Ein fast leerer Ausstellungsraum ohne eigenes Licht und ohne eigentliche Verwendung. Dass darin etwas »gezeigt« wird, kann man nicht wirklich behaupten. Flüchtig nehmen wir zwei beleuchtete Plastikwannen wahr und gehen einen Raum weiter. Einen Moment später sagt mein Kollege Nikolaus: »Irgendetwas fühlte sich da drinnen nicht gut an.« Also gehen wir noch einmal zurück. Das Gefühl, das Nikolaus meinte, rührte von einem atmosphärischen Nullpunkt her, so als hätte jemand den Stecker herausgezogen und alle Lebensfunktionen des Ortes abgestellt. Und die wenigen Dinge, die sich ausmachen ließen, schienen sich an die Ränder des Saales zu drücken und dort mit sich allein zu bleiben. Als wir sie schließlich eine Weile lang genauer ansehen, fällt zwischen uns ein Satz, der uns seither begleitet: »Hier zeigt jemand die verwundete Seele Amerikas zu Beginn des 21. Jahrhunderts«, den Schmerz und den gebrochenen Stolz einer Gesellschaft, die ihre eigene Inhumanität so leidenschaftlich verdrängt. Wir sind in Yale, 2008, Abschlussausstellung der MA-Studenten von Jessica Stockholder, die uns am Nachmittag den Autor des Raumes vorstellt: Michael E. Smith.
In einer Ecke des Ausstellungsraumes stand eine der beiden Plastikwannen, der Boden mit grünem Wasser bedeckt. Darin lagen zwei gebrauchte Tennissocken über Kreuz und schauten mit ihren Öffnungen je in verschiedene Richtungen nach außen. Eine Lampe klemmte am Beckenrand, überblickte das spärliche Aquarium und richtete ihr Licht und ihre Wärme hinunter in eine trübe Algenblüte, wo das Sockenpaar wie regungslose Fische kauerte. Unweit dieser Wanne lag eine Glaskugel auf einem Heizkörper. Sie sammelte Reste des Lichtscheins ein und gab sie als kleinen hellen Punkt an die Wand weiter. Keine Hellseherei, statt Zukunft nur ein Bündel Lichtreflexe. Auf der anderen Seite des Raumes hatte sich ein Radio mit seinem eigenen Stromkabel an einen Luftbefeuchter festgebunden. Darüber, an der Decke, fehlte die Glasabdeckung einer Lampe und statt der Glühbirne, die dort hingehörte, steckte in ihrem Gewinde der Kopf einer Zahnbürste fest, deren Stiel am Ende versengt war. Leise brummte im Nebenzimmer ein Getränkeautomat.
Wie jede seiner späteren Ausstellungen war auch diese frühe Installation in der Yale University getragen von einer bedrückend stillen Präsenz einfacher Gegenstände, die man eigentlich nur in einer animistischen Sprache beschreiben kann, die ihnen Gefühle, Verhalten, ja ein Schicksal andichtet: Sie scheinen zu leiden, zu frieren, sind verwundet oder suchen nach Schutz, liegen einsam in der Leere oder klammern sich an ein Stück Architektur. Manchmal tragen sie einander, stützen oder umhüllen sich, retten sich unter ein Möbel oder hängen unbemerkt von der Decke. Oft zeigen ihre Oberflächen Spuren buchstäblicher Misshandlungen, die ihnen im Atelier zugefügt werden. Sie sind vernarbt und verkrustet, durch Harze und Lacke verschlossen oder von Industrieschaum verklebt. Meist haben sie die Proportionen von Torsi und Gliedmaßen oder die Größe eines Kopfes. Ihr Bezug zum menschlichen Körper ist ständig präsent, und doch bleiben sie unter sich in einer Welt der Objekte, in der Menschen gar nicht vorzukommen scheinen. Und wenn, dann als Bedrohung.
