie Chris Burden bei seinem B.C. Mexico-Projekt von 1973 oder Bas Jan Ader während seiner (tödlich endenden) Altantiküberquerung 1975

2 Vgl. KUNST VERLASSEN 7 auf www.kunst-verlassen.de

3 Vgl. Alexander Koch: KUNST VERLASSEN 5. Why Would You Give Up Art in Postwar Eastern Europe (and How Would We Know)?, in: Marina Grzinic, Günther Heeg, Veronika Darian (Hg.), Mind the Map! History is not given, Revolver, Frankfurt am Main 2006

4 Vgl. Alexander Koch: KUNST VERLASSEN 7. Unterlassenskreativität oder Was tut das künstlerische Nichttun, was das künstlerische Tun nicht tut?, in: Alice Lagaay, Barbara Gronau (Hg.), Performanzen des Nichttuns, Passagen Verlag, Wien 2008

5 Vgl. S. 3

6 Burkhard Brunn, Charlotte Posenenske: Vorgabezeit und Arbeitswert ñ Interessenkritik an der Methodenkonstruktion: Leistungsgradschätzen, Systeme vorbestimmter Zeiten, analytische Arbeitsbewertung, Frankfurt am Main, Campus-Verlag, 1979

7 Vgl. Matthias Klos: Elastizität der Selbstkritik, artnet Magazin, 8. August 2008 (http://www.artnet.de/magazine/charlotte-posenenske-vorgabezeit-und-arbeitswert/)

8 Vgl. S. 3

9 Vgl. S. 16


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