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Ekstase der Zerstörung. Michael E. Smiths „And Babies“

Fünfzehn tote Kugelfische, sechs LED-Leuchten, ein schwarzer Pullover, eine Kehrschaufel und der rote Schnabel eines Storches: Mit diesem Inventar hat Michael E. Smith im Neuen Museum Nürnberg einen Raum eingerichtet. Die Atmosphäre ist schlicht und still, das Licht ist ausgeschaltet. Doch allmählich ordnet sich dieser Raum zu einem erschreckenden Bild, verformt sich zu einem Mahnmal der Gewalt, ja der Verheerungen menschlicher Vernunft.

Panik

Entlang des strengen Rasters der Bodenplatten sind die fünfzehn präparierten Fischkadaver gleichmäßig hintereinander gereiht. Wie an einer Perlenkette, die den Museumssaal durchzieht. Kugelfische gelten als ebenso zierlich wie gefährlich. Aber hier liegen sie als harmlose Präparate am Boden, die zur Selbstverteidigung ein letztes Mal ihre leeren Hüllen zu Bällen aufgeplustert und ihre giftigen Stacheln steil gestreckt haben. Die Geste der Abschreckung ist eine hohle Illusion. Kreisrunde Löcher wurden vorne und hinten aus dem dünnen Schutzpanzer ihrer Haut herausgetrennt, so als wurde die Kugelfischgruppe selbst von einer Kugel durchschlagen.

Ist dies das Bild einer minimalistischen Exekution? Oder hat sich etwa eine Horde Delphine an den Fischen berauscht? Denn Delphine spielen bisweilen ihr tödliches Spiel mit den fussballrunden Tieren, um das Gift aus deren Panzern zu lutschen, das in kleinen Dosen wie Marihuana wirkt.

Die Augenpaare der leeren, toten Fischkugeln scheinen starr vor Panik und ihre Mäuler weit aufgerissen zu einem fünfzehnfachen Schrei, der stumm im Weg liegt. Was da als eine Reihe filigraner, mumifizierter Globen so klar strukturiert vor uns liegt, entpuppt sich als eine Parabel der mehrfachen Ekstase aus Angst und Notwehr, Gewalt und Rausch.

Eine Parabel, die ihren realen Hintergrund hat. Michael E. Smith hat seit Beginn seiner künstlerischen Laufbahn im Detroit der Nullerjahre in den Blick genommen, wie sich die amerikanische Gesellschaft allmählich selbst zerstört. Er hat die Versehrtheit des US-Gemeinwesens wie einen geschundenen sozialen Leib dargestellt, dessen verstümmelte Glieder reglos in den Überresten moderner Rationalität nachleben, ähnlich dieser Kugelfische, die sich unter apathischem Zwang in den Rhythmus des steinernen Museumsparketts fügen. Smiths Werk bildet den Schmerz einer Gemeinschaft nach, die sich nach dem Ende einer langen Kette physischer und psychischer Verletzungen selbst nicht mehr spürt und versteht.

Auslöschung

Ein schwarzer Pullover hängt schlaff von der Wand, auf Brusthöhe durchzogen von einer horizontalen Linie aus sechs weißen LED-Leuchten. Hat eine Maschinengewehrsalve den Körper überquert und mit ihren Kugeln blendend grelle Lichtpunkte gesetzt? In Sanford, Florida, erschoss 2012 ein Mitglied einer Nachbarschaftswache den 17-jährigen Trayvon Martin, eines der zahllosen Opfer von Tötungsdelikten an schwarzen Amerikanern durch Sicherheitsorgane. Der Freispruch des Schützen provozierte landesweite Proteste. Martin wurde ein weiteres Symbol der Gewalt der Obrigkeit gegen Afroamerikaner. Am Tag seines Todes trug er einen schwarzen Pullover.

Die LED-Linie überstrahlt die leere Hülle des abwesenden Körpers. Sie leuchtet zu grell, als dass sie wie das spirituelle Leuchten einer Seele erscheinen könnte, die entlang der Nulllinie der Schusslöcher aus einer anderen Sphäre zu uns dringt. Die gleichmäßige Reihe der Leuchten wirkt vielmehr wie die Diamanten auf den schlechten Zähnen eines Gangsterbosses, der breit aus einem alten Comic zu uns grinst. Sie sind ein ikonisches Signet, wirken wie ein perverses Markenzeichen, wie eine Leuchtreklame der weißen Suprematie über den schwarzen Leib. Was da leuchtet, ist die rationale Mechanik der rassistischen Auslöschung, die nicht allein in den USA Alltag ist und die in der Heimatstadt der nationalsozialistischen Rassengesetze, Nürnberg, berüchtigte Ahnen hat.