Michael E. Smiths Werk hat seinen Ausgangspunkt in Detroit. Die Geburtsstadt des Fordismus war einst Inbegriff für Errungenschaften des New Deal, der den Lohnarbeitern soziale Sicherheit und Teilhabe an Konsum und Fortschritt versprach. Doch die Boomtown der Automobilindustrie überschritt ihre Grenzen des Wachstums, lange bevor die gleichnamige Studie des Club of Rome 1972 den Wirtschaftszentren der Ersten Welt ihre künftige Schrumpfung vorhersagte. Als erste US-Metropole brach sie völlig zusammen, nachdem die wohlhabenden, vornehmlich weißen Bevölkerungsschichten ihre Vermögen aus der glücklosen Stadt brachten. Die darauffolgende urbane und soziale Zerstörung Detroits scheint beispiellos – und ist doch nur ein erster Modellfall für die Auflösung eines Gemeinwesens, dem, auf dem Nullpunkt seiner eigenen Fortschrittsversprechen angekommen, nichts Besseres einfällt, als weite Bevölkerungsteile auf den Trümmern der Moderne sitzen zu lassen. Detroit ist die erste große Wohlstandsruine.
Untitled (2010): Aus Telefonkabel hat Smith eine Schale geformt, die sich vergleichbar in ethnologischen Sammlungen finden ließe, nur dass sie dort aus schneckenförmig übereinandergelegten Tonwürsten bestünde. Als Griff, der dieser Schale die Anmutung einer Pfanne verleiht, dient das abgebrochene Ende einer Neonröhre, das mit weißem Gaffa stabilisiert ist. Die Fernkommunikation ist unterbrochen und das Licht ist aus – das war es auch in der Ausstellung bei KOW in Berlin im Jahre 2010, wo die Schale lag. Aber es gibt wohl kaum etwas Basaleres und Dringlicheres als ein Gefäß, aus dem man trinkt, oder eine Pfanne, in der man Essen wärmt. Ein Objekt, im Grundsatz so alt wie die ersten Künste der Menschen, Gegenstände des täglichen Bedarfs herzustellen, hier gewissermaßen rückgebaut aus elektrotechnischen Elementen, die nicht nur in manchen Stadtteilen Detroits, sondern an vielen weiteren Orten der Welt keinen Sinn machen, solange der Strom fehlt.
Smith verwendet Gegenstände, die sich als Reste vergangener Prosperität in den Nischen eines sparsamen Lebens finden: Abgelegte Kleidungsstücke wie Socken, T-Shirts und Mützen, Haushaltsgegenstände wie Flaschen und Schüsseln, Teile von technischem Gerät oder von Tierkadavern; Dinge, die im Umfeld des Künstlers greifbar sind und zuvor körperliche Grundbedürfnisse nach Nahrung, Wärme und Unversehrtheit sicherten oder technischen Alltagsroutinen dienten. Smith nutzt sie für eine Kunst, die dem vorhandenen Inventar nichts hinzuaddiert. Stattdessen überführt er sein Material in einen Zustand, in dem es den Schmerz und die Angst einer Existenz noch nachempfindet, nachdem deren physische und seelische Grundlagen zerstört sind. 2010 und 2013 platzierte er im oberen Raum von KOW je drei Werke, deren Proportionen einem Kopf, einem Oberkörper und einem Arm entsprachen – Teile eines weit versprengten Körpers, dessen Fragmente sich rigide den Raumachsen der Architektur unterordneten. Ein Objekt bestand aus drei Baseballkappen, die wie ein kaputtes Schaufelrad zusammengefügt waren und eine Porträtbüste ergaben, die unter gelbem Klebeband erstickte.
Smiths Objekte erscheinen wie physische Rekonstruktionen emotionaler Angreifbarkeit und Versehrtheit, seine Ausstellungen wie eine Archäologie der Humanität. Sie entstehen aus einem schmalen Fundus ausgewählter und gegebenenfalls präparierter Materialien, die erst vor Ort ihre endgültige Form finden und sich in die gegebene Situation einfügen. Materialbilder, die von Beginn an einen eigenen Strang in Smiths Werkverlauf bilden, muten wie versengte, aschene oder vernarbte Haut an. Ähnlich geht Smith in seinen Videos vor: Jellyfish (2011) ist der statische Blick auf den ledrig-schuppigen Körper eines blasspinken Fisches, dessen Aquarium so eng bemessen ist, dass er sich nur auf der Stelle bewegt. Miles (2007) wiederholt die sekundenkurze Filmsequenz eines Konzertmitschnitts von Miles Davis, dessen schweißnasses krauses Haar im Scheinwerferlicht die Form von Hirnmasse annimmt. Fotografien, die Smith 2008 in Detroit machte, zeigen teils ausgebrannte, teils zusammenstürzende Wohnhäuser, die im Dunkel der Nacht vor dem Blitzlicht der Kamera zurückschrecken.
