Es ist eine der herausragenden Sammlungen der Kunst des 20. Jahrhunderts – vielleicht die Einzige. Von Marcel Duchamp über Andreas Baader bis zu Jeff Koons umspannt sie fast 100 Jahre einer Kulturepoche, die uns fremd geworden ist. Die 154 Sammlungsstücke geben Einblick in die Ding- und Begriffswelt einer Ära, in der sich einst Gefühle und Gedanken, Wissen und Visionen in Formen ausdrückten: in künstlerischen Objekten und Bildwerken, die kollektiv betrachtet und bewertet wurden.
Heute indes braucht es archäologischen Feinsinn um nachvollziehen zu können, wie es möglich war, dass manche Gegenstände Bedeutung als Kunstwerke erlangten und andere nicht. Und so ist die Ausstellung bei KOW vor allem eine Würdigung des Lebenswerks von Ramon Haze, der die Exponate dieser Kollektion zusammentrug und ihren verschollenen Sinn rekonstruierte. Seine Kunstsammlung – „Der Schrank“ – zeichnet einige Schlüsselepisoden der vergangenen Kunstentwicklung nach und gilt als wichtigste Quelle zu deren Verständnis.
Glanzstück der Ausstellung sind neun „Fountains“ von Marcel Duchamp. Sie machen deutlich, dass Kunst im 20. Jahrhundert ein Kampf um Begriffe und Ideologien, um Ressourcen und um Geld war. Duchamp erstand 1912 während einer Dresdenreise zehn Urinale, von denen er neun zunächst in Dresden einlagerte. Eines nahm er mit nach New York und bewarb sich damit erfolglos für eine Ausstellung. Sein Pissoir, so die Jury, sei gar keine Kunst. Es dauerte lange, bis Duchamp seine Kritiker umstimmen konnte – zu lange jedoch, um endlich auch die anderen neun „Fountains“ zu präsentieren, denn sein Dresdner Depot blieb ihm nun aus politischen Gründen verschlossen. Als dann die DDR-Regierung die Objekte eigenmächtig auf dem kapitalistischen Kunstmarkt veräußern wollte, kam der Franzose den Kommunisten zuvor. 1964 fertigte er acht Repliken der „Fountain“ und vertrieb sie über seine Galerie. 1998 schließlich fand Ramon Haze die neun Ur-Urinale in einem Dresdner Keller. Heute befinden sie sich im Schrank.
Die Skulpturengruppe „Salpeter“ (1970–72) von Andreas Baader steht beispielhaft für eine politische Kunst. Die zehn elektrischen Kaffeemühlen in Zinkeimern demonstrieren das Gefahrenpotenzial radikaler Künstlerkollektive wie der RAF, der Baader selbst angehörte. Sprengstoffreste an den Kaffeemühlen belegen, dass die Arbeit zum Bombenbau verwendet wurde. Doch das explosive Eimer-Ensemble ironisiert auch die Selbststilisierung der RAF als kollektiver Sprengkörper und unterstreicht den autodestruktiven Ansatz der Gemeinschaftsaktionen, in denen die romantische Tradition verkannter Künstlergenies als inszeniertes Scheitern fortlebte. Anders Jeff Koons: er suchte Ruhm und Erfolg, blieb aber glücklos. Die Pflege seiner Wassertanks, in denen zwei schwimmende Bälle selbst feinste Schwingungen der Umwelt registrierten, erwies sich als so kompliziert, dass Koons Werke allmählich aus den Sammlungen verschwanden und verwahrlosten.
Beim weiteren Studium des Schranks wird deutlich, dass die Kunst des 20. und auch noch der frühen 21. Jahrhunderts zwischen Realem und frei Erfundenem kaum unterschied. Die Grenzen zwischen Fiktion und Wahrheit nahm man nicht so genau. Auch Haze blieb nicht immer auf dem Boden der Tatsachen, war für manche Fakten taub oder verschwieg sie gar. Er legte längst nicht alle seine Quellen offen und spielte unter anderem die Bedeutung seiner Assistenten Holmer Feldmann und Andreas Grahl herunter, die gut hundert Prozent des Sammlungsinventars besorgten und dabei selbst eines der bemerkenswertesten Kunstwerke der vergangenen Kulturepoche schufen, während die schon in letzten Atemzügen lag. Haze unterließ es indes geflissentlich, Grahls und Feldmanns Leistung korrekt zu beschreiben. Das soll hier nachgeholt werden.