Entsorgung

Wie jedes Kind weiß, ist es der Storch, der mit seinem großen roten Schnabel die kleinen Babys bringt. Smith hat den Storchenschnabel sauber abgetrennt. Am Stiel eines schwarzen Kehrblechs hat er ihn so befestigt, dass seine scharfe rote Spitze zentral auf die Fläche der Schaufel zeigt. So als gäbe es da kein Vertun: Der Dreck muss weg. Auch der Menschendreck.

Zwischen Geburt und Tod liegt in diesem Objekt nur ein Wimpernschlag. Wer auf die Welt kommt, kommt auf den Müll. In diesem surrealen Albtraum greift die Automatik der Entsorgung des Menschen schon beim ersten Schrei des neuen Lebens. Es ist die Genesis als Apokalypse. Dem schönen Märchen vom Ursprung der Existenz aus dem Schnabel des Storches erlischt im ersten Satz die Stimme.

Und Babys

Als Titel für seinen Nürnberger Raum wählte Michael E. Smith einen berühmt gewordenen Ausdruck der Anti-Vietnamkrieg-Bewegung: And Babies. Die Formel geht zurück auf die Aussage des Soldaten Paul Meadlo, der im März 1968 an dem Massaker von My Lai beteiligt war, bei dem über 500 vietnamesische Zivilisten von einer amerikanischen Militäreinheit hingerichtet wurden. Es markierte ob seiner Grausamkeit einen Wendepunkt in der öffentlichen Wahrnehmung des Vietnamkriegs. Danach gefragt, wie viele Menschen er erschossen habe, antwortete Meadlo in einem Interview mit CBS, das lasse sich schlecht sagen, da er mit dem Automatikgewehr ungerichtet in die Menge geschossen habe. Ob er neben Männern, Frauen und Kindern auch Babys erschossen habe? „And babies“, antwortete der Soldat.

Als eine Formel kaum sagbarer Gräuel blieb diese Aussage im Gedächtnis. Sie vervielfältigte sich auf Protestplakaten, ging ein in die Semantik des Widerstands gegen den Krieg. Ein Denkmal für die Opfer des Massakers, das seit 1971 in dem vietnamesischen Dorf Tịnh Khê steht, zeigt als zentrale Figur eine Frau, die ein totes Kleinkind im Arm hält. Das Motiv ist bekannt. Picassos Guernica und Goyas Desastres de la Guerra zeigen ähnliche Szenen. Vom Titel seines Nürnberger Raums aus betrachtet reiht sich Smiths Installation in die lange Linie der künstlerischen Darstellung kriegerischer Grausamkeit gegen Zivilisten ein, einer Tradition, die in ihren besten Momenten gewahr wurde, dass diese Grausamkeit nicht zu fassen ist – und doch jenseits ihrer Repräsentation so real ist wie universell.

Stille

Das Ergreifende an Michael E. Smiths Nürnberger Raum ist seine Ruhe. Nichts deutet zunächst auf die Gewalt hin, die seine Objekte durchzieht. Und auch während sich diese Gewalt allmählich zeigt, bleibt sie fast entrückt, wie aus einer anderen Zeit oder von einer anderen Ordnung, die doch unsere ist. Smiths Werk liegt jenseits von Gesellschaftskritik. Wie manche, wenn auch nicht viele Künstlerinnen und Künstler unserer Zeit, schaut er bereits zurück auf die Gegenwart – und wohl auch auf die Zukunft – und zeichnet die Spuren auf, die wir hinterlassen.

Was er sieht, ordnet Smith dabei in eine Wahrnehmung ein, die zu jedem Zeitpunkt empathisch ist, nicht moralisch. Das macht sein Werk so irritierend. Es spricht nicht über den Schmerz als etwas, das jemand jemandem antut. Es hat ihn. Es erstattet nicht Anzeige gegen dessen Ursprung – so als kennten wir den nicht. Es wertet nicht, es versteht. Das Werten überlässt es uns, die Konsequenzen auch. Es vollzieht die Leiden und die Gräuel nach, die Menschen gegeneinander auszuteilen bereit sind. Und es bringt sie in den Dingen, die dieser schlichte Raum versammelt, an das konsequente Ende einer Welt, die noch schreit, während keine Menschenseele mehr zuhört.


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