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Tobias Zielony. Manitoba. KOW

Von 1874 bis 1996 führte der kanadische Staat mit kirchlicher Unterstützung sogenannte Residential Schools – Internate zur Umerziehung der kanadischen Ureinwohner. Rund 250.000 Kinder wurden in dieser Zeit gewaltsam aus ihren Familien gerissen, von der indigenen Kultur abgeschnitten und zu „guten Christen“ umerzogen.

Man verbot ihnen die Muttersprachen, sexueller Missbrauch und Zwangssterilisation waren üblich, mehr als 50.000 Kinder starben. Jüngste Funde von Kindermassengräbern wurden nicht oder nur zaghaft untersucht. Zwar entschuldigten sich die kanadische Regierung 2008 und der Vatikan 2009 für das Umerziehungsprogramm, den systematischen Genozid an der indigenen Bevölkerung – u.a. durch tödliche Impfprogramme – leugnen sie aber.

Die Jugendlichen, die Tobias Zielony seit 2008 in der Provinz Manitoba und in Winnipeg fotografierte, sind die Kinder und Enkel derjenigen, die das staatliche Assimilierungssystem überlebten. Von einer Integrationsmöglichkeit in die kanadische Gesellschaft sind sie oft genauso abgeschnitten wie von der meist mündlich überlieferten Geschichte ihrer Vorfahren, die zusammen mit den verbotenen Dialekten ausstarb. So suchen sie nach alten und neuen Mythen von Stammeskultur, Heldentum und indigenem Widerstand. Als Stilvorlagen dienen ihnen wiedergefundenes Familienwissen, aber auch Hollywoodfilme und moderne Gangkulturen der amerikanischen Global Cities. In Reservaten, am Rand der großen Städte oder in Gefängnissen greifen sie nach Versatzstücken neuer Erzählungen über sich selbst.

Realität und Fiktion sind in diesen Erzählungen kaum zu unterscheiden, nachdem indigene Traditionen bewusst zerschlagen wurden. Folgerichtig bleibt Zielonys Darstellung junger Indianer im Manitoba des frühen 21. Jahrhunderts ebenso lückenhaft und ambivalent wie deren Lebensgeschichten. Reservate, Vorstadtsiedlungen und das Manitoba Museum, das den „First Nations“ ihre Herkunft vermitteln will, sind das Umfeld der Jugendlichen, die Zielony mitten in ihren Hip Hop-Posen fotografiert. Unsicher, zärtlich, aber auch stolz suchen sie vor der Kamera des Fotografen ihr eigenes Bild. In seinen Projekten seit 2000 hat Tobias Zielony die Chance des Dokumentarismus immer wieder darin gesehen, Momente festzuhalten, in denen sich Menschen weder in unser Bild der Realität nahtlos einpassen noch in ihr eigenes. (Vergl. Camera Austria 114/2011).

Mit fünfzig Fotografien, einem Film und einem Hörspiel ist „Manitoba“ Tobias Zielonys bislang umfangreichstes Projekt. Der Kurzfilm „The Deboard“ (2008) liefert den Bericht eines Indianers, der im Gefängnis von Winnipeg einer indigenen Gang angehörte. Als er die Gruppe verlassen wollte, hatte er ein Ritual zu durchlaufen: Fünf Minuten lang musste er die Schläge und Tritte der anderen kassieren – wer das überlebt, darf gehen. Für die Super-8-Kamera ist er im Dunkel seiner Zelle kaum erkennbar, während er die dramatische Geschichte seiner Selbstbefreiung erzählt. Sie klingt wie eine Legende. Wahrheit und Epos liegen in „Manitoba“ dicht beieinander. So auch in Zielonys einstündigem Hörspiel, das mit der historischen Entschuldigung des kanadischen Premierministers für die Residential Schools beginnt, um sodann dokumentarische und literarische Perspektiven zu verschränken:

Die US-amerikanische Autorin Andrea Hiott bereist 2010 in Zielonys Auftrag die kanadische Provinz. Seinen Film und seine Fotos hat sie im Gedächtnis und ein Tonbandgerät im Gepäck. Sie folgt seinen Spuren, besucht die Orte und Menschen auf seinen Bildern und verdoppelt dabei den Blick auf sie. Hiotts persönlichen Reisebericht, der auch ihre eigene indigene Herkunft reflektiert, vertonte Tobias Zielony später als eine Collage aus O-Tönen, Found Footage und inszenierten Studiostimmen. Ein zeitgenössisches Stück Oral History entstand, in dem Zielony zum Co-Autor und zugleich selbst zum Protagonisten einer neuen mündlichen Erzählung über den Versuch wird, von Menschen zu berichten, die ihre Geschichte selber schreiben wollen.

Ausstellungstext KOW, 3. Feb. – 15. Apr., 2012

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