Leipzig 1996, sieben Jahre nach Mauerfall: Die Industrie-, Konsum- und Kulturgüterproduktion der DDR ist Vergangenheit, die Ding- und Begriffswelt des Sozialismus passé. Ende einer Ära. Holmer Feldmann und Andreas Grahl tragen aus leerstehenden Wohnungen und stillgelegten Fabriken lastwagenweise Urinale, Spielzeug, Eierbecher, Glaskolben und weitere Fundobjekte zusammen, die sie nach Hazes Anweisungen auf hunderten Quadratmetern zu einer außergewöhnlichen Installation zusammenfügen: dem Schrank. Sie studieren und verfeinern Duchamps Rezeptur zur semantischen Transformation von Alltagsgegenständen und verwandeln ihr gewaltiges Altstofflager in eine Pinakothek der modernen und zeitgenössischen Kunst. Mitten in der Stadt geben sich bald die Leipziger am Eingang zur Sammlungsausstellung die Klinke in die Hand und sind so verwirrt wie die postsozialistischen Zeiten selbst: Was ist denn nun wichtig und richtig? Was nicht? Und warum?
War denn FERDINAND PORSCHES Käfer-Urmodell von 1934 Kunst? Wie steht es mit den Fliesen RUTH TAUERS? Den Zuckeröfen des 1890 in Chicago geborenen PIPPIP, Heizer auf einem Transportdampfer? Was unterscheidet den Kinderlaufstall des Kolumbianers GALLARDO JUAN IBANEZ von dem gleichen Kinderlaufstall des Russen ILYA KABAKOV (den Feldmann und Grahl aus der Kabakov-Installation „Stimmen hinter der Tür“ sicherstellten, die 1996 in Leipzig gezeigt und danach zerstört wurde)? Und warum wurde „Die Maschine zur Veränderung der Welt zum Guten hin“, vermutlich schon in den 1930er Jahren von EDWARD BARANOW-KNEPP fertiggestellt, so lange von Kunsthistorikern unterschlagen? Wer soll das alles beantworten? Feldmann, Grahl und Haze schreiben ihre eigene Version der Kunstgeschichte zu einer Zeit, als sich die westliche Alternativlosigkeit wie Mehltau über den Osten legt – und schlagen dem neuen hegemonialen Duktus ein Schnippchen.
Durch Zufall blieb die Videoaufzeichnung einer Führung durch die Sammlung erhalten. Sie überliefert, mit welch bemerkenswerter Detailschärfe das pädagogische Personal im Schrank Ramon Hazes kunstvolle Beschreibung der Vergangenheit vermittelte und dabei den Wertewandel der Nachwendezeit auf den Punkt brachte. Ohne – und das ist wichtig – Ressentiments zu schüren oder anachronistische Oppositionen und verklebte Künstlerrollenbilder zu vertreten, wie es dann manch andere Kunst aus Leipzig tat. Zwischen 1996 und 1999 war die Kunstsammlung „Der Schrank von Ramon Haze“ wohl eine der originellsten und substantiellsten künstlerischen Reaktionen auf den postsozialistischen Epochenumschwung, auf die Revision (kunst-)historischer Narrative und die neue Sammlungspolitik staatlicher Museen. Letztere nahmen übrigens den Schrank bislang nicht in ihr Mobiliar auf. Hazes Sammlung ist heute so vergessen wie die Kulturepoche des 20. Jahrhunderts in dessen eigener Erzählung.
Teile dieser nun selbst historisch gewordenen Kollektion überlebten unterdessen in thüringischen Kellern und Scheunen. 2009 hatten wir mit Holmer Feldmann und Andreas Grahl bereits einige Inkunabeln der Hazeschen Sammlung aus dem Stroh gezogen und zeigten sie in der Eröffnungsausstellung von KOW, ANTIREPRESENTATIONALISM. Nun luden wir Feldmann und Grahl ein, noch einmal zusammenzutragen, was vom Schrank übrig blieb. Dem muss hinzugefügt werden, dass Ramon Haze weitere Kollaborateure hatte: den Sammlerkollegen Pjotr Baran; Xenia Helms, Joe Kuss, Jan Wenzel und Valentin Wetzel, die die unerhörten Werkbeschreibungen verfassten (auf denen auch dieser Text aufbaut); Markus Dreßen, der Hazes preisgekrönten und heute rar gewordenen Sammlungskatalog aufwändig gestaltete und bei Spector Books herausgab; und viele viele mehr. Willkommen im Schrank!
Alexander Koch
Berlin, November 2016