Ersticken, auf der Stelle treten, ausgeliefert sein oder seinen Verletzungen erliegen, das scheint dieses junge Werk zunächst zu dokumentieren, das totenstill vor einem liegt, meist am Boden. Ich war zunächst überrascht, schließlich schien es mir völlig plausibel, als Smith sich in einem Gespräch zwischen uns auf Joseph Beuys berief. Dessen Vorstellung einer Kunst, die vielleicht mentale Reinigungs- und Heilungsprozesse am Gesellschaftskörper würde leisten können, schien einer der Grundimpulse seiner Arbeit zu sein und eröffnete ihr wohl eine für mich unvermutet progressive, ja solidarische Perspektive. An Beuys’ Symbolismus hielt sich Smith nicht auf, übertrug aber den Ansatz einer rekonvaleszenten Semantik auf die ruinöse Physis seiner Objekte. Beuys hatte mit seiner Installation Zeige deine Wunde (1974–1975) explizit darauf hingewiesen, dass »man die Krankheit offenbaren muss, die man heilen will«, und er hoffte darauf, dass im Angesicht gesellschaftlicher Traumata seine Kunst »wenn man genau hinhört, einen Ausweg weist«. (Süddeutsche Zeitung vom 26./27.1.1980)
Ein frühes Schlüsselwerk aus dem Jahr 2008 zeigt, wie Smith Beuys Position wohl interpretierte. Er hat eine kleine Buddha-Statue aus Plastik zersägt, den Oberkörper der Figur beseitigt und den Kopf so auf dem Rumpf befestigt, dass er wie eine Knollennase im Gesicht eines Fischkopfes wirkt, dessen weit geöffneter Mund an einen Wels denken lässt. Buddhas Hände wurden abgeschlagen, um die Fischaugen zu markieren. Seine Gesichtszüge sind glatt abgeschnitten, sodass die Schädelkonturen wie in einer Computertomografie hervortreten. Nun ist der Wels eben jener wenig attraktive Bewohner von Gewässern, an deren schlammigem Grund er alles frisst, was ihm vors Maul kommt, lebendig oder tot. Das macht ihn unschmackhaft, aber anpassungsfähig. Smith demontiert ein Symbol höheren Bewusstseins und spiritueller Reinigung – eine klare Abgrenzung von Beuys’ Metaphysik –, um an dessen Stelle das Bild eines Organismus zu setzen, der nicht wählerisch ist und nahe den schmutzigen Sedimenten eines Ökosystems herausfiltert, was er zum Leben braucht.
Die Dinge, in und mit denen wir leben, sind mehr als nur Beiwerk des Selbst. Da, wo sie das Überleben sichern, sind sie unsere Existenz. Zu einem Zeitpunkt, da westliche Gesellschaften die Grenzen ihres Wachstums überschritten haben und ihre Lebensweise von Expansion auf Selbsterhalt umstellen müssten, hält Smith dem ökologischen und ökonomischen Desaster der Epoche einen Materialismus der Grundbedürfnisse entgegen. Asketische Ideale des »Weniger ist Mehr!« unterstützt es aber gerade nicht. Denn längst verbreiten sich bescheidene Lebensweisen wider Willen, und die wirtschaftliche Umverteilung von unten nach oben treibt inzwischen die Angst vor dem sozialen Abstieg auch in der Mittelschicht. Für Viele bedeutet »Weniger« das Leben an einer Schmerzgrenze, die Smiths Objekte anstelle eines Gemeinwesens nachfühlen, das für seine Bedürfnisse taub geworden ist. Gleichwohl ist das, was diese Objekte »tun« oder »erleben«, unserer emotionalen Erfahrung und unserer Körper- und Raumwahrnehmung so vertraut, dass sich die Entfremdung zwischen Subjekt und Objekt auflöst und uns die Situation von Alltagsdingen so nahegeht, dass sie unsere Empathie wecken.
Untitled (2013): Am Boden liegt ein Wespennest, fragil im Material und mit einer offenen Flanke an einer Seite. Die verlassene Behausung einer ganzen Gemeinschaft. Darüber, mit den gleichen Außenmaßen, ein Kapuzenpullover, der in sich selbst hineingefaltet ist. Wie ein Puffer schützt und wärmt er das leere Nest und wie es scheint auch sich selbst. Betrachtet man die Rauminstallation als Ganzes – 2013 bei KOW –, richtet sich aus der Kapuze ein hoffnungsloser Blick auf eine nur Schritte entfernt stehende große Schüssel, über die ein T-Shirt gezogen ist wie über den Bauch eines übergewichtigen Teenagers. Tatsächlich stammt die Schüssel aus einer Bäckerei, in ihr wurde Teig angerührt. Fat Albert (2013), zitiert wie so oft bei Smith einen populären Zeichentrickcharakter, hier einen fettleibigen Jugendlichen. Vergeblich scheint der rundliche Torso mit herabhängenden leeren Ärmeln vorwärts zu rudern und bleibt liegen wie eine straff gespannte Trommel, die man schlägt. Weiter entfernt liegt ein auf Armlänge zusammengefaltetes Kopfkissen, dessen offene, bettelnde Hand eine Schippe ist, die zum Austeilen von Tiermast diente.
Dave (2013): Zwei Muscheln liegen einander zugekehrt am Boden. In dem Spalt zwischen ihnen klemmt eine tote Taube, halb wie gefräßig ins Innere der Weichtiere gezogen, halb fürsorglich festgehalten inmitten eines existenziellen Lebenskampfes, in dem der Vogel einen Flügel steil emporreckt. Erneut erscheinen schützende Gehäuse, die Smiths Œuvre durchziehen. In den weitläufigen Räumen des Ludwig Forum Aachen bildet das Muschelpaar eine kleine, geschlossene, nach außen geradezu bewehrte Einheit, indem es seine offene und verletzliche Seite einander zuwendet. Freilich, auch das Paar ist nur noch leere Hülle, und den Taubenkadaver hinzugerechnet sind hier drei tote Wesen miteinander verbunden, die doch gleichwohl zusammenstehen wie eine kleine Gemeinschaft in feindlicher Umwelt. Der Titel Dave verweist auf Dave Thomas, den populären Inhaber der Hamburgerkette Wendy’s, eines der Junkfood-Unternehmen, das dazu beiträgt, die Lebenserwartung in den USA zu verkürzen.
Hier wie in anderen Arbeiten ist der starke Einfluss des Surrealismus in den USA noch spürbar. Was Smiths Objekt- und Materialkombinationen aber etwa von Meret Oppenheims berühmter Pelztasse von 1936 unterscheidet ist, dass die ungeheure Unwahrscheinlichkeit ihres Zusammentreffens so plausibel scheint und dass ihre bisweilen bestechende Poesie keiner Fantasie, sondern einem praktischen Sinn fürs Überleben entspringt. Für unsere Konsum- und Wegwerfmentalität wäre schon das alleine kein geringer Perspektivwechsel. Smith geht aber noch weiter: Er zeigt die Wunden einer Kultur, in der Menschen weder mit sich noch mit anderen, geschweige denn mit ihrer Umwelt vernünftig umgehen und immer häufiger mit dem Schaden leben müssen, den sie selbst angerichtet haben. Hört man genau hin, um bei Beuys zu bleiben, legt Smiths Arbeit eine Ressourcenintelligenz, eine Fürsorglichkeit und letztlich eine Vernunft an den Tag, die wir selber im privaten wie im globalen Maßstab vermissen lassen.
Also hat Smith den Menschen aus seinem Werk gestrichen und die Gegenstände behalten, die ihm einmal nahestanden, die ihn kleideten und wärmten, die ihn ernährten oder seine Lebensmittel aufbewahrten, die er als Werkzeuge nutzte, zur Kommunikation, oder an die sich Hoffnungen knüpfen ließen. Er behält, was vom Leben der Menschen übrig ist, das seine Kunst immer nur als etwas Fernes erinnert, und setzt an seine Stelle eine Physiologie und Psychologie der Dinge, die sich humaner, empfindsamer und verantwortlicher zeigen als die soziale Welt, die sie hinter sich lassen. Dennoch setzt Smith dabei gerade keine apokalyptische Vision ins Werk, keine posthumane Stimmung, und auch Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen ist eher eine Ableitung, nicht aber der Kern der Sache. Die Welt der Kunst ist eine Welt von Gegenständen, die im Zweifelsfall verzichtbar sind. In sie führt Smith Dinge ein, die andernorts verzichtbar waren und nun aufzeichnen, worauf wir nicht verzichten können. Sie tun dies an unserer statt, und wenn sie einen »Ausweg« zeigen, dann den, es ihnen gleichzutun und alles Überflüssige wegzulassen.