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Mario Pfeifer. Approximation in the Digital Age to a Humanity Condemned to Disappear. KOW

Am Ende der Welt läuft Techno. Tintenfische drehen sich im Stroboskoplicht, die Meeresspinnenindustrie tickt wie ein Schweizer Uhrwerk und echte Männer gelten was, wenn ihnen der Fang in die Reuse geht. Der Sonnenaufgang ist in Patagonien so atemberaubend wie in der Panoramabar im Berghain.

Satte Farben, gut getaktete Schnitte und Übergänge, packende Rhythmen: Mario Pfeifers „Approximation“ trifft als dreiteilige Videoinstallation den ästhetischen Zeitgeist mit fulminanten Bildern in hochauflösender 4-K-Technologie. Sie entstanden am Ende der Erdscheibe, da wo Menschen manchmal über den Rand fallen und im Nirgendwo verschwinden. Diesmal sind es Feuerlandindianer, die es vielleicht noch gibt, vielleicht auch schon nicht mehr. Pfeifer hat sie gefilmt – hat er? Was auf drei Projektionen im Untergeschoss von KOW zu sehen ist, ist keine Dokumentation, sondern eine Betrachtungsweise. Ein anderer Blick auf eines der ältesten und entlegensten Naturvölker des Planeten: Die Yaghan, die gerade aussterben.

Die ehemaligen Wassernomaden bewohnten die Südspitze Südamerikas seit Jahrtausenden, heute leben sie weitgehend in Villa Ukika, einer 1954 vom Militär eingerichteten Siedlung bei Puerto Williams auf der Insel Shunuko. Viel ist von ihrer Kultur nicht übrig. Mit Kirchen, Schulen, Lohnarbeit und einem Völkerkundemuseum hat die chilenische Regierung schon vor Jahrzehnten klargestellt, wie man lebt. Noch kommen internationale Anthropologenteams in Scharen und machen letzte Fotos von Nachfahren, nehmen Stimmen auf und ziehen Genproben. Sie zeichnen das Bild einer Kultur nach, die so lange für die Kameras stillhält, bis sie einfriert. Und die Yaghan spielen dabei mit. Sie finden Auskommen darin, von Gestern zu sein. Gegenwart? Entwicklung? Fehlanzeige. Gegen diese Rückspiegelmentalität am Kap Hoorn stellt Mario Pfeifer sein Portrait einer indigenen Gemeinschaft im Hier und Jetzt, die nicht etwa an der Peripherie, sondern just im Zentrum der Welt verschwindet, da wo der globale Kolonialismus und Kapitalismus sie schluckt.

Mario Pfeifer arbeitete vier Monate vor Ort und filmte die indigene Gegenwart aus der Perspektive teilnehmender Beobachtung. In erstaunlichen, teils hypnotisierenden Bildern entstand ein ästhetisches Gegenmodell zu den eingespielten Mustern anthropologischer und dokumentarischer Repräsentationen. Pfeifers Annäherung – Approximation meint in der Mathematik den Verzicht auf exakte Lösungen zugunsten eines nützlichen Ergebnisses – ist ein antirepräsentationales Projekt, das den Yaghan alten Staub von den Schultern bläst. „Approximation“ zeigt episodische Schnitte durch ihre aktuelle Lebenswelt und trägt sie begleitet von einem Technosoundtrack in die immaterielle Audiovisualität. Fischfabrik, Nachtclub, Alltag, Natur werden hochgeladen in die Datenströme der globalen Kulturindustrie und müssen einem internationalen Publikum dort so eigenartig scheinen wie den Einheimischen selbst. Pfeifer transponiert die lokale Kultur auf eine neue Stimmlage, löst sie aus dem antiquierten Standbild zivilisatorischer Zurichtungen und gibt ihr ein zeitgenössisches Gesicht.

Fotografien, die der deutsche Missionar und Anthropologe Martin Gusinde um 1920 von der südlichsten Population der Erde aufnahm, machte Pfeifer für deren Nachfahren erstmals digital verfügbar. Im Video wischen und zoomen sie sich auf einem iPad durch das Material, identifizieren Verwandte und rekonstruieren Familienlinien, die sich in den Rhythmen des Soundtracks auflösen. Der New Yorker Musiker Kamran Sadeghi verarbeitete in seiner digitalen Komposition Trauergesänge der Yaghan, die Gusinde 1923 aufnahm. Hinter Pfeifers „Approximation“ stehen Recherchen und Kooperationen mit verschiedenen Akteuren in Chile, Deutschland und den USA. Eine Publikation, die 2015 bei Sternberg Press erscheint, wird sie dokumentieren. Eine Schallplattenedition mit den Kompositionen von Kamran Sadeghi erscheint zur Ausstellungseröffnung. Zeitgleich wird Approximation im Deutschen Wettbewerb der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen vorgestellt. Mario Pfeifer, 1981 in Dresden geboren, lebt und arbeitet zwischen Berlin und New York.

 

Ausstellungstext KOW, 2. Mai – 25. Juni 2015

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