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Hiwa K. This Lemon Tases of Apple. KOW

Zitronen werden herumgereicht. Ihr Saft lindert das Brennen in den Atemwegen. Es ist der 17. April 2011, letzter Tag des öffentlichen Aufruhrs vor Niederschlagung des Irakischen Frühlings, der in den internationalen Medien kaum Erwähnung fand. Inmitten der von Tränengas durchsetzten Proteste zwei Musikanten: Hiwa K an der Mundharmonika, Daroon Othman an der Gitarre.

Sie spielen die Filmmusik von „Once Upon a Time in the West“ („Spiel mir das Lied vom Tod“), jene alarmierende Melodie aus zwei diskordanten Tönen, die auf den Straßen von Sulaimany, Kurdistan, jeder kennt. Sie trägt die enttäuschten Hoffnungen vieler Jahre auf die Straße und treibt den Marsch der Demonstranten mit einer düsteren, einigenden Kraft voran. Während Hiwa Ks Spiel auf der Mundharmonika mischt sich das Tränengas in seinen Atem; im Körper des Performers fallen Musik und politische Situation ineins. Aus Videoaufnahmen Dritter stellte er später die Dokumentation This Lemon Tastes Of Apple zusammen. Der Titel verbindet die Ereignisse von 2011 mit Saddam Husseins Genozid an den Kurden 1988. Das damals verwendete Gas roch nach Apfel.

Hiwa Ks Intervention war Teil des Protestmarsches, sein Video entstand, wie viele seiner Arbeiten, mitten aus einer Bewegung, im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne „im Gehen“. Der 1975 in Kurdistan (Nordirak) geborene Musiker und Künstler, der seit 2010 in Berlin wohnt und von sich selbst sagt, er lebe auf seinen Füßen, sieht seine Praxis als bedachte Reflexe auf wechselnde Situationen. Was er tue, weise alle Symptome der Sprachen und Spielregeln westlicher Kunst auf, ohne mit diesen identisch zu werden, wie ein Echo. Was er tue, weise alle Symptome der Sprachen und Spielregeln westlicher Kunst auf, ohne mit diesen identisch zu werden, wie ein Echo. Moon Calendar, Iraq (2007): Hiwa K probt für eine Performance in dem Gefängniskomplex Amna Souraka (Red Security Building), in dem das frühere Regime politische Gefangene folterte, heute ein Museum für Kriegsverbrechen. In einer leeren Halle steppt er zu dem Rhythmus seines Herzschlags. An der Oberfläche seines Körpers hört er mit dem Stethoskop den Takt seines Pulses ab und gibt ihn weiter an den Boden. Die Stöße seiner Füße, die im Raum widerhallen, werden zum Verstärker und zum Messinstrument des inneren Prozesses des Tänzers, der sich über eine akustische Feedback-Schleife mit dem Ort verbindet.

Hiwa K hat seine Recherche in Amna Souraka auf Video festgehalten. Erneut sucht er dabei nicht die ästhetische Geste, sondern agiert in Resonanz auf einen Ort und ein Ereignis, ohne Ansinnen auf Repräsentation und ohne abgeschlossene Werkform. Für die Genrekategorien der Kunstwelt ist seine Praxis eine Herausforderung. So vertraut ihr konzeptuelle und institutionskritische Perspektiven sind, so nah steht sie intersubjektiven Erzählweisen der Oral History und informellen Momenten der Begegnung und des Wissensaustauschs. Professionalität bedeutet Hiwa K wenig, soziale Gleichheit viel. 2010 begann er sein Projekt Chigago Boys (While We Were Singing They Were Dreaming) eine „1970s Middle-East pop-music revival band and neoliberal study group“, die sich aus wechselnden Teilnehmern immer neu zusammensetzt. Benannt nach der Chicago School, der einflussreichen Quelle wirtschaftsliberaler Ideologie, beschreiben die Chicago Boys musikalisch und durch persönliche Geschichten die neoliberale Transformation des Nahen Ostens seit den siebziger Jahren. Dabei gehören Leadership, musikalisches Können und effizientes Spiel nicht zum Repertoire ihrer Auftritte, freie Kooperation schon.

Auf Einladung der Serpentine Gallery plante Hiwa K 2010 ein Konzert der Chicago Boys bei der Speakers’ Corner im Londoner Hyde Park. Seit 1872 ist es dort jeder und jedem gestattet, öffentlich die eigene Meinung zum Ausdruck zu bringen. Heute steigen die Rednerinnen und Redner meist auf mitgebrachte Leitern, um von einem erhöhten Standpunkt von ihrem Recht auf freie Äußerung Gebrauch zu machen – eine Tradition, die jedoch keineswegs auf ein Privileg zurückgeht. Der Ort im Hyde Park war seit dem 12. Jahrhundert ein Galgenplatz und viele der dort Hingerichteten, nicht selten Regimekritiker, nutzten ihre letzten Minuten, um für alle hörbar kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Hiwa K gab seiner Aktion den Titel It’s Spring And The Weather Is Great So Let’s Close All Object Matters, eine Replik auf einen Songtext Salah Jahins. Der ägyptische Dichter, Revolutionär und Patriot kommentierte damit in den Siebzigern ironisch die Westorientierung Sadats als Schönwetterpolitik, die der wirtschaftlichen Amerikanisierung des Orients die Tore öffnete und alternative, linke Politikprojekte abwürgte. An der Speakers’ Corner wollte Hiwa K das Thema neu aufrollen.

Dafür entwarf er sieben mit Mikrofonen und Musikinstrumenten ausgestattete Leitern, die von den Konzertanten gemeinsam gefertigt werden sollten, um ihnen als Podeste zu dienen. Als das Konzert nicht stattfinden konnte, baute er das geplante Leiter-Ensemble schließlich in der Serpentine Gallery auf. In der Installation zeigen sich die Spannungen zwischen den performativen und den materiellen Dimensionen seines Werkes, die immer wieder neu zu verhandeln sind, ebenso wie die Potentiale und Reibungen zwischen kollektiven Ereignissen und individuellen Stimmen, von denen Hiwa Ks eine ist. Aus seinem horizontalen Verständnis des Sozialen heraus macht er diese Spannungen fruchtbar, fragt nach Alternativen zu einem Autorenbegriff, der Experten von Amateuren und Künstlersubjekte von Nichtkünstlersubjekten unterscheiden will, und votiert dabei letztlich für ein egalitäres Gesellschaftsmodell, das Ausgrenzung und vertikale Hierarchien eintauscht gegen Solidarität. Anlässlich seiner ersten Einzelausstellung in Deutschland zeigen wir Hiwa Ks Londoner Installation im oberen Raum der Galerie, in dem die Chicago Boys 2010 einen ihrer ersten Auftritte hatten.

KOW Ausstellungstext, 30. Apr – 12. Jun., 2016